Sabrina Janesch

Sabrina Janesch wurde 1985 in Gifhorn geboren und lebt in Cottbus. Von 2004 bis 2009 studierte sie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, außerdem zwei Semester Polonistik in Krakau. Sie wurde von Alain Claude Sulzer zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

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Sabrina Janesch

Katzenberge

 

Großvater sagte, er habe den Fluch schon von Weitem gespürt. Ein kaum wahrnehmbarer, fauler Geruch sei das gewesen, der über der Erde geschwebt und sich über jeden gelegt habe, der sie betrat.

Die anderen hatten ihn erst gespürt, als man sie schon aus den Waggons gelassen hatte. Da aber, sagte Großvater, als sich die Männer über ihn und die unnatürlich scharfkantigen Schatten der Hügel gewundert hatten, sei es schon zu spät gewesen.

Dort, wo die Bauern aussteigen mussten, gab es keinen Bahnhof, sondern lediglich einen aufgeschütteten Haufen Kohle. Darin steckte ein Schild, auf dem in blauen Emaillelettern stand: Obernigk. Oborniki, schrien die russischen Soldaten im Zug und trieben die Polen aus den Waggons. Neben dem Kohlehaufen blieben die dreizehn Männer stehen und sahen sich blinzelnd um. Janeczko fühlte sich so schwach auf den Beinen, dass er sich auf die Schulter von Mariusz Sędecki hatte stützen müssen. Sędeckis rote Haare waren von Staub und Schmutz verklebt und wirkten grau; seinen aufrechten Gang hatte ihm die Fahrt nicht nehmen können. Sędeckis Schulter war knochig, und Janeczko spürte die Reibung des Gelenks wie ein Kitzeln in seinen Handflächen.

 

Rings um sie herum dampfte die Erde: In Schlesien war es bereits Frühling, und die aufgehende Sonne ließ das Wasser aus den überfluteten Wiesen aufsteigen. Im Westen war eine Hügelkette zu erkennen, die Katzenberge. In der anderen Richtung erstreckte sich eine ausgedehnte Mulde, an deren Ende Janeczko einen schweren Laubwald ausmachte. Wohin gehen?

Ratlos hätten sie herumgestanden, sagte Großvater, der kräftige Sędecki, der blasse Steinmetz Garniecki; Wiśniewski, der sein Auskommen mit dem Anbau von Pfirsichen verdient hatte, er selbst und die anderen Bauern. Nichts habe man gewusst, vor allem aber nicht, was das heiße: Sie sollten fortan auf den Höfen der Deutschen wohnen. Als Kind hatte Janeczko gedacht, dass sein Körper mit der Erde, auf der er lebte, untrennbar verbunden sei. Es hatte nicht lange gedauert, bis er feststellte, dass das zwar sein mochte, dass man aber trotzdem die Erde verlassen und weiterleben konnte; unter Schmerzen zwar, aber es ging.

In westlicher Richtung, in der das Städtchen Obernigk liegen musste, sah er die Giebel und die Dächer von Villen aus dem Wald gen Himmel ragen. Ein fremder Geruch von Beton und Verbranntem wehte herüber. Östlich konnte man hinter Wiesen und Waldinseln ein paar Dörfer und kleinere Weiler erkennen. Janeczko entschloss sich, in Richtung Osten zu gehen, dorthin, wo es nichts gab, was fremd war, hinaus auf die Felder.

Die Männer, die mit ihm den Waggon verlassen hatten, standen noch immer um den Kohlehaufen herum und berieten, wer wohin gehen würde und ob es überhaupt ein kluge Idee war, sich zu trennen. Sędecki war Wortführer und schlug vor, dass die Bauern von Żdżary Wielkie, das neuerdings kein polnisches, sondern ein ukrainisches Dorf namens Zastavne war, zusammenbleiben sollten und man sich ein hiesiges Dorf suchen müsse, das groß genug war, sie alle aufzunehmen. Also: Man würde sich auf den Weg machen und dreizehn Höfe suchen, die so nah wie möglich beieinander lagen. Da meldete sich Wiśniewski mit leiser Stimme und fragte, was man den Leuten bloß sagen sollte, wenn man sie träfe. Sędecki starrte ihn entgeistert an: Welchen Leuten?

Na, antwortete Wiśniewski: den deutschen Bauern. Spricht jemand Deutsch?

Janeczko streckte seine Nase in die Luft. Mit jeder Minute, die sie an den Gleisen standen und diskutierten, verloren sie eine Minute Tageslicht. Er griff zum Beutel, den er bei sich trug – Schnupftabak und ein wenig Brot waren darin gewesen – und fühlte nach, ob auch das Gewehr noch da war. Mauser, stand in winzigen Buchstaben auf seinem Lauf, das war das einzige deutsche Wort, das Janeczko kannte. Ich glaube nicht, dass wir jemanden finden, mit dem wir uns unterhalten werden, sagte er, und, ungeduldig zu Sędecki: Sucht euch ruhig ein Dorf mit zwölf Höfen, ich werde schon allein zurechtkommen.

Dann trennte er sich von den anderen Galiziern und der knochigen Schulter und ging los. Erschrocken schauten sie ihm nach, als wenn er mir nichts, dir nichts aus einem Schützengraben aufgestanden und über Feindesland geschritten wäre. Er wandte sich um, blickte in ihre ausgemergelten Gesichter und sprach: Wir haben keine Zeit zu verlieren.

 

Großvater sagte, durch die vom Wiesenschaumkraut übersäten Felder zu gehen habe sich ähnlich angefühlt wie einen Fluss zu überqueren, in der Hoffnung, das Holz, auf dem man sich bewege, möge nicht plötzlich wegbrechen. Und wirklich: Mehrmals hatte Janeczko den Eindruck gehabt, der Feldweg würde unter ihm nachgeben und jede Sekunde könne sich die Erde öffnen und ihn gierig verschlingen. Er entfernte sich von den Gleisen, und als sich nach einigen hundert Metern die Erde noch immer nicht aufgetan hatte, wagte er zum ersten Mal, sich umzudrehen. Die anderen Männer gingen auf ein paar eng beieinander stehende Stallungen und Wohnhäuser zu. Janeczko blieb dabei: Er wollte in die Nähe des Waldes.

Das deutsche Dorf suchte er erst viel später auf. Befremdet habe ihn diese Weise, zu bauen und zu leben: Alle zusammen auf einem Haufen, und die Felder weit draußen vor den Toren der Siedlung. In Galizien habe jeder für sich gesiedelt, und die Gehöfte seien wie Inseln gewesen, von denen man schon aus der Ferne Menschen habe kommen sehen.

Der Weg führte nicht direkt zum Waldrand, sondern beschrieb eine Schleife über eine kleine Anhöhe. Von dort oben machte Janeczko am Fuß eines Hangs eine Kirche aus, vor der sich ein Friedhof ausbreitete. Großvater sagte, in diesem Moment habe er gedacht, wie aufwändig es sein würde, in Zukunft die Toten mit dem Zug nach Galizien bringen zu müssen, um sie dort zu begraben.

Der Hass und die Angst, sagte Großvater, haben, wie die Liebe, ihre eigene Logik: Er wollte nichts mögen oder sein eigen nennen müssen, das sie zurückgelassen hatten, wollte nicht ihre Teller benutzen, nicht von den Früchten der Bäume essen, die sie gepflanzt hatten. Schlesien, habe er geglaubt, das schleimige, schissige Schlesien, sei eine Übergangslösung, eine Art makabrer Scherz, den man sich solange erlaubte, bis daheim in Galizien alles in Ordnung gebracht worden sei.

 

In der Ferne konnte Janeczko die Männer ausmachen, die sich dem Dorf näherten. Ihre Konturen verschmolzen fast mit dem Hintergrund. Die Hüte, die sie trugen, hatten während der Reise wahlweise als Kissen, Teller, Waffen oder Handtücher gedient und saßen auf den Köpfen wie hässliche Tierchen, die sich beim Anblick der Häuser sträubten. Jeder von ihnen trug, schob oder stieß, so viel er konnte, Säcke mit Werkzeugen, Töpfen, manche hatten Saatgut dabei. An einen größeren Essensvorrat hatte niemand gedacht, der Proviant war ihnen schon irgendwo nach Opole ausgegangen.

Von seiner Warte beobachtete Janeczko die Männer, wie sie immer engere Kreise um die Häuser von Osola zogen, über die Zäune lugten und immer wieder riefen:

Jest tam ktoś? Ist da wer?

Die Jest-tam-ktoś-Rufe breiteten sich wie eine Welle über die Senke aus, sagte Großvater, und füllten jeden Winkel der Siedlung und der Felder, bis in den Wald, in die Flur und bis hinauf in den Himmel. Die Männer begannen, an den Toren zu rütteln, Steine gegen Scheunen zu schmeißen, Äste von den Bäumen abzubrechen, zu pfeifen, gegen Pforten zu schlagen, brüllend und schnaufend sich den Eingängen der Häuser zu nähern. Großvater sagte: So hatte man in Galizien böse Geister ausgetrieben. Mit hoch erhobenen Knüppeln hatten sich schließlich die ersten Grüppchen in die Häuser hineingewagt.

 

An jenem niederschlesischen Waldrand fand Janeczko den Hof, den er aus tiefster Seele hassen lernte. Von weitem konnte er nur vage etwas Dachartiges ausmachen, aber als er näher gekommen war, sah er, dass nicht einmal zehn Meter vom Wald entfernt ein Gehöft lag, mit frisch verputztem Wohnhaus, gemauertem Stall und Scheune. Alle Gebäude waren mit Schindeln gedeckt und nicht mit gebündeltem Schilf wie die Häuser in Galizien. Nach Süden erstreckte sich ein weitläufiger, eingefriedeter Garten, an den Hühner- und Kaninchenställe anschlossen. Lebendige Nutztiere gab es in Schlesien nicht mehr: Die Hühner waren von Füchsen, Habichten oder Deserteuren geholt worden und die Kaninchen in ihren Käfigen verhungert.

Janeczko stand einige Zeit auf dem Schotterweg, der den dichten Eichenwald und den Hof trennte, als müsste er überlegen, welche Seite er sich zur Heimat machen sollte. Als sein Blick vom Hof wieder zum Wald wanderte, erblickte er auf einem der äußeren Äste ein Käuzchen, das bewegungslos in seine Richtung starrte; Janeczko fuhr herum. Für einen Augenblick hatte er geglaubt, das Käuzchen habe nicht ihn angeblickt, sondern etwas, das noch einen Moment zuvor hinter ihm gestanden hatte – aber da war nichts. Plötzlich fröstelte es ihn, und er gestand sich ein, dass er lieber mit den anderen im Dorf gewesen wäre und mit Schreien und Lärmen seine Angst vertrieben hätte.

In dem Moment, als Janeczko erschienen war, hatte der Hof den Atem angehalten. Janeczko hörte sein Blut in den Ohren rauschen, so still war es. Sein Herz schlug gegen den Brustkasten, als er anfing, den Zaun zu begutachten: An den Latten perlte noch dick getrocknete Farbe. Schwarz. Ob wirklich niemand da war?

Er versuchte im Garten Spuren auszumachen, aber alles war bereits so verwachsen mit wildem Wein, dass es unmöglich war, etwas zu erkennen. Unschlüssig holte er das Jagdgewehr aus dem Sack. An der offenen Seite des Us, das die Trakte bildeten, befand sich das Eingangstor. Janeczko griff nach seiner Mauser, ging auf das Tor zu, umschloss die Klinke mit seiner Hand, fühlte die Kühle des Metalls und stieß es endlich auf. Dann trat er ins Innere des Hofes, ging ein paar Schritte, strauchelte und ächzte auf.

Von der Wunde an seinem Oberschenkel lösten sich einige Tropfen Blut und versickerten im Leinen seiner Hose. Kurz hinter der Pforte, getarnt als Gestrüpp von Schafgarbe und Melisse, hatte ein Brombeerstrauch gelauert und Janeczko, kaum dass er eingetreten war, ans Hosenbein gegriffen und Blut geleckt. Großvater sagte: Sein erster Vorsatz war, falls er tatsächlich bleiben sollte, den Brombeerstrauch auszugraben und verdorren zu lassen. Noch aber hätte jederzeit jemand aus dem Wohnhaus heraustreten und erklären können, dass es sich bei alldem um ein Missverständnis handelte; oder jemand hätte heraustreten können, um ihn kommentarlos zu erschießen.

Janeczko starrte auf die Tür des Wohnhauses, über der ein kupfernes Hakenkreuz hing. Starrte auf den Stall, den Schuppen, aber bis auf die Grashalme regte sich nichts. Bevor ich das Haus betrat, habe ich das Hakenkreuz abgehängt und mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gelegt, sagte Großvater.

 

Janeczko zog den Brombeerdorn aus der Wunde und richtete sich wieder auf. Das Gras im Innenhof stand hoch wie auf einer Waldlichtung. Ab und zu meinte er, Bewegung zwischen den Halmen zu sehen; es handelte sich wohl nur um Mäuse. Am Ende des Innenhofes, vor dem Stall, stand eine Hundehütte, aus der es erbärmlich stank. Janeczko hörte Fliegen darin summen und beschloss, für den unwahrscheinlichen Fall, dass er tatsächlich seine Frau und seinen kleinen Sohn Darek hierher holen würde, die Hütte in Brand zu setzen und in ihrem Feuer all das zu verbrennen, was er finden würde von dem, der den Hof erbaut und das Hakenkreuz über die Tür gehängt hatte.

Mit jedem Schritt, den er endlich Richtung Tür gemacht hatte, hätte Janeczko am liebsten zwei rückwärts getan. Als er vor den drei steinernen Stufen stand, die zu ihr hinaufführten, ließ er seinen Blick nochmals über den Hof schweifen: über den Walnussbaum am Gatter, den Hühnerstall, die Mistgrube, die Scheune, deren Tor leicht geöffnet war. Ein kühler Wind schien der Scheune zu entweichen; außerdem der Geruch von Holz und Harz.

Schließlich bemerkte er das Paar gelber Augen, das ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte. Blitzschnell hob Janeczko einen Stein von der Erde und schmiss ihn gegen das Scheunentor. Fort, schrie er, schrie dreimal: Fort! Fort! Fort! Da verschwanden die Augen, und in der Scheune war nichts mehr zu sehen.

 

Im Hausflur umfing ihn abermals jener Geruch, der ihn bereits während der Zugfahrt angeweht hatte. Jesttamktoś?, rief er mehrmals mit belegter Stimme, und als niemand antwortete, stieß er die Tür zur Küche auf und trat ein. Es war niemand da.

Großvater sagte: In einem Meer aus Pilzen standen ein Stuhl und ein Tisch. Auf der Tischoberfläche sei ein besonders zierlicher Pilz gewachsen, den er mit einer raschen Handbewegung weggefegt habe. Das Fenster war sperrangelweit geöffnet und gab die Sicht frei auf die Katzenberge, die sich jenseits der Mulde ausbreiteten. Sie waren weitgehend kahl; an ihren Hängen wuchs nichts als Gestrüpp, und in den Senken breiteten sich Sümpfe aus. Das Schilf, das sie umgab, wiegte sich. Janeczko wandte den Blick ab und schloss das Fenster.

Der Wind hatte eine dünne Schicht Erde in die Küche geweht, die sich auf den Fußboden und den Tisch gelegt hatte. Keinen Fuß hatte er vor den anderen setzen können, ohne ganze Familien von Pilzen zu zerquetschen: gelbliche auf langen Stielen, orangefarbene Schwämmchen, bräunliche mit schleimigen Kappen.

Auf der Fensterbank lag eine Zeitung, die er mit spitzen Fingern aufgehoben und auf den Tisch hatte fallen lassen, auf die Stelle, wo vorher der Pilz gewachsen war. Großvater sagte, er habe nicht begriffen, was dort auf Deutsch geschrieben stand, aber auf der Titelseite habe eine polnische Flagge geweht.

Im Zimmer, das an die Küche anschloss, reichte der wilde Wein durch das geöffnete Fenster bis weit in den Raum hinein. Seine Ranken hielten das Kanapee und das Nachttischlein eng im Würgegriff. Draußen senkte sich bereits die Dämmerung über den Garten und die Weiden. Eigentlich hatte Janeczko noch den Keller und Dachboden untersuchen wollen, auch in der Scheune war er nicht gewesen, wusste nicht, was sich darin versteckte.

Als er aber vor dem Kanapee stand, reichte seine Kraft gerade noch dafür aus, die dicksten Ranken zur Seite zu schieben und sich auf das Blätterbett zu legen. Dann schlief er ein.

Großvater sagte, in der ersten Nacht sei er mehrmals aufgewacht, weil er sich sicher gewesen sei, auf dem Dachboden Schritte gehört zu haben. Kein Trippeln eines Tieres, kein zögerliches Suchen, Tapsen, sondern klare, feste Schritte eines bestiefelten Menschen: Erst das leicht knallende Aufsetzen der Absätze, dann das Auftreten und die Gewichtsverlagerung, die die Balken ächzen ließ. Ein Fuß vor den anderen sei da über ihn gesetzt worden; einmal, sagte Großvater, hätten die Schritte sogar den halben Dachboden durchmessen. Um sicherzugehen, dass er nicht träumte, hatte er sich in einem Sekundenbruchteil alle Gutsbesitzer seines galizischen Heimatdorfes aufgesagt, ausgehend vom ersten Hof am Fluss: Khmyelnyc'kyj, Koval'cuk, Ivancyk, Vasilen'ko, Piddubnyj, Romanyszyn. Großvater sagte: Als ich ein kleiner Junge war, hat mir meine Mutter anstelle des Vaterunsers die Namen unserer ukrainischen Nachbarn beigebracht.

Als er beim letzten ankam, Wojciechovich, und die Schritte noch immer zu hören waren, fuhr Janeczko hoch, löste sich von den Weinblättern und stand pochenden Herzens im Raum. Plötzlich waren die Schritte verhallt, still war es, nichts zu hören, weder auf dem Dachboden noch draußen auf den Feldern. Hatte er sich alles nur eingebildet? Das besonders starke Knallen der Absätze bei Ivancyk, das Knarren eines Balkens bei der letzten Silbe von Romany-szyn?

Großvater sagte, verloren habe er sich gefühlt, wie er dastand, mitten im Raum, und sich ernsthaft überlegte, zu den anderen ins Dorf zu gehen, in der Nacht, über die Felder. Was hätte er ihnen sagen können? Dass etwas umging im Hof am Waldrand? Abgesehen davon lagen die Felder noch in tiefem Schwarz, nur von Zeit zu Zeit gaben die Wolken den Vollmond frei. Misstrauisch setzte er sich zurück auf die Kante des Kanapees, entschlossen, nicht wieder einzuschlafen, sondern auf jedes Geräusch, jede Regung zu horchen. Es blieb still. In der Dunkelheit begann er, einige der jungen Weinblätter ineinander zu verknoten und schließlich zu gähnen. Irgendwann waren ihm die Augen zugefallen.

 

Nach ein paar Minuten war Janeczko wieder aufgewacht, weil er dachte, eine Stimme gehört zu haben. Blitzartig richtete er sich auf und sah draußen, auf dem Fenstersims, halb verdeckt vom Weinstock, eine Gestalt hocken.

In dem Moment brach der Vollmond durch die Wolken, und die Augen der zusammengekauerten Kreatur glühten auf. Janeczko machte rücklings einen Satz zur Wand und schrie aus voller Kehle: Jesus Christus!

Da sei das Ding verschwunden, sagte Großvater, weg gesprungen sei es, und im Mondlicht habe er deutlich gesehen, wie groß es war und wie lang und buschig sein pechschwarzer Schwanz. Das sei der Fluch gewesen, der über den Katzenbergen lag, sagte Großvater, und der ihn fortan heimgesucht habe. Obwohl es Janeczko gelungen war, das verzogene Holzfenster zu verriegeln, hatte er danach endgültig kein Auge mehr zumachen können.

Am Stand des Mondes schätzte Janeczko ab, dass es in Kürze dämmern würde. Bis dahin ging er im Zimmer auf und ab und dachte nach, über das Mal, das die Deutschen zurückgelassen hatten, den Ofen, den er verkacheln würde, und dass er morgen früh als erstes auf den Dachboden würde gehen müssen, wollte er jemals eine ruhige Nacht in diesem Haus verbringen. Von Zeit zu Zeit schickte er Blicke ans Fenster und an die Zimmerdecke, aber weder zeigte sich das Biest ein weiteres Mal, noch knarrten erneut die Balken über ihm. Großvater sagte, in jener Nacht sei er dem Wahnsinn ganz langsam, Schritt für Schritt, davongelaufen, und schließlich habe er sich in den Morgen hinübergerettet.

 

Als Janeczko im Dunkel des Zimmers die Umrisse seiner Hand erkennen konnte, stand er auf, schüttelte die Weinblätter von den Schultern, nahm sein Gewehr und ging Stufe für Stufe die Treppe zum Dachboden hinauf.

Spinnweben bedeckten die Wände, einzelne Fäden hingen von der Decke und kitzelten seine Ohren. Mit fahrigen Händen strich er sich über den Kopf. Er spannte seine Muskeln an, dann stieß er die Tür auf.

Unter dem Dach war noch Nacht. Es fehlten ein paar Dachziegel, die ersten Strahlen der Sonne drangen durch die Lücken und zerschnitten den Raum. Janeczko war im ersten Moment erstarrt, bereit, alles abzuwehren, was auf ihn einstürmen würde, aber nichts passierte. Seine Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel, und er erkannte tragende und stützende Balken, ein paar verlorene Möbelstücke, die gefangen waren in Staub und Gespinst. Von der geöffneten Tür drang ein Luftzug. Aus dem hinteren Teil des Speichers ertönte ein träges, fast gemütliches Geräusch. Janeczko kniff die Augen zusammen und trat ein.

Unter seinen Füßen ächzten die Dielen, er fühlte, wie das Holz nachgab, wenn er sein Gewicht verlagerte. Als er schon beinahe die Hälfte des Raumes durchschritten hatte, trat er auf eine Diele, die so laut quiekte, dass es klang, als sei er auf ein lebendiges Tier getreten. Er sprang zur Seite und hielt sich an einer Dachsparre fest. Als das Donnern seines Pulses verebbt war, ließ er sie wieder los. Mittlerweile war es so hell geworden, dass Janeczko auch in die Ecken des Dachbodens hineinschauen konnte, und ihm wurde etwas wohler. Unter einer Lücke im Dach, im Gegenlicht, hing etwas am Dachbalken. Vom Eingang aus hatte Janeczko es für einen etwas unregelmäßigen Stützbalken gehalten. Nachdem er näher getreten war, sah er, dass es unmerklich hin und her pendelte und dass der unregelmäßige Stützbalken ein vertrocknetes, eingefallenes Gesicht hatte, einen Sonntagsanzug trug und sich an einem Strick langsam im Durchzug hin und her bewegte.

 

Großvater sagte: Herr Dietrich hat sich mit Hut und Krawatte aufgehängt, aber seine Bauernstiefel hatte er nicht ausgezogen und gegen Sonntagsschuhe ausgetauscht. Klobiges Schuhwerk sei das gewesen, mit dicker Sohle und doppelt verstärktem Absatz. Der Hut sei ihm vom Kopf gefallen und habe dreißig Zentimeter unter ihm gelegen. Als Janeczko ihn aufhob, zerstob eine Mäusefamilie in alle Richtungen. Er ließ ihn wieder fallen und betrachtete den Mann. Blond war er nicht gewesen: Die Haare, die noch auf der Kopfhaut klebten, waren fast schwarz und reichten bis zu den Augenhöhlen.

Ich musste ihn loswerden, sagte Großvater, noch bevor ich Großmutter und den Kleinen holte. So habe er sich ein Herz gefasst und mit seinem Taschenmesser das Seil entzwei gesägt.

Mit einem dumpfen Laut fiel die Leiche zu Boden und blieb so liegen, wie sie vorher gehangen hatte, kerzengerade. Janeczko schlug das Jackett auf und befühlte die Innentasche. Er bemerkte etwas Hartes, griff hinein und zog ein Stück Papier und einen Ausweis heraus. Der Pass glich dem, den man ihm in Galizien ausgestellt hatte, nur, dass auf der ersten Seite kein „P“ prangte. Das Foto war herausgerissen, aber darunter sei deutlich der Name Dietrich zu lesen gewesen. Janeczko steckte beide Papiere zurück in die Innentasche. Dann durchsuchte er die Kommode und das Schränkchen, die auf dem Speicher standen, und fand darin eine zerfressene Decke, in die er Herrn Dietrich einwickelte und die Treppe hinunter trug.

 

Als Janeczko Herrn Dietrich abgelegt hatte, fiel sein Blick auf die Scheune. Mit weit ausholenden Schritten ging er auf sie zu und öffnete ihre meterhohen Torflügel. Nichts sollte ihn heimlich beobachten können, während er sich im Hof bewegte, nichts ihn belauern oder überraschen. Er atmete den kühlen, metallenen Geruch, der ihm entgegenkam.

Es war ihm angenehm, auf einem mit Zement ausgegossenen Fußboden zu gehen, alles deutlich erkennen zu können im Licht, das durch die geöffneten Torflügel fiel. Auf der rechten Seite sah er einen Holzhaufen, der bis unter die Decke aufragte. Janeczko ging hinüber, räumte ein paar Scheite hin und her, wog sie in seinen Händen, kletterte umher. In der hintersten Ecke bemerkte er schließlich etwas, das aussah wie ein kleines Kissen. Er verrückte ein paar Holzblöcke und schreckte zurück. Es war ein Nest, mit schwarzen Krähenfedern ausgekleidet, in seiner Mitte lagen zwei Schnäbel.

Großvater sagte, das sei das Nest des Biestes gewesen. Er habe kurz gezögert und dann die zusammengebundenen Weidenruten genommen, die an einer Maschine gelehnt hätten, und das Nest in alle Himmelsrichtungen zerfegt. Auch die Scheite, die es versteckt hätten, habe er genommen und sie auf eine der Maschinen gelegt. Später würde er sie zersägen.

Janeczko setzte sich auf die Verandastufen und starrte auf die zugedeckte Leiche. Als die Sonne auf seine Schultern brannte, stand er auf, bückte sich nach dem Hakenkreuz, das noch immer mit dem Gesicht nach unten vor der Tür lag, und steckte es zu Herrn Dietrich in die Decke. Dann holte er die Schubkarre und eine Schaufel aus der Scheune, hob den Körper in der Decke mitsamt dem Hakenkreuz hinein und machte sich auf den Weg zu den Katzenbergen.