Dorothee Elmiger
Dorothee Elmiger wurde 1985 in Wetzikon in der Schweiz geboren und lebt heute in Berlin. Sie studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne und verbrachte ein Semester am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.
Sie folgte der Einladung von Juror Paul Jandl nach Klagenfurt.
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Dorothee Elmiger
Einladung an die Waghalsigen
(Auszug)
Meinerseits war ich oft allein mit den Büchern. Mir war nichts anzusehen.
Morgens stand ich auf und kochte Kaffee,
ich stellte mich vor die Bücher, ich betrachtete sie, ich
trank den Kaffee und ging weg.
Später kam ich wieder.
Ich wusste nichts über die Bücher. Seit jeher standen sie in der Wohnung über der Polizeistation. Ich wusste nicht, wer sie hergebracht hatte, ich wusste nicht, wem sie jetzt gehörten und wem sie später gehören sollten.
Ich las die Fach- und Sachbücher. Montanwissenschaftliche Schriften, Bücher über die Schifffahrt, den zweiten Band Grundriss der Geschichte von den bürgerlichen Revolutionen bis zur Gegenwart, eine Einführung in die Astronomie, Die Meere der Welt, zwei Bände über die Vögel Europas und Alaska
– Mexico (9148 Meilen von Anchorage nach Oaxaca). Die
Wüste lebt, Winston Churchill, Die Pflanze, Band 1 und 2, The
Beauty of America, Inseln im Atlantik. Angers sous l’occupation.
Alpenflug, mit 191 Fliegeraufnahmen und einer farbigen Tafel
nach einem Gemälde von F. Hass. Wunder aus aller Welt, Band
1, 5, 6 und 7.
Ich las am Küchentisch. Während Fritzi durch das Gebiet wanderte, las ich. Eine Vereinbarung, die wir nie getroffen hatten. Manchmal sah ich vom Küchentisch auf, und sie ging in dem Moment weit draußen und langsam querfeldein vorbei. Obwohl sie langsam ging, ist sie einmal bis nach St. Beinsen gelaufen. Orientierte mich an den Fördergerüsten, sagte sie nach ihrer Rückkehr.
Ich stapelte die Bücher auf dem Küchentisch. Ich betrieb Recherche. Irgendwann entdeckte ich auf einer der 191 Fliegeraufnahmen, die Walter Mittelholzer 1928 geschossen hatte, winzig kleine Blumen, die ich bereits kannte aus Die Pflanze, Band 2. Im sechsten Band der Wunder aus aller Welt erklärte man mir Bau und Funktionsweise von Flugzeugen. Die Wüste lebt war verblüffend, und Walter Mittelholzer überflog am 8. Januar 1930 den Kilimandscharo. In Band 5 der Wunder aus aller Welt ein Kapitel über den Bergbau von Hanns Günther, der auch schrieb Flugmaschinenbuch für Jungen. Darin: Die mächtigen Fördergerüste, die über den senkrecht in die Erde hinunterführenden Schächten stehen.
Alles Erinnernswerte hielt ich fest, abends erstattete ich Bericht. Fritzi hörte zu und warf ein, was auch noch gesagt werden musste. Ich sagte beispielsweise: Joseph Conrad über den Nordseelotsen: Er misstraute meiner Jugend, meinem Wirklichkeitssinn und meinen seemännischen Fähigkeiten, und Fritzi sagte dann, sie wäre durch trübes Wetter gewandert, hätte eine Spitze im Land erreicht und kein Erstaunen gespürt.
Wir wussten wenig. Ich wusste nicht, warum ich die Bücher las. Fritzi wusste nicht, was gesagt werden musste. Im Sommer stellten wir uns zu Beginn nur vor, wie es im Winter sein würde: Wir verlieren uns in den Höhen aufgrund des heftigen Schneefalls!
Der Fall dieses Landes war ungewöhnlich, unsere Situation war unerhört, ich fand sie in keinem der Bücher wieder. Wenigstens konnte ich im Weltatlas ein Bleistiftkreuz über der Kohlenebene machen, die Zeitzone ablesen, in der wir uns befanden. Ich notierte die Längen- und Breitengrade.
Ebenso unsere Geburtstage, Fritzi Ramona Stein 17. April, Margarete C. Stein 25. September, Heribert Stein 4. Juli, Rosa Stein 5. Januar. Ich notierte in Form einer Liste die Namen von Liedern.
Das Feuer reicht mir schon bis zum Knie
Richtung Osten
Hier ist nirgends
Return To Burn
Wir wussten wenig. Es waren konspirative Abende, wir aßen hart gekochte Eier und Lauchgemüse. Eingelegte Tomaten, Rüben und Sellerie. Wir schälten Kartoffeln. Es war ein Aufruhr in der Küche.
Das Schreiben war mit erheblichen Schwierigkeiten verknüpft, es kam zu unzähligen Versuchen. Ich schrieb:
Fritzi Ramona Stein und ich, wir sind
sie, die Jugend der Stadt, einzige Töchter eines
Polizeikommandanten und einer abtrünnigen Frau, uns zu großen Teilen
unbekannt. Unser Erbe ist ein verlassenes Gebiet. Hier herrscht eine große Verwüstung, der
wir nicht beizukommen wissen. Wir sind seit jeher ihre Kinder.
Sie ist unsere Jugend.
Wir sind wohl zu spät gekommen.
Obwohl man uns sagt, dass früher auch nichts besser war, und obwohl der Polizeikommandant und seine Beamten sich auf nichts verstehen als auf das Patrouillieren, das halbherzige Zitieren von Paragrafen und den chronologischen Gehorsam, obwohl die Mutter sich längst solitär aufgemacht, hätten wir uns allerdings gefreut über die Überlieferung einiger Hinweise, eine Anleitung zum Handeln die Zukunft betreffend, ein Handbuch für die Arbeit, die Revolutionen und das Meer. Hebt eure kleinen Fäuste wie Antennen zu den Himmeln, hätte es heißen können. Aber erfolgreich wurde jeder Zusammenhang zwischen den Vorfahren, allfälligen früheren Ereignissen und uns, der anwesenden Jugend, verhindert. Alles ist uns nur teilweise überliefert. Möglicherweise verwaltet der Polizeikommandant in seinem Eifer auch die Geschichte oder sie liegt in seinen Händen brach, das ist meine Vermutung. Meldungen aus der Vergangenheit finden sich auf der Polizeistation in Aktenschränken und Karteikästen. Als Statistik, als logische Schlussfolgerung, als untrüglicher Beweis.
Die Versuche einer Chronik. Sie sollte uns helfen in diesem Schlamassel. Ich schrieb:
Versuche gehorsam zu sein!, also die Ereignisse gehorsam dem unterzuordnen, was gemeinhin als Geschichte anerkannt wird. Also die Ereignisse gehorsam einer Chronologie unterzuordnen, obwohl doch die Chronologie eine dreiste Vereinfachung der Dinge bedeutet, zusätzlich eine Relativierung und den grundsätzlichen Verzicht auf Widerspruch, auf die Bildung von nichtverwandtschaftlichen Banden und Bündnissen. Auf den unvermittelten Auftritt der Möglichkeit im Raum.
Später weitergetippt:
Über die Stellung des modernen Menschen zu seiner Vergangenheit,
über die Bedeutung der alten Markierungen im Gebiet, Fördergerüste, Schachteingänge, Eisenbahnschienen,
Schutthaufen. Über die Bedeutung der neueren und neusten Markierungen: Risse im Grund, Verläufe im Nichts, Senkungen der Erdoberfläche.
Das Gebiet gebiert nur Furcht und Schrecken! Es verschlingt Feldhasen, Mäuse und Frettchen mit Haut und Haar!
Schließlich versuchte ich mich einfach zu erklären.
Das ist die Erzählung von einer Stadt, die dabei ist zu verschwinden. Nachdem vor Jahrzehnten im Grund nichts anderes als ein Feuer ausgebrochen ist und weiterhin brennt in den Stollen unter Tag.
Weiter wird erzählt von den wenigen Häusern, die nun übrig bleiben im wüsten Land, von ihren Bewohnern und Bewohnerinnen. Die Beschreibung des Lebens der Töchter Stein. Wo und welcher Gestalt sie nämlich in diese Welt kommen, was sie darin sehen, lernen, erfahren und ausstehen.
Die Jugend liest Bücher und sucht einen Fluss. Die Jugend denkt daran, sich in Zukunft am Fluss zu treffen. Sie kann sich nicht an die Zeit vor dem Feuer erinnern, aber sie versucht es trotzdem. Reisen werden unternommen. Ein Pferd stößt dazu. An der ganzen Geschichte ist nichts Geheimnisvolles, wenngleich sie stellenweise für Verwirrung sorgen und dadurch schreckhafte Gemüter beunruhigen mag, wie es das Leben auch oft tut. Dies kann leider nicht verhindert werden.
Es war ein früher Abend. Unten standen zwei Polizeibeamte an die Hauswand gelehnt und sprachen leise. Ich betrachtete sie lange Zeit.
An diesem Abend hatte ich zum ersten Mal von dem Fluss gelesen.
Meine Freunde in Missouri rieten mir an Werkzeuge mitzunehmen, um Kanus zu bauen, damit ich auf diesem Fluss zum Pazifik gelangen könnte.
Der Fluss breitete sich sichtbar vor mir aus. Sein Name war Buenaventura. Er floss ruhig und breit dahin, nicht ungefährlich trotzdem. Manchmal schien er mir rau, kaum der Ostflanke des Gebirges entsprungen, durchquerte er südliche Hitze, subtropische Regionen, Florida.
Ich befand mich allein. Fritzi war unterwegs. Der Vater H. Stein saß unten in der Polizeistation. Noch hatte ich Fritzi nicht von dem Fluss erzählt. Ich ass ein Stück Brot, dann setzte ich mich wieder an den Tisch.
Zwei Padres und ein alter Kartograf hatten den Fluss 1776 auf ihrer Expedition entdeckt. Das war an einem frühen Herbsttag, und der Kartograf ging wahrscheinlich leicht gebeugt, denn sein Magen schmerzte. Per Handzeichen stimmten die drei ab, um sich auf einen Namen zu einigen. Rasch vermerkte der Kartograf den Fluss und seinen Standort in seinen Aufzeichnungen, dann gingen sie weiter.
Ich hatte bei den Berichten in den Büchern eine Karte gefunden aus dem Jahr 1823, darauf mündete ein Fluss mit dem Namen Buenaventura in einen See. In gesperrten Tuschelettern links davon UNERFORSCHTES LAND.
Als ich aus dem Fenster schaute, standen die Beamten noch immer da. Ich konnte sie nicht sehen, die Dunkelheit war zu groß geworden, aber ihre Stimmen hörte ich.
Die westlichen Grenzen dieses Sees sind unbekannt.
Ich verschob den Lichtkegel der Schreibtischlampe. Auf weiteren Expeditionen Jahre später hatten sie das unerforschte Land erschlossen. Den Fluss hatte man verfehlt, dann nicht mehr gefunden, dann wiederum zu weit südlich gesucht. Man vermutete ihn weiter östlich, man glaubte ihn im Norden, man zweifelte an ihm, buena ventura.
1844 schloss J. C. Le-Mont die Existenz des Flusses endgültig aus. Auch seine geografische Vermessungsexpedition hatte ihn nicht gefunden. Als er dem Präsidenten des Landes Bericht erstattete, nannte dieser ihn jung und sprach vom impulsiven Verhalten junger Männer.
Am Abend betrat Fritzi spät die Küche. Sie hängte ihren Anorak über meine Stuhllehne. Noch immer floss breit der Strom vor meinen Augen dahin. Ich sagte nur so viel: Nach meinen eigenen Berechnungen verlief der Fluss Buenaventura vor 240 Jahren noch quer durch dieses Gebiet. Fritzi nickte: Dann müssen wir ihn suchen.
An jenem Abend: Ich stieg auf mein Motorrad und fuhr durch die Stadt. Mit mir fuhr die große Unruhe. Die Stadt war dunkel, bei Elisabeth Korn brannte noch ein Licht im ersten Stockwerk, bald war auch das außer Sichtweite. Ich ließ die Stadt hinter mir. Ich suchte den Buenaventura lang und unruhig auf meiner Reise südwärts.
Unerwartet sprang das Motorrad einmal über eine Schwelle, dann war wieder alles wie zuvor.
Fritzi setzte sich stumm zu mir an den Küchentisch, ihr Wecker hatte seit vielen Stunden geklingelt. Ihr Haar stand in alle Richtungen. Zusammen betrachteten wir schweigend, was man hier den Himmel nannte, und das, was hier einmal das Land darunter gewesen war und sich nun nur noch erstreckte. In weiter Entfernung standen drei Fördergerüste unbeweglich im Land.
Die Stahlseile verliefen noch immer straff gespannt über die Seilscheiben in den Boden. Schienenstränge, die tief in die Erde gesunken waren, führten von den Schächten weg. Die Fördergerüste waren die einzigen Orientierungspunkte, die das Land dem Auge bot. (Und die Hügel? Und die Häuser und die Straßen?)
Das nördliche Kohlenrevier erinnerte nur sich selbst: Die Seilfahrten der Männer in die Tiefe, die dem Land ihre eigenen Zeitabschnitte einschrieben.
Die Ränder meiner Fingernägel waren schwarz von Kohlestaub. Auch wenn das betreffende Gebiet schließlich verlassen würde, trüge ich ihn mit mir davon. Fritzi sprach vorsichtig über die unhaltbare Landschaft: Seit Langem, sagte sie, versuche ich mir die Landschaft hier verständlich zu machen. Sie sagte, ich betrachte die Fördergerüste, die in den Himmel ragen, und ich betrachte die Schienenstränge, die immer tiefer im Boden verlaufen, weil sie sinken und sinken, ich betrachte den Himmel, denn auch der Himmel ist vielleicht symptomatisch, auch der Himmel gehört zu dieser Landschaft. Ich zähle, sagte sie, ich zähle die Farben, mein Vokabular erschöpft sich bereits nach braun, olive und schwarz, und wenn ich es überdenke, so sind das alle Farben, die es hier gibt. Ich betrachte die wenigen Häuser, die in der Landschaft stehen, in zufälligen Distanzen voneinander entfernt. Stur und alleine halten sie die Namen ihrer Straßen aufrecht und haben jeden Zusammenhang verloren. Frühere Reihenhäuser liegen in der Weite endloser Straßenzüge und werden seitlich von hohen Ziegelstapeln vor dem Einstürzen bewahrt. Sie sagte, das Land liegt auf dem Rücken, es funktioniert nicht mehr.
In den darauffolgenden Nächten träumte ich vom Mekong. Der Mekong wurde immer breiter mit der Zeit. In seiner Mitte schaukelte ein kleines Transportschiff, seine Fracht waren zwei Hühnerkäfige. Am Steuerruder saß eine Frau mit Hut. Nach Anbruch der Dunkelheit, als die Hitze noch deutlicher wurde, hörte man Stimmen von Leuten, die sich Dinge zuriefen, von einem Ufer zum anderen, bis tief in die Nacht hinein.
Es wurde Morgen, und ich schrieb auf ein Stück Papier: Auf der Suche nach einem Fluss. O buena ventura! Das Vorgehen: ausgiebige Recherche im Gebiet und in den Büchern zu Vergangenheit und Gegenwart des Gebiets. Befragung der Anwesenden. Möglicherweise archäologische Grabungen.
Dann blieb ich im Bett liegen und dachte an die Tiere im Mekongdelta. Kleine Affen schmiegten sich eng an die Baumstämme, die Fische waren auf ihrem Wanderweg, ein Riesenwels schwamm knapp unter der Wasseroberfläche, und ein Schneekranich flog vorbei.
Ich fand endlich einige nützliche Nachrichten in den Regalen, eingeklemmt zwischen den Büchern. Wenige Fotografien: 4. Dezember 1908. 150 Personen obdachlos nach einem Feuer. Stehen unter einem kahlen Baum, davor zwei Pferde. Im Hintergrund Rauchschwaden und als läge da Schnee: Schuttund Aschehaufen. Feuer gelegt von der Bergbaugesellschaft, um an die Kohlenader direkt unterhalb zu gelangen? Briefe,
Notizen: 12. Mai 1902: Streik. 3. Oktober 1902:
122 Bergleute im Streik zwingen Streikbrecher in einem Eisenbahnwagen mit der Aufschrift L. A. Rilken Bergbaugesellschaft zur Umkehr.
Eine Fotografie zeigt das Bergwerk von L. A. Rilken im Jahr 1880 in seinem ganzen Umfang. Fotograf: G. Schwarzer, Wildenstadt.
Einmal abgegrabenes Gelände im Jahr 1963. Mammut Kohle AG. Winzig kleine Bagger im Vordergrund.
Erik Danz, elfjährig sitzt auf dem riesigen Ventilator zum Wetterschacht, 1959. Sohn des ersten Trompeters der örtlichen Blasmusik, Karl Danz.
Der westliche große Erg in Afrika, der östliche große Erg, der große Erg von Bilma, Erg Igidi, Erg Rebiana, die Wüsten Erg Schesch, Fesan, die Wüsten Gapawa, Hamada des Draa, Hamada el-Hamra, Kalahari, ließen die Äste des alten Buchsbaums tief zu Boden sinken, die großen Wüsten Kamaturi ließen mein Boot auf ihrem tiefsten Punkt verrotten, ich war durstig in ihrem Angesicht, die Tiere waren schon verendet, zuletzt hatten sie in ihren eigenen Mägen noch nach einer Flüssigkeit gesucht. Die großen Wüsten Karakum, Kysylkumm, Lakamari, Makteir, Masagyr, die Wüsten Moritabi, Mujunkum, Trarza bahnten sich ihren Weg, auf den Alpen hinterließen sie zuletzt einige Spuren, Uaran.
Das Buch Zur Umgehung einzelner Teile der bestehenden Konstruktion oder zu ihrer Entfernung von Hirsch und Elm war 1951 in Turin erschienen. Es lag im Verbandskasten des Autos, versteckt. Hirsch und Elm trugen Hüte auf dem Buchumschlag, zwei junge Kanadier, im Alter von 24 und 27 Jahren nach Italien übergesetzt. Sie studierten angeblich, so der Klappentext, an der Turiner Universität Statik und Dynamik und bauten später die große Hölltobelbogenbrücke, in Kanada mehrere Stahlfachwerkbrücken für Eisenbahnen, besonders u. a., so der Klappentext, den Rose-Blixt-Overpass, die New Turnpike Bridge, in Europa außerdem die Hotzentötzbrücke, die Weberschluchtbrücke, eine Bogenbrücke aus Feldsteinen, an unersichtlichem Standort (Italien?): Ponte sul fiume Bonaventura, so der Klappentext.
Ich suchte auf den Landkarten Italiens, die ich in der Wohnung fand, nach einem Fluss Bonaventura. Dann vielleicht, so dachte ich, wäre alles nur ein Missverständnis, J. C. Le-Mont hätte den Namen des Flusses statt in Italien irrtümlicherweise auf einer falschen Karte eingetragen.
Ponte sul fiume Bonaventura.
Als ich H. Stein an diesem Tag nach Hirsch beziehungsweise Elm fragte, entwendete er mir mit einem Polizeigriff das Buch und warf es auf einen glimmenden Haufen Sperrholz hinter der Station.
Fritzi zuckte mit den Schultern. Elvis Hirsch?
Nichts anderes blieb uns übrig, als mit der Suche immer wieder von vorn zu beginnen. Mit Tierkörpern gingen wir ruhelos hin und her zwischen den verschiedenen Räumen der Wohnung.
Meine Chronometer und Barometer waren nun in ständiger Gefahr. Das Stolpern eines Maultiers konnte alles zerstören.
Fritzi verschwand in der Badewanne, ich stand am Küchenfenster, sah: Henrik, Dünckel und Schroeder auf dem Parkplatz, Zigarillos rauchend. Heller saugte mit einem Staubsauger den Schmutz aus seinem Auto.
Ich setzte mich in die dunkle Ecke. Sogar hier in der Wüste hörte ich das leise Summen des Flusses. Er musste doch nah verlaufen, an einer Stelle zwischen St. Beinsen und Wärgl, Hasseldorf, Ansburg und der Demarkationslinie. Manche Flüsse verschwinden und treten erst an anderer Stelle wieder auf, durch ein Schluckloch treten sie ein in unterirdische Karstlandschaften und gewundene Höhlen. Dann münden sie ins chinesische Meer. Sie fließen in südwestlicher Richtung ab und an einem Campingplatz vorbei. Sie tauchen kurz hinter dem Flughafen wieder auf.
Am 11. Mai vor etlichen Jahren traten 7000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Gut-Mut-Hütte bei Wildenstadt in den Streik. Außerdem legten in Belkenburg 10.000 ihre Arbeit nieder, 4000 waren es in Usten. Es folgten Streiks in Hasseldorf, St. Beinsen und Oberfeldstadt, in allen Teilen des Kohlenreviers wurde gestreikt.
In den Schachtanlagen wurden Abstimmungen über die weitere Vorgehensweise durchgeführt. 91 Delegationen, die von über 20.000 Bergleuten und Angestellten gewählt wurden, brachen auf, um die beschlossenen Forderungen in der Hauptstadt zu verkünden.
Fritzi fand in Usten ein Pferd. Es war wohl durch das Gestrüpp auf dem Hügel gestreift, sie hatte es am Halfter genommen, das brüchig war und beinahe farblos, und es von Usten und herab vom Hügel bis zur Kreuzung geführt, wo an der Ampel ein Zettel flatterte, und das Pferd erschrak.
Ich wies sie auf den Namen Bataille hin, sie sagte, das sei ein Name, der wahrscheinlich geeignet sei für dieses letzte Pferd in der Wüste von Afrika. Ich dachte an das stolpernde Maultier. Vielleicht müsste ich nur lange genug über das Fell des Pferdes schreiben, und es wäre alles Wichtige gesagt. Nein, nein!, rief Fritzi.
Ich war in Usten, ich betrat auch Hasseldorf, ich besuchte Belkenburg, besichtigte Hinterzell, St. Beinsen, Wildenstadt, ich ging durch Unterdorf, fuhr einmal rund um Wärgl. Ich sah die Ränder der Wälder, ich hörte einen Vogelschrei, von fern das Brummen der Trafostation in Wärgl, ich dachte an den Mekong, an den Nil, den Amazonas, den Jangtse, den Po und den Mississippi. Ich suchte den Buenaventura. Über meinem Kopf flog ein Albatros, aber er landete nicht.
Ich ging alle Wege in den Süden und folgte den Pfaden nach Norden, ich wanderte östlich und natürlich in den Westen. Auch Fritzi hatte diese Straßen betreten, sie war mir vorausgeritten auf dem Pferd Bataille, sie war hinter mir hergerannt, hatte in regelmäßigen Abständen meinen Weg gekreuzt. Wir trafen uns zufällig an den Rändern der Wälder, in den tiefsten Talsenken, an kleinen stehenden Gewässern, Tümpeln, Pfützen und Teichen, wir trafen uns unter den Fördergerüsten und beim großen Grubenventilator, wir verabredeten uns auf dem savannengelben Feld, weil wir auf der Suche waren nach dem Fluss.
Und das Licht hob und senkte sich, und die Tage gingen leisen Tritts vorbei, einst war der Sommer, dann kam der Herbst und es würde bald Winter.
Draußen ging Fritzi mit dem Pferd an einem losen Strick. Ein Pferd hat ein untrüglichstes Gespür für Wasser, hatte sie gesagt, seine Nüstern zittern, und aufgeregt reckt es seinen Kopf in eine Richtung des Horizonts. Dort flog der Albatros.
Es erreichten uns 41 Ausgaben der Zeitung für die Bergleute mit dem Namen Über dem Schacht flog ein Specht. Der Dichter Peter Wassermann hatte sie uns zugesandt, obwohl wir uns gänzlich unbekannt waren: An die Söhne und Töchter im Gebiet, Enkel und Enkelinnen, so hatte er die Schachtel mit den Zeitungen adressiert.
Das Papier der ältesten Ausgaben hatte sich verfärbt, sie waren fast 100 Jahre alt, andere jünger als unser Vater, sie entstammten dem Zeitraum kurz vor dem Feuer. Auf manchen Seiten hatte jemand mit einem Bleistift Anmerkungen gemacht und Zeilen unterstrichen, Peter Wassermann wahrscheinlich:
Vermuteter Fluss
hatte er einmal an den Rand geschrieben. Ein anderes Mal Rosa Luxemburg unterstrichen und einige Sätze von Friedrich Engels. In der Ausgabe Nummer 53 hatte er das Wort Morgen auf allen Seiten insgesamt elf Mal unterstrichen. Auf dem Titelblatt der Nummer 70 hatte er allen 17 Bergleuten, die auf einer Fotografie zu sehen waren, mit einem Kugelschreiber Schnurrbärte gemalt.
Einmal schrieb er einige Zeilen über einen Specht neben den Titel.
Fliegt der Specht
am Abend vorbei,
werden wir uns am Morgen versammeln.
Fritzi blickte nachdenklich über den Rand eines Wasserkrugs hinweg. Werden wir uns am Morgen versammeln, sagte sie langsam, werden wir uns am Morgen mit dem Pferd Bataille, einem Schlägel und einem Bergeisen zur Erinnerung versammeln?
Lieber Herr Peter Wassermann, schrieb Fritzi, die vor dem Wasserkrug in der Küche saß. Wir, die Töchter im Gebiet, haben ihr Paket erhalten. Ihr Paket, Herr Wassermann –
Ich verließ die Küche und setzte im Flur eine Mütze auf. Ich hörte schon die Pferdeschritte draußen. Vielleicht, dachte ich, müsste ich nur lange genug über das Fell des Pferdes schreiben, und es wäre alles Wichtige gesagt.
Nein, nein!, rief Fritzi und sagte: Natürlich sprechen wir von den Haaren dieses weißen Pferdes. Und wir sprechen auch von den kleinen Kieseln auf dem Weg von hier nach Hasseldorf. Wir sprechen von der Zeit kurz vor der Nacht und von nächtlichen Zeiten, von der Veränderung des Lichts im Lauf eines Tages, von den Anzeichen des Herbstes. Wir sprechen von den Zetteln, die wir abends in unseren Hosentaschen finden und von den alten Wegen im Gebiet.
Ja!, wir sprechen von den alten Wegen, den letzten Sträuchern an ihrem Rand. Von der kleinen Birke mit den runden Blättern unten am Stadtrand hinter dem Schwimmbad. Von den feinen Adern der runden Blätter der kleinen Birke. Von den Häusern und den Hütten.
Das aber ist nicht genug. Margarete! Das ist nicht genug, hörst du mich! Wir müssen auch an die Haare dieses weißen Pferdes in der Zukunft denken. Von der Zeit kurz nach dem Aufwachen müssen wir sprechen, von der Veränderung des Lichts im Lauf eines Tages zum Besseren hin, von den Anzeichen des nächsten Tags, der so sein wird, wie wir das wollen. Von einem Flamingo und einem Sperling und einem Schneekranich, die über dem Gebiet ihre Kreise ziehen. Von den Füssen des Albatros und von Hemingways Töchtern. Von Freundeskreisen. Von Büchern, die damit enden, dass Fischer aufstehen und Schiffe ablegen. Von dem Zirkusbären, der sich mit dem Trampolin durch die Kuppel des Zirkuszelts katapultiert. Von der wilden Katze, die sich heimlich in den Sträuchern ein Nest baut. Wir müssen uns im wärmsten Raum des Hauses treffen! Wir müssen zu Recht behaupten, dass dieser Zustand nicht der letzte ist. Wir dürfen nicht glauben, dass die Dinge unumstößlich sind! Wir müssen jetzt auch von den unbekannten Wegen im Gebiet sprechen, sowie von den altbekannten, in Vergessenheit geratenen. Vor allem müssen wir von dem Fluss sprechen, dem Fluss Buenaventura, bis wir ihn finden. So weit wird’s noch kommen!
Am Ufer des Buenaventura werden wir Pläne machen für die Zeit nach dem langen Winter. Pläne, um Abhilfe zu verschaffen a) unserm kümmerlichen Dasein und b) diesem verkümmerten Abschnitt Land. Wir werden eine Konferenz planen, die zu einem ausufernden Fest werden wird. In einem hölzernen Ruderboot werden wir eine Fahrt auf dem Buenaventura unternehmen, die uns bis nach China führen wird. Wir werden das Land neu ausrufen. Wir werden auf Bataille im Kreis reiten und dann plötzlich ausscheren und verschwinden. Wir werden Bruckners Krankheit der Jugend aufführen in zahlreichen Sprachen, aber wir werden uns nicht verkleiden. Wir werden zahlreiche Gäste einladen, unter anderem viele Montanwissenschaftler, Archäologinnen, eine Einheit Feuerwehrmänner, Vertreter und Vertreterinnen der Künste, die Bergleute aller Kontinente, einen Typografen, mehrere junge Waghalsige.
Es steht ein Hotel für Sie bereit, werden wir schreiben in der offiziellen Einladung, für die Unterbringung wird gesorgt sein. Wir werden Brief um Brief tippen: das große Fest! zur erneuten Entdeckung des Flusses Buenaventura! und jeden in einen Umschlag stecken.
An die Montanakademie
An eine Musikkapelle aus London, die wir im Radio gehört
haben
An den bereits erwähnten Typografen
An Frau Erika Gerste und die Herren Hirsch und Elm
An eine Geografiestudentin aus Berlin und Freudenberg
An einen Landvermesser aus der ehemaligen DDR
An die Feuerwehrmänner von New York
An einige Landstreicher aus Idaho, Kansas und Montana
An Norma Jackson, Archäologin
An die Fotografin und Kriegsberichterstatterin, die in Frankfurt
am Main studierte
An die Dichter Wassermann, Leu und Becker
An die Chronistinnen der nördlichen Länder Afrikas
An den ersten stellvertretenden Bürgermeister in Reykjavik
An die Jugend von Athen
In diesem Auszug frei zitiert werden: John Bidwell, Joseph Conrad, W. H. Emory, John Charles Frémont, Godspeed You! Black Emperor, Hanns Günther, Deryl B. Johnson und Peter Wassermann.