Volker H. Altwasser

Der Autor Volker H. Altwasser wurde 1969 in Greifswald geboren und lebt in Rostock. Er übte verschiedenste Berufe aus, u.a. war er schon Elektronikfacharbeiter, Heizer und Matrose. Von 1998 bis 2001 studierte er am Deutschen Literaturinstitut. Er wurde von Meike Feßmann nach Klagenfurt geholt.

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Volker Harry Altwasser

Letzte Fischer

 

Die Saudade befand sich schon seit sechs Stunden auf dem Weg ins No Man Ariel vor Somalia, um den Thunfisch zu jagen. Versonnen musterte der Dritte Offizier die Seekarte des riesigen Gebiets. Es gehörte niemandem. Noch nie hatte es jemandem gehört. Nur dem Thun, dem Fisch, der ihnen nun unter den Kielen ausstarb. Der junge Seeoffizier wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht, schon am Morgen erschöpft. Russische, spanische, portugiesische und japanische Trawler kreuzten hier zu hunderten und waren den heimischen Fischern seit Jahrzehnten übermächtige Konkurrenten, so aus den somalischen Fischern schließlich Piraten geworden waren. In diesem Niemandsland der See hatte die italienische Mafia Mitte der Achtziger Jahre Giftmüll ins Meer versenkt, und der Dritte fragte sich erneut, während er auf den Sonarbildschirm schaute, ob sich das alles überhaupt noch lohne. Sollte er umsatteln? Dies war eine jener Fragen, die ihn schon seit längerem beschäftigten. Dazu die neue Gefahr! In der letzten Woche war zum ersten Mal ein Trawler von Piraten angegriffen worden. Trotz der Besatzungsstärke von fast neunzig Mann. Die Piraten konnten zwar aus eigener Kraft von der Verlaine vertrieben werden, aber zeigte dieser Versuch nicht, dass es wirklich zu ende ging? Der junge, ehrgeizige Mann warf einen Blick auf das Radar. Er sah einen kleinen, grünen Punkt auf die Saudade zuschießen. Was, wenn das jetzt ein Piratenschiff wäre?

Er befahl ‚volle Kraft voraus’ und ging auf die Nock. Mit dem Seestecher musterte er das Fischerboot sorgsam. Es war eine alte Piroge. Kein Bordmotor. Das einzige Segel war gesetzt. Ein Jugendlicher und ein alter Mann, keine weitere Besatzung. Keine Planen an Bord, unter denen Waffen und Männern versteckt sein könnten.

Der Junge stand am Bug und schwenkte etwas hin und her, das wie ein Lappen aussah, wie ein grauer Lappen. Fast dreieckig. Eine Fischsorte? ‚Bloß was für eine?’, fragte sich der wachhabende Offizier, bevor er plötzlich voll guter Ahnung war. Er kam ins Brückenhaus zurück, befahl, alle Maschinen zu stoppen, und machte über die Bordlautsprecher eine Durchsage: „Achtung! – Verarbeiter Robert Rösch sofort auf die Brücke! – Achtung! – Verarbeiter Robert Rösch auf die Brücke!“

Verkatert saß Robert Rösch auf der Kante der Koje. Das erste, was ihm nach einem Fluch durch den Kopf ging, war die Vermutung, es wäre etwas mit Mathilde! Es wäre soweit. Die Botschaft, vor die er sich seit Jahren fürchtete, wäre eingetroffen. Seine Frau sei – aber nein! Im Gegenteil: Mathilde hatte ihn ja gebeten, für immer an Land zu bleiben, und er hatte ja nicht sofort nein gesagt. Er hatte den neu erwachten Lebensmut seiner Frau doch gestärkt. Vorerst jedenfalls.

Er hielt sie mit Hoffnung im Leben, das beruhigte ihn zwar, dennoch näherte er sich dem wachhabenden Offizier im Eiltempo: „Auf die Brücke! – Verarbeiter Robert Rösch.“

Der Dritte Offizier winkte ihn auf die Nock und hielt ihm den Seestecher hin: „Was sagen Sie dazu?“

Robert sah durchs Fernglas: „Auf jeden Fall eine Art Seefledermaus, die der Junge da schwenkt. Es kann aber auch nur eine Rote Seefledermaus oder ein verdammter Krötenfisch sein. – Es kann aber auch eine Kurznasenseefledermaus sein.“

Der Offizier nickte: „Ihr Ratschlag?“

Robert gab das Fernglas zurück: „Ansehen, prüfen. – Vielleicht haben sie mehr als nur den einen Fetzen an Bord.“

Der Offizier nickte und sagte: „Ganz meine Meinung! – Gehen Sie mittschiffs auf die Backbordseite. Wir lassen sogleich einen Kutter ab.“

Robert nickte, stieg die Nocktreppe hinunter und hörte, wie durch die Lautsprecher die Kutterbesatzung aufs Oberdeck bestellt wurde. Wenig später saß er mit dem Zahlmeister und zwei Männern der Deckwache in dem kleinen Boot, das mit einem Kran heruntergelassen wurde. Es schlug hart auf die Oberfläche der stillen See auf, die Haken wurden ausgeklinkt, und der Motor wurde gestartet. Robert sah, wie der alte Mann das Segel der Piroge einholte und beidrehte.

Seefledermausspezialist Robert Rösch glaubte, er werde gleich eine Rote Seefledermaus sehen. Diese Art war ja vom japanischen Ibaraki bis nach Korea und Indien bekannt. Sie wurde bis zu dreißig Zentimeter lang, und die Haut wurde bei einer Berührung am Bauch und am unteren Teil des Kopfes körnig. Entdeckt worden war sie erst am vierundzwanzigsten April neunzehnhundertneunundneunzig, aber seitdem breitete sie sich rasend schnell aus. Früher hatte sie die tiefsten Stellen der Tiefsee bewohnt, aber irgendetwas trieb sie jetzt ins seichte Wasser, rekapitulierte Rösch. Ihr Fleisch war ungenießbar und interessierte auch keinen anderen Fisch. Wie alle Arten der Seefledermaus gehörte auch sie zu den bizarrsten Meeresfischen. Der Körper wirkte von oben gesehen stark abgeplattet und war fast rund in seiner dreieckigen Form; als sähe man sich vom All aus die Pyramiden von Ägypten an.

Wenn es ein Krötenfisch war, dann wäre der Körper schmaler und die Haut rauer. Der Bauch wäre breiter, und vor den Augen befände sich ein Hautfortsatz. Dieser Fisch blieb immer am Boden liegen und bewegte sich kaum. Er ließ seinen Köder in der Strömung baumeln, und wenn ein kleinerer Fisch vorbeischwamm und aufmerksam wurde, dann öffnete der Krötenfisch lediglich das Maul, in das die Strömung den Jäger unaufhaltsam hineintrieb. Der kleinere Fisch würde verspeist, und sogleich schlösse der Krötenfisch das Maul wieder, um lethargisch auf neue Nahrung zu warten.

Dieser Köder war der große Unterschied zur Roten Seefledermaus, die sich nur ein wenig von der Kurznasenseefledermaus unterschied, deren Haut in Südfrankreich mit Gold aufgewogen wurde.

Beide Arten hatten große Brustflossen und eine Vielzahl von Stacheln auf der Rückseite. In diesen Stacheln befand sich ein Gift, das für den Menschen noch zehnmal tödlicher als das von Schlangen war. Alle Seefledermausarten lebten in sandigem Gebiet, oft bis zur Hälfte vergraben, so dass sich nur die obere Haut mit den Stacheln außerhalb des Sandes befand. Die Haut war das Jagdgerät dieser nachtaktiven Tiere, und diese Haut war es auch, deretwegen die Kurznasenseefledermaus gejagt wurde; erneut spähte Robert durch den Seestecher: Der Junge hatte das Tier noch immer in der Hand. Er hatte sich aber ein Tuch um die Finger gewickelt! Robert hielt das für ein gutes Zeichen.

Er winkte den fremden Fischern zu, die seinen Gruß stumm und neugierig erwiderten. Der Kutter wurde langsamer, und schließlich lagen die beiden Boote im Päckchen. Robert kletterte aufs andere Boot und reichte erst einmal dem alten Mann die Hand, der sie erstaunt nahm, ohne sie zu drücken, ehe Robert nach vorne zum Jungen ging, der den Fisch vor sich auf die Planken gelegt hatte.

‚Eigentlich zu groß’, ging es Robert durch den Kopf: ‚Aber was heißt das schon!’

Er drehte den träge zappelnden Fisch auf den Rücken und rieb ein wenig an der unteren Haut. Dann drehte er ihn wieder um und nickte. Kein Zweifel! Es war tatsächlich eine Kurznasenseefledermaus! Fast dreißig Zentimeter lang. Die Haut war in tadellosem Zustand, doch was das Wichtigste war: Der Fisch lebte noch!

Er war also nicht mit einem Schleppnetz hoch geholt worden, er war mit einer Grundangel langsam und mechanisch an die Wasseroberfläche gebracht worden, so er sich dem veränderten Druck angepasst hatte und nicht implodiert war. Sie hatten also Zeit! Seefledermausspezialist Rösch nickte dem Zahlmeister zu. Im Stillen schätzte er den Wert dieser einen Haut auf zweihundertvierzigtausend US Dollar.

Er bekam Atemnot, als der Junge ein Tuch von einem Eimer zurückschlug und ihm den Eimer zuschob. Sieben weitere Exemplare schwammen darin. Rösch genügte ein Blick, um sich sicher zu sein: Sie waren zwar kleiner, hatten zusammen aber bestimmt einen Marktwert von etwa einer Million US Dollar!

So nachlässig wie möglich legte Rösch den größten Fisch in den Eimer zurück, beobachtete, wie dieser sich schnell erholte, und bedeutete dem Zahlmeister, er solle alle acht Exemplare aufkaufen.

Der gebürtige Inder nickte, und die beiden Küstenfischer waren froh, als sie merkten, dass sie ihn verstanden. Das Angebot stand bei hundert US Dollar.

Der Alte schüttelte den Kopf, hatte er doch schon viel von diesen Hochseefischern aus den fernen Ländern gehört.

Der Inder erhöhte sofort auf zweihundert US Dollar.

Der Alte sah seinen Enkel an, irgendetwas hatte ihn stutzig gemacht. War es diese eilige Erhöhung gewesen? Der Alte grübelte. Was sollte schon an diesen unnützen Plattfischen dran sein? Sein Volk verachtete sie doch wegen der giftigen Stacheln. Er schüttelte wieder den Kopf und hörte mit Erstaunen, wie der Inder den Preis auf eintausend US Dollar festsetzte.

Zugleich wurde dem alten Fischer bedeutet, dies sei das letzte Angebot.

Der Alte nickte ein wenig und streckte drei Finger aus. Er sah dabei seinen Enkel an, und plötzlich erinnerte sich der alte Mann an seinen uralten Traum vom Meer! Das Meer war dabei, ihm seinen Traum zu erfüllen. Es wollte ihn reich machen, damit er seinen Enkel auf eine große und wichtige Schule schicken konnte! Sofort zeigte er mit der anderen Hand an, der Preis betrage nicht drei- sondern achttausend US Dollar.

Er behielt die acht Finger fordernd in der Luft, und zum ersten Mal lächelte er, als er das aufgeregte Gesicht seines jungen Verwandten sah. Er achtete nicht auf das Kopfschütteln des indischen Zahlmeisters, sah stur an dessen Gesicht vorbei und wartete.

Die acht Finger blieben, wo sie waren. Der alte Fischer wollte keinen Augenkontakt, er wollte den Preis bezahlt haben. Ruhig und stolz sah er in die Ferne.

Schließlich zuckte der indische Zahlmeister der Saudade mit den Schultern und zählte die achttausend US Dollar auf die zitternde Hand des Jungen.

Zufrieden verbeugten sich die beiden Männer voreinander und verabschiedeten sich. Robert sah noch, er saß schon wieder im Kutter, zwischen den Beinen den Eimer mit den kostbaren Seefledermäusen, wie der alte Mann dem Jungen übers Haar strich und ihn auf die Stirn küsste. Robert Rösch drehte sich nach vorne um und ignorierte die geflüsterten Fragen der Kutterbesatzung.

Auch dem Zahlmeister verriet er die Summe nicht, auf die er den Wert der acht Fische schätzte. Er sagte lediglich: „Ihr wisst doch, dass ich euch das gar nicht sagen darf! Ich muss sie ja erst einmal häuten! Vielleicht geht ja etwas schief! Dann zerreißt ihr mich vielleicht in der Luft! – Nein, nein, ich werde es nur dem Kapitän sagen. Persönlich!“

Er warf noch einen Blick auf die Fische, ehe er das Tuch wie ein Zauberer auf den Plastikeimer fallen ließ.

 

Häuten, die Kunst, die Kurznasenseefledermaus zu häuten, eine Kunst, die keine zehn Männer auf der Welt beherrschten, Robert Rösch hatte zur Häutung alles vorbereitet. Er stand in der abgeteilten Ecke der Verarbeitungshalle vier, und während die anderen Verarbeiter den Thun köpften, entgräteten, ausnahmen und einfroren, sah Robert Rösch auf die größte der Kurznasenseefledermäuse, die er aus dem alten Eimer genommen und auf den Tisch gelegt hatte. Sie öffnete ab und an träge die Augen, riss das Maul auf, bewegte sich aber ansonsten nicht. Robert Rösch wartete. Es kam auf den richtigen Moment an, Rösch durfte nicht voreilig sein, er durfte aber auch nicht zu lange warten. ‚Man könnte versinken in der Stille, hätte man die nötige Ruhe dazu’, dachte er und zog den Handschuh der linken Hand aus.

Die Tieraugen waren geschlossen, der Spezialist legte zwei Fingerkuppen sacht auf die Lider des Fisches und spürte lange den eigenen Puls.

Dann das Zucken in den Fischaugen, als er den Druck nur ein wenig erhöhte. Er sah, wie sich die Giftstacheln aufrichteten und wie sich der Rücken ein wenig wölbte. Er nahm die Finger lächelnd weg.

Etwas lenkte ihn ab, und das gefiel dem Kurznasenseefledermausspezialisten gar nicht. Es waren eigene Gedanken, die ihm nicht passten. Es war die Frage, ob dies seine letzten Seefledermäuse waren oder ob er auf dieser stählernen Insel der aussterbenden Männlichkeit aushalten würde?

Rösch sah auf das Prachtexemplar vor sich, konzentrierte sich und wartete auf das letzte Fünkchen Leben. Nur im letzten Lebensmoment versteifte sich die kantige und raue Haut nicht, nur in diesem einzigen Moment richtete sich die Reihe der Stacheln nicht auf. Nur im letzten Sterben blieb die abgezogene Haut geschmeidig und konnte so den enormen Marktwert erreichen. Rösch musste dem fast toten Tier zärtlich die Haut nehmen, um die einzigartige Farbe auf der Hautinnenseite zu bewahren. Dies war sein großes Geheimnis, das er niemandem verriet.

Sollte er es eines Tages jemandem verraten? Vielleicht dem jungen Ismael? Aber wie lange gab es die Welt der Hochseefischer noch? Für den jungen Ismael noch lange genug?

Wenn die Kräfte des Fisches fast abgestorben waren, wenn der Tod sich aber noch nicht gräulich über die Haut gelegte hatte, dann war jener letzte Lebensmoment gekommen.

Robert Rösch hatte es vor drei Jahren nur zufällig herausbekommen. Damals hatte er die Schnitte über die Augen der Seefledermaus zu früh gesetzt und so dieses fundamentale Ergebnis erzielt. Kein Zittern der Haut, kein Aufbäumen der Rückenmuskeln, sie durfte sich nicht mehr wehren, auch nicht mit dem Tod. Robert Rösch nickte vor sich hin. Die Kurznasenseefledermaus musste sich, quasi in Todestrance, bei sterbendem Leib häuten lassen.

Freiwillig.

Robert Rösch schloss nun selbst die Augen und strich mit den bloßen Fingern über die raue Haut, umkurvte die Knorpel mit den Stacheln, strich über den Kopf, betastete die Augenlider, unter denen es nicht mehr zuckte. Doch! Doch noch einmal! Was für ein starkes Tier! Rösch bekam Achtung vor dem Tier, Respekt. So einen langen Todeskampf hatte er noch nicht erlebt. Sollte er das Tier wieder in die Freiheit entlassen? Seine Kollegen würden ihn lynchen! Sie hatten die Anzahl der Tiere gesehen. Es mussten also am Ende auch acht Häute sein. Sie wollten alle ihren Anteil am unverhofften Zuverdienst.

Nichts zu machen!

Was für ein Glück er doch hatte, diese schmalen Mutterhände zu haben. Er sah kurz zu den anderen Männern, die mit ihren breiten und steifen Vaterhänden im Akkord arbeiten mussten, schwer arbeiten mussten. Rösch sah sich um, niemand beobachtete ihn. Er nickte dem Tier zu und nahm das kurze Schlitzmesser in die Hand, das Haudegen extra noch einmal nachgeschliffen hatte.

Zwei kurze Schnitte setzte Rösch oberhalb der Augen des Tieres und sah lächelnd, wie es nur ein einziges Mal mit dem Schwanz schlug. Es war der perfekte Moment! Ja! Er nahm die Seele des Tieres mit der Haut mit.

Langsam umkreiste er die Augen mit der Spitze des Messers, zog dann den Schnitt einmal um den Kopf herum und legte das Werkzeug wieder weg.

Mit beiden Zeigefingern drang er von vorne seitlich zwischen Haut und Fleisch ein. Er dehnte die Haut, die Stacheln standen starr in der Luft. Das Gift tropfte aus ihnen heraus. Geduldig dehnte Rösch die Haut immer mehr, umkreiste den Körper des Fisches dabei mehrmals, und war er dem Tier zuerst nur mit den Fingerkuppen unter die Haut gekommen, so befanden sich die Finger alsbald mit der gesamten Länge im Fisch. Rösch dehnte weiter, er war schon am Schwanzansatz angekommen.

Er spürte das mechanische Zucken des Fleisches und sah das Gift von der Haut rinnen. Schließlich hatte er den Leib von der Haut getrennt. Er absolvierte noch eine Prüfrunde, fand aber keinen Widerstand mehr.

Spezialist Robert Rösch öffnete die Augen wieder und zog die Finger heraus.

Fast kein Blut war an seinen Händen. Er hob das Tier am Schwanz hoch, spritzte den Arbeitstisch und den Tierleib mit einem dünnen Wasserstrahl sauber, wobei das Fischgift herunter rann, und begann damit, den Kadaver mit kurzen Handbewegungen vom Schwanz her aus der Haut zu stoßen.

Wenig später fiel der schwere Kopf mit dem kompletten Leib auf die Tischfläche. Rösch hielt die kostbare Haut in Brusthöhe vor sich und musterte sein Werk. Nirgends eine Einkerbung oder ein Einstich. Sie war unbeschädigt und vollkommen leer.

Er hob sie ein wenig höher, stülpte sie am Rand um und ergötzte sich an der purpurnen Farbe der Hautinnenseite. ‚Schöner als jeder Papstmantel’, dachte er und roch den Amberduft, der ihn betörte.

Was für ein Geschenk der Natur! Jahrtausendelang verborgen und nur zufällig gefunden. Robert Rösch überkam eine Gänsehaut, ehe er die Hülle an eine Klammer über sich hängte und dreimal kurz durch die Halle pfiff.

Augenblicklich sahen sich alle Männer nach ihm um, johlten begeistert und schlugen freudig auf die Metallränder ihrer Fließbänder, von denen das Blut des Thuns tropfte. Die Männer zogen sich die Handschuhe aus, zeigten Rösch den erhobenen Daumen und machten sich wieder an die Arbeit. Minutenlang lächelten sie noch, war doch jeder von ihnen nun um einige zehntausend US Dollar reicher.

Rösch holte die nächste Kurznasenseefledermaus aus dem Eimer und legte sie vor sich auf die Verarbeitungsfläche. Den gehäuteten und noch zuckenden Kadaver mit dem unbeschädigten und weiter nach Luft schnappenden Maul stieß er auf den metallenen Boden.

Von diesem ekligen Anblick hatte er schon oft geträumt. Der gehäutete aber für ein paar Minuten noch lebenstaugliche Fisch mit dem offenen Maul und den lidlosen Augen, dieser Anblick war dem Kurznasenseefledermausspezialisten schon oft im Traum erschienen.

Manchmal sogar sprechend.

Doch waren jene Sätze nie anklagend gewesen, sondern immer beratend. Rösch überlegte, während er auf die etwas kleinere Seefledermaus blickte, die gerade erst geschlechtsreif geworden war, wie er routiniert feststellte, und erinnerte sich, dass es immer gute Ratschläge gewesen waren, die ihm die Seelen der gehäuteten Tiere im Traum gegeben hatten. Manch einen hatte er sogar befolgt, sofern er ihn vom Traumland hatte mitbringen können. Was würden ihm diese Seelen raten? Könnten sie ihm bei seiner bisher schwersten Entscheidung helfen? An Bord bleiben oder zum Fischwirt werden? Robert Rösch lächelte plötzlich, konnte er sich doch auf einmal ganz gut vorstellen, was sie ihm raten würden. Er solle unbedingt an Land bleiben, er solle unbedingt auf einer Fischfarm anheuern, er solle sie auf jeden Fall in Ruhe lassen, die See und die Fische.

„Ja, ja“, sagte er leise: „Das hättet ihr wohl gerne!“

Dann warf er den Fisch wieder zurück in den Eimer, war doch das Signal zur Mittagspause erklungen. Er nahm den Eimer und die erste Haut an sich und brachte beides zum Kapitän, der das Mitgebrachte sofort in die Minibar stellte und diese mehrmals verschloss.

„Warum die Südfranzosen wohl soviel Geld für diese Lappen bezahlen?“, fragte der Kommandant der Saudade zwar, ohne aber eine Antwort zu erwarten.

„Keine Ahnung“, sagte Robert: „Ich will es auch gar nicht wissen. Entweder machen die Basken daraus Munition oder einer aus Montpellier mischt es seinem Teufelszeug bei.“

„Welchem Teufelszeug?“

„Einer ihrer Poeten hat es ‚das dritte Auge des Dichters’ genannt.“

„Ach so, du meinst Absinth!“, sagte der Kommandant und meinte, er habe gehört, das Purpur werde für Weltallraketen gebraucht, ehe er seinen Spezialisten zum Schott der Kabine brachte. Diesen Rösch wollte er unbedingt an Bord behalten! Solange er selbst auf einem Trawler war, sollte auch Robert Rösch bleiben. Der Kapitän entschied sich, den Verarbeiter langfristig unter Vertrag zu nehmen. Dass er daran nicht schon eher gedacht hatte! Er schlug Robert zum Abschied freundschaftlich auf die Schulter, schloss das Schott hinter ihm wieder, um sogleich zum Schreibtisch zu gehen und einen Vertrag zu entwerfen, während Robert sich zur Messe aufmachte, um sich seine Mittagsportion zu holen. Er wurde mit einem Ständchen begrüßt. Die fast siebzig Männerkehlen der Backbordwache krächzten: „Eine geht noch, eine geht noch, eine geht noch ab, ab, Käp’ten: ahab!“

 

Und da sollte er Fischwirt werden? Bei solch einem Ständchen, das ihm seine Kollegen vor drei Stunden dargebracht hatten? Robert Rösch stand wieder vor seinem blanken Metalltischchen in der Verarbeitungshalle vier und beobachtete die letzte Kurznasenfledermaus.

Die anderen Häute hingen über seinem Kopf, eingehüllt in die Kälteschwaden der Halle.

Er hatte zwar für seine Entscheidung noch fünf Monate Zeit, sie waren ja erst seit ein paar Stunden auf See, aber Rösch glaubte, je eher er sich entscheide, umso besser sei es für alle.

Doch konnte er es? Wie sollte er vorgehen? Aus seiner Zeit als ewiger Sozialwissenschaftsstudent wusste er, er musste sich eine Liste machen.

Eine Liste war bei Problemen zwar hilfreich, aber hieß das nicht, die See gegen die Frau auszuspielen? Oder die Frau gegen die See?

Und genau das war es ja, was er keiner von beiden antun konnte! Er konnte doch nicht dermaßen hartherzig vorgehen und Gefühle zu Gedanken machen, um diese dann gegebenenfalls durchzustreichen. Dieser ewige Teufelskreis! Wegen solcher Überlegungen hatte er seine Diplomarbeit nie zu Ende gebracht.

Vom Verstand her sprach natürlich eine ganze Menge dafür, an Land zu bleiben. So bestand wenigstens nicht die Gefahr, so verrückt wie uralter Richard oder so ein Wirrkopf wie Opernsänger zu werden. So müsste Robert die letzten Turns der Saudade nicht miterleben und bräuchte die letzten Hols nicht zu verarbeiten. Er hätte abgemustert und könnte sich das Ende der internationalen Hochseefischerei von außen ansehen, waren die Ozeane doch ohnehin bald leergefischt. So wäre er ein Fischfarmer, wenn die anderen Fischer arbeitslos wurden, und so hätte er Mathilde an seiner Seite, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Sie könnten sich an langen Kaminabenden endlich einmal den Dreck der Kindheits- und Jugendtage aus den Seelen klopfen und ihn vor die Tür kehren. Bis hin zur Steilküste! Und den Rest würde dann der Ostseewind schon machen, auf den wäre schon Verlass, da hatte Robert überhaupt keine Sorge. In drei Jahren war er vierzig Jahre alt, aber war solch ein Leben erstrebenswert? Für einen echten Kerl? Für einen Typ vom alten Schrot und Korn? Oder wäre solch ein Leben das Dasein eines Amputierten? Eines Seemannes, dem man bei lebendigem Leibe die Seele abgezogen hatte, diese dicke und verlässliche Salzkruste, durch die keine Küchentischpsychologie drang?

Robert Rösch tastete, doch noch bewegten sich die Augen der letzten Seefledermaus viel zu hektisch.

‚Die See ist die Seele’, dachte der Verarbeiter: ‚Und die Seele ist die See.’

Vom Gefühl her sprach natürlich eine ganze Menge dafür, auf der Saudade zu bleiben. Eben nicht in diese Aquakultur einsteigen zu müssen, das war wohl der wichtigste Grund. Auf der Saudade wussten die Männer, was er wert war. Das war eine Lebensleistung, eine echte Lebensleistung! Hier konnte er seine Jungenträume vom wilden Meer ausleben. Er musste sich nicht verstellen, er konnte ehrlich bleiben. Ja, verdammt, er hatte den Luxus, zwei Heimstätten zu haben, von denen die eine unentwegt unterwegs war. Er war von Kollegen umgeben, die ihm vertrauten. Das war eine Ehre, eine große Ehre. Hier musste er alles andere als erwachsen sein. Er hatte die Freiheit, ein verdammter Junge unter Jungs zu sein, ein Pirat unter Piraten, ein Peter Pan, der unbesiegbar war, solange er eben an Bord des Trawlers blieb. Er musste nicht selbständig sein, er brauchte auch keine Verantwortung für andere tragen. Seine einzige Aufgabe waren das Häuten und das Verarbeiten. Verdammt, es war trotz der harten Arbeit ein bequemes Leben. Frei vom Entscheidungszwang war es bisher gewesen, doch nun war er doch in die Ecke getrieben worden. Er hatte ein verdammtes Privatproblem mit an Bord gebracht, obwohl sie sich auf dem Trawler doch immer wieder warnten: Lass deinen Scheiß zu Hause, bring ihn bloß nicht die Gangway mit hoch, sonst gehen wir alle drauf!

Dagegen hatte er nun also verstoßen. Eine verdammt clevere Ehefrau, die er da hatte! Ihm kurz vor der Abreise noch von diesen Fischfarmen zu erzählen, das war verdammt gescheit gewesen, hatte er so doch nicht sofort ablehnen können.

Und nun?

Nun ja, das Jammern half nichts. Es war wie es war. Verarbeiter Robert Rösch versuchte, die Herzensdinge herauszuhalten, denn das wollte er auf keinen Fall auf dieser blöden Liste wissen: Die Liebe zu Mathilde und die Liebe zum Meer mit Plus- oder Minuszeichen versehen.

So ziemlich das einzige, das er noch aus dem Physikunterricht wusste, war ja, dass plus und plus ein dickes Minus ergaben. Verstanden hatte er das aber nie.

„Verdammt noch mal“, sagte Robert zu seinem vorerst letzten Opfer: „Was waren das noch für Zeiten, von denen uralter Richard sooft erzählt. Dieses Funkerehepaar auf der Jungen Welt, die zusammen im Funkraum arbeiteten. Das wäre doch die Lösung! Damals, in dieser DDR, als die Frauen an den Fließbändern arbeiteten und die Männer auf dem Oberdeck. Die hatten sich nie groß entscheiden müssen. Sie waren einfach zu Zweit an Bord gekommen. – Du jammerst schon wieder, du Waschlappen! Du Schmierseife! Du Weichei! Du Weichwurst! Du Schmierkäse!“

Ihm graute davor, sich diese Fragen nun Tag für Tag stellen zu müssen und sich fünf lange Monate nicht entscheiden zu können. Gäbe es doch eine dritte Möglichkeit!

Robert Rösch zog erneut den Handschuh aus, prüfte kurz und hielt den richtigen Moment für die Häutung für gekommen. Als er jedoch die Schnitte setzte, stutzte er. Die Seefledermaus regte sich nicht. Sie war schon tot! Die Stacheln richteten sich nicht auf. Robert Rösch erledigte die Häutung zwar, war aber vom Resultat nicht überrascht: Schwarz wie Teer war die Innenseite der Haut. Und sie stank auch wie Teer.

Er hatte soeben einige Hunderttausende von US Dollar in den Sand gesetzt. Sichergeglaubte Prämien seiner Kollegen.

Wegen Privatproblemen!

Robert Rösch war knapp davor, mit der nackten Hand auf die stachlige Haut zu schlagen. Er starrte auf das reflektierende Metall des Arbeitstisches.

War das ein Zeichen?

Hoffte er jetzt schon auf Zeichen? Vielleicht sollte er zum Betraum gehen? Der dreiseitige Schrein dürfte jetzt doch leer sein, an dessen einen Seite das Kreuz hing. An der anderen Seite befand sich der Stern und an der dritten der Halbmond. Den ganzen Schrein hatte Haudegen auf ein Rolllager montiert, so auch die Moslems unabhängig von der Fahrtrichtung immer nach Mekka beten konnten. Robert war unschlüssig, dachte dann aber: ‚Nein, ich werde allein entscheiden müssen. Diese Entscheidung muss ich selbst treffen.’

Robert Rösch zog auch den anderen Handschuh aus, warf die wertlose Haut und den Kadaver auf den Hallenboden und ging wortlos hinaus. Er geisterte durchs Schiff und hörte nicht auf die Aufforderung, sich sofort zu melden, die aus den vielen Bordlautsprechern drang.

In jedem Winkel des Trawlers klang der Satz nach, Verarbeiter Rösch habe sich sofort zu melden, und alle hundertsechsundsiebzig Besatzungsmitglieder verstanden die Bedeutung: Rösch, dieser Versager, hatte sich verpisst! Die schönen Dollars!

Doch dann brach das erneute Kommando des jungen Dritten Offiziers, Rösch solle sich melden, mitten im Satz ab, und überall auf dem Schiff runzelten die Männer kurz die Stirn. Sie machten sich jedoch keinerlei Sorgen und arbeiteten weiter, während Rösch durchs Außenschott stieg, um aufs Oberdeck zu treten.

Der kleinwüchsige Pirat stand so plötzlich vor ihm, dass Robert überrascht auflachte, ehe ihm, bedingt durch den Unterleibstritt, die Luft wegblieb.

©: Volker Harry Altwasser, Rostock, 2010.