Christopher Kloeble

Christopher Kloeble wurde 1982 in München geboren und lebt in Königsdorf und Berlin. Er studierte in Dublin, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München.

Der Text "Ein versteckter Mensch" wurde von Alain Claude Sulzer nominiert.

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Auszug aus dem Roman

Ein versteckter Mensch

von Christopher Kloeble

 

Ambrosisch

Am Himmel drifteten die letzten zwei Wolken aufeinander zu. Ein unscharfer Pfeil und ein puffiges, lilienweißes Etwas, das keinen Vergleich zuließ.

Weiter unten stand Albert, flankiert von seinen Koffern, vor einer Haustür in Königsdorf und betrachtete den Klingelknopf und traute sich nicht. An diesem Nachmittag hatte er über neunzehn Stunden Reise hinter sich, mit dem Nachtzug, der Regionalbahn und der Buslinie 479, deren Fahrer jede einzelne Haltestelle im Voralpenland, von Pföderl über Wolfsöd bis hin zu Höfen, angesteuert hatte, obwohl weder jemand ein- noch ausgestiegen war, und nun, da nur noch ein Stückchen fehlte, war Albert nicht sicher, ob er überhaupt ankommen wollte.

Seit sechzehn Jahren besuchte er Fred in den Ferien und an Wochenenden, anfangs in Begleitung einer Ordensschwester aus Sankt Helena, dem katholischen Waisenhaus, später allein, doch besonders nah waren sie sich nie gekommen. Fred nannte ihn immer nur Albert und Albert ihn immer nur Fred. Vater hatte er noch nie zu ihm gesagt. Als er fünf wurde – und Fred sechsundvierzig –, 1988, achtete Albert darauf, dass Fred seine Schwimmflügel trug, wenn sie Hand in Hand in den Baggersee sprangen. Mit Acht bezahlte Albert für Fred an der Kasse, weil er, im Gegensatz zu Fred, seine Finger nicht zum Ausrechnen des Wechselgeldes brauchte. Im Alter von dreizehn Jahren redete Albert Fred den Traum aus, Schauspieler zu werden. (Der diese Idee nur deshalb verwarf, weil ihm die Vorstellung Angst machte, bei der Arbeit beobachtet zu werden.) Mit Fünfzehn versuchte Albert, ihn aufzuklären, doch Fred wollte nicht darüber sprechen. Als Albert sechzehn war, achtete er noch immer auf Freds Schwimmflügel. Und bereits vor seinem achtzehnten Geburtstag fand Albert sich endgültig damit ab, dass ein Mann wie Fred, der nie in den Stimmbruch gekommen war und Fortpflanzung für Gärtnerarbeit hielt, ihn niemals als seinen Sohn betrachten, geschweige denn bezeichnen würde. Fred war eben Fred.

Die meisten Freunde von Albert waren nach dem Abitur in die Ferne geflüchtet. Australien und Kambodscha standen hoch im Kurs; wenn man von einer Reise nach Angkor oder ins Outback zurückkehrte, dann hatte man nicht nur zu sich selbst gefunden, sondern auch eine Vorstellung davon, was man mit seinem Leben anfangen wollte. Angeblich. Albert – der noch nie verstanden hatte, weshalb manche Leute annahmen, dass Antworten, die nicht einmal in nächster Umgebung zu finden waren, in der Ferne warten würden – war in Sankt Helena geblieben, unfähig, eine Entscheidung über seine Zukunft zu treffen. Weshalb er sich dazu entschlossen hatte, bei Fred einzuziehen, und was er sich davon erhoffte, wusste er auch noch nicht, als er an diesem Nachmittag vor Freds Haus stand, er wusste nur, was auch immer es war, ihnen blieb wenig Zeit dafür.

Die Finger einer manikürten Hand hatte ihnen der Arzt gezeigt, und Albert hatte sich gefragt, ob dieser das immer so mache, ob er die Monate, die seinen Patienten blieben, vorzugsweise mit seinen Fingern angab, um sich die Suche nach einfühlsamen Worten zu sparen. Fünf Finger. Albert hatte sie kaum beachtet, Fred an der Hand genommen und mit ihm das Krankenhaus verlassen und nicht auf die Rufe – wie auch später nicht auf die Anrufe – des Arztes reagiert.

Damit er nicht mit Fred sprechen musste, hatte Albert auf dem Weg nach Hause viel geredet, vor allem über das Wetter, in der Hoffnung, dass Fred die Geste des Arztes entgangen war.

„Wie viele hast du, Albert?“ hatte ihn Fred unterbrochen.

„Wie viele was?“

„Finger. Wie viele Finger hast du, bis du tot sein musst?“

Albert war stehen geblieben. „Das weiß ich nicht.“

„Warum nicht? Ich habe fünf. Ist das gut?“

„Das... das ist ziemlich gut.“

„Ich wusste es!“ Ein erleichtertes Lachen. „Du, Albert, ich wette, du hast total viele Finger.“

Am selben Abend war Albert abgereist, um sich seinen Abiturprüfungen zu stellen. Eine Pflicht, die er in Anbetracht der Neuigkeiten als mindestens ebenso lächerlich empfunden hatte wie seine Entscheidung, ihr nachzukommen.

 

Seitdem waren zwei Monate vergangen. Noch drei Finger übrig. Die Hitze drückte Albert gegen den Schädel. Entgegen aller Wetterprognosen verweigerte der Sommer bereits seit Wochen ein Gewitter. Der Rasen in Freds Garten war rostbraun, selbst das Zirpen der Grillen wirkte kraftlos, und die flirrende Hitze auf der Hauptstraße vor dem Grundstück spielte Alberts Augen Streiche.

Er senkte den Kopf, packte die Griffe seiner Koffer fest und stand regungslos da, als sich die Tür vor ihm öffnete und Fred auf dem Treppenabsatz erschien. Ein schlaksiger Zweimeterriese, der verlegen den Kopf neigte.

Sie starrten sich an.

„Albert!“ rief Fred mit seiner Knabenstimme, und ehe Albert wusste, wie ihm geschah, wurde er hoch gehoben und gegen Freds knochige Brust gedrückt.

„Hallo, Fred.“

„Du bist dick, Albert!“

„Danke. Siehst auch gut aus.“

Sie lächelten sich an, wobei Albert eher schmunzelte und Fred glücklich grinste.

„Sind wieder Ferien?“ fragte Fred.

„Nein, diesmal nicht. Diesmal bleibe ich länger.“

Fred sah ihn hoffnungsvoll an. „Bis wann?“

„Bis ...“, Albert wich seinem Blick aus, „solange es geht.“

„Solange es geht kann ganz schön lange sein!“ rief Fred fröhlich und klatschte in die Hände. „Das ist ambrosisch!“

„Wie bitte?“

„Ambrosisch, Seite elf“, tadelnd hob er den Zeigefinger, „du musst mehr Lexikon lesen, Albert.“

Dann riss er ihm die Koffer aus der Hand und marschierte ins Haus und Albert folgte ihm. In der Eingangsdiele blieb er stehen. Dieser zuckrige Duft von Freds Zuhause, der ihn in all den Jahren bei jeder Ankunft begrüßte, überrumpelte ihn jedes Mal.

Fred drehte sich zu ihm um. „Bist du schwach?“

„Nein“, Albert atmete tief ein, „es geht schon.“

Er hängte seine Jacke an einen Kleiderhaken neben Freds königsblauen Poncho, in dessen Kragen eine krakelige Handschrift warnte: Das gehört Frederick Arkadiusz Driajes! Derselbe Name klebte auch neben seinem Klingelschild. Niemand redete ihn mit seinem vollständigen Namen an, für die meisten war er einfach Fred, mit gedehntem e, ein Waisenkind im Rentenalter, das den halben Tag an Königsdorfs einziger Bushaltestelle verbrachte, um alle vorbeifahrenden grünen Autos auf der Hauptstraße zu zählen und zu grüßen. (Außerdem gab es noch ein paar Einfaltspinsel, die andauernd beim Hofherr im Biergarten herum hingen, eine Hand am Weißbierglas, behaupteten, er sei langsam im Kopf, und ihn Freddie riefen.)

Als Fred die Koffer vor der Treppe abstellte und ins verdunkelte, kühle Wohnzimmer vorausging, spürte Albert ein Déjà-vu auf ihn zukommen, genauer gesagt: das Déjà-vu von etlichen Déjà-vus. 

Sie würden sich zunächst auf eine abgewetzte, kirschrote Chaiselongue setzen, exakt dorthin, wo sie immer gesessen hatten, und egal, was er anfassen würde, tausende von Krümeln würden an Alberts Händen kleben bleiben, und das würde ihn daran erinnern, dass es nun statt des Pflegers wieder an ihm war, für mindestens eine warme Mahlzeit täglich zu sorgen, Schnürsenkel zu binden, auf ordentlich geputzte Zähne zu achten, das Haus sauber zu halten. Sein Blick würde auf die an der Wand befestigte Weltkarte fallen, auf der ein grüner Filzstiftkringel, der Königsdorf markieren sollte, Deutschland markierte, und er würde Fred fragen, wie es ihm ginge, worauf der natürlich antworten würde: „Ambrosisch“, was sonst, um Albert im nächsten Moment zu bitten, ihm aus seinem Lieblingsbuch, dem silbernen Lexikon, vorzulesen, wie er es schon oft vor dem Schlafengehen oder der Mittagsruhe getan hatte. Fred würde sich an ihn schmiegen, seinen Kopf auf Alberts Schoß legen, die Augen schließen, und er würde sich warm anfühlen, trotz der Hitze draußen angenehm warm, und Albert würde es nicht wagen, sich zu rühren, und das Lexikon aufschlagen und irgendwo beginnen, bei Billard etwa, und nicht weiter kommen als bis Bindehaut. Fred würde schnarchen und im Schlaf noch jünger aussehen als sonst, höchstens Mitte vierzig. Albert würde das Lexikon zuklappen, ein Kissen unter Freds Kopf legen und eine viel zu kurze Fließdecke über dessen viel zu lange Beine legen. In der Küche würde Albert etwas essen, seinen Magen mit dicken Scheiben Graubrot beruhigen, während er auf das von einem Sprung durchzogene und versiegelte Fenster über der Spüle blicken würde, dessen linke untere Ecke zwei Buchstaben zierten, von denen er weder wusste, wer sie geritzt hatte, noch wann, in denen er aber nichts anderes lesen konnte als die Initialen seiner Großmutter Anni Habom, sechs winzige Kratzer nach bester Zorromanier. Albert würde sich vorbeugen, die linke Hand auf die Spüle gestützt, und das Fenster anhauchen, und in die beschlagene Scheibe würde er seine eigenen Initialen neben die seiner Großmutter schreiben, AD, fingerdick. Und er würde sie verblassen sehen. Danach würde er sich in seinem Zimmer im ersten Stock vergewissern, ob in der Truhe neben dem Bett noch genügend von Freds Medikamenten vorhanden wären. Erst dann würde er sich von der durchgelegenen Matratze locken lassen und die Müdigkeit heran kriechen spüren und nicht einschlafen können.

Und genau so war es, obwohl sich Albert die ganze Zeit über sagte, er müsse etwas Besonderes empfinden, kein Déjà-vu, eher ein Première-vu. Schließlich kam er zum letzten Mal an.

 

Albert hatte kaum zehn Minuten auf seinem Bett gelegen, bleiern, leer und mit einem Tuch über den Augen, weil die Sonne durch die Vorhänge schien, als würde dieser Tag niemals enden, da platzte Fred herein: „Schläfst du?“

Albert winkte ihn zu sich – was blieb ihm anderes übrig –, und Fred ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen. Er hatte seinen Taucheranzug an, worüber sich Albert nicht wunderte, sondern darüber, dass er ihn trotz des hochsommerlichen Wetters trug. Gewöhnlich zog Fred den Taucheranzug nur unter seinen Klamotten an, um sich warm zu halten, wenn er im Regen an der Bushaltestelle stand. Fred hatte ihn von seinem Vater geerbt. „Ohne Mensch drin sieht er eklig aus wie die Haut von Weißwürsten“, lautete Freds Urteil. Manchmal füllte Albert die Badewanne mit kaltem Wasser, kippte eine Packung Salz dazu und verkündete: „Hier! Der Pazifik!“ Darauf sprang Fred im Taucheranzug in das Wasser, planschte herum wie ein betrunkener Frosch und beschwerte sich über das Brennen seiner Augen.

„Sag mal“, Albert betrachtete sein Kinn, „wann hast du dich eigentlich zum letzten Mal rasiert?“

Fred blinzelte. „Gestern.“

„Bist du dir sicher?“

Fred blinzelte wieder. „Total sicher.“

„Hast wohl ein paar Stellen übersehen.“

Blinzeln.

„Frederick...“ (Das war die Namensversion, mit der alles ein bisschen überzeugender klang, oder, wenn es sein musste, auch strenger.)

„Mama sagt, ich sehe gut aus!“

Anni brachte Fred besonders gern ins Spiel, um zu betonen, dass diese oder jene Meinung nicht etwa seinen Gedanken entsprungen war, sondern denen einer wesentlich höheren Instanz. Eine Instanz, die vor sechzehn Jahren das letzte Mal etwas zu Fred gesagt hatte. Albert war damals drei Jahre alt. Seine Erinnerung an sie konnte er kaum als solche bezeichnen, bisweilen kam es ihm vor, als würde er sie sich bloß einbilden, weil er zu oft die zahlreichen Fotos von ihr in Freds Haus betrachtet hatte, sein Gesicht mit ihrem vergleichend, auf der Suche nach Ähnlichkeiten.

Albert ahmte mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere nach und Fred  bedeckte seine stacheligen Wangen mit den Händen: „Mein Paps hatte einen blonden Bart!“

Glaubte man Fred, dann war Alberts Großvater Profitaucher gewesen, einer von nur fünfzehn Männern weltweit, die am Grund eines Ozeans in absoluter Dunkelheit ein Schweißgerät bedienen konnten, für Wartungsarbeiten. Als Fred kaum größer war als der Bauch, den er neun Monate bewohnt hatte, war sein Vater bei einem solchen Auftrag vom Sog einer offenen Pipeline erfasst worden und für immer im weitläufigen Netzwerk der Röhren verschwunden. Deswegen musste stets jemand für Fred das Klo spülen. Ihn regte das noch mehr auf als Rasieren: „Mein Paps reist jetzt ewig durch die Rohre und ist mal in Amerika, mal bei den Chinesen und irgendwann vielleicht auch in Königsdorf!“

Daran hatte sich Albert längst gewöhnt und fragte sich nicht mehr, wer Fred diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte.

 

Albert stand auf, ging ins Bad, steckte den Akkurasierer in die Steckdose, und als er zurückkehrte, war Fred weg. Nachdem Albert das ganze Haus abgesucht hatte, fand er ihn im Garten in dem BMW, der laut Fred einmal Freds Vater gehört hatte. Flitzer, nannte ihn Fred. Als hätte man ihn zu heiß gewaschen, ließ das Minzgrün des Lacks vermuten, dass der Farbton einst kräftig gewesen war. Der Reifengummi hing in Fetzen. Das Hupgeräusch konnte man bestenfalls als Quengeln bezeichnen. Die aufgerauten Lederbezüge rochen, fand Fred, lecker muffig wie er zwischen den Zehen. Ein leerer Blumentopf hielt die linke Hintertür in den Angeln. Der Zündschlüssel steckte immer.

Albert nahm Platz neben Fred, der im Schneidersitz am Steuer hockte. Seine Bartstoppeln glänzten im Sonnenlicht und das Lexikon ruhte in seinem Schoß. Er hatte es bei T aufgeschlagen. T wie Tod. Mit dem Zeigefinger deutete er auf die Abbildung eines Grabsteins aus Carraramarmor. „Krieg ich so einen?“

„Taubenweiß.“

Fred schüttelte den Kopf. „Schwanenweiß! Das ist noch schöner. Es muss ein sehr schöner Stein sein, Albert.“

„Abgemacht“, sagte Albert. „Ein schwanenweißer Grabstein für dich.“

Sie schwiegen eine Weile, und während draußen der Lärm vorbeirauschender Autos auf der Hauptstraße abflaute und sie ein letztes Mal von der Sonne geblendet wurden, bevor sie ins Moor tauchte, erinnerte sich Albert daran, wie er Fred auf dem Bürgersteig das Fahrradfahren ohne Stützräder beigebracht hatte. Albert war neben ihm auf- und abgelaufen, hatte ihn geschoben, angefeuert und nach jedem Sturz die aufgeschürften Knie mit Penatencreme verarztet und Krokodilstränen weggewischt, bis Fred am Ende der Ferien seine ersten stützräderfreien Meter rollte und der Fahrtwind ihm Freude ins Gesicht blies.

Damals war Fred neunundvierzig und Albert acht.

„Alle sagen immer, Sterben ist schlimm“, sagte Fred, der verträumt die Abbildung des Grabsteins betrachtete, „ich glaube das nicht. Bestimmt ist es ganz anders. Ich stelle es mir toll vor, wie eine Riesenüberraschung. Ich freue mich schon darauf. Am liebsten will ich zusammen mit dir sterben, Albert. Nur wird das ziemlich schwer. Ich bin schneller.“

Albert versprach ihm: „Werde mich beeilen“, und prompt strahlte Fred ihn an wie ein Kind – ein in die Jahre gekommenes Kind mit Tränensäcken, grauen Schläfen und winzigen Falten um den Mund.

„Mama sagt, wir gehören alle zur Geschichte der Liebsten Besitze.“

„Ist die Geschichte gut?“

Als hätte Albert eine unglaublich dumme Frage gestellt, lachte Fred: „Es ist Die Geschichte der Liebsten Besitze!“

„Und was soll das sein, ein Liebster Besitz?“

Fred schnaubte und verdrehte die Augen. Darauf streckte er seinen Arm aus, öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm eine verbeulte Blechbüchse, in der etwas klapperte. Beim Öffnen des zerkratzten Deckels beugte sich Fred über die Büchse und versperrte Albert den Blick, als wollte er sich zunächst vergewissern, ob das, was er erwartete, noch da war. Dann hielt er Albert einen kastaniengroßen Stein unter die Nase, der im Abendlicht metallisch glänzte. „Nimm!“

Seinen Gesichtsausdruck als stolz zu bezeichnen, wäre untertrieben gewesen.

Albert wog den Liebsten Besitz in der Hand, er war erstaunlich schwer und sah aus wie ein zusammengeknülltes, versteinertes Blatt sattgelben Papiers. Ihm kam ein abwegiger Gedanke, den Fred prompt aussprach: „Gold.“

„Echtes?“

Er flüsterte: „Mein Liebster Besitz.“

Auch wenn Albert anerkennend nickte und die Unterlippe vorstülpte, war er skeptisch. Der Stein in seiner Hand entsprach exakt seiner Vorstellung von Gold, und gerade das weckte sein Misstrauen.

Fred aber sah ihn erregt an, das Grün seiner Augen schimmerte wie das Wasser eines Teichs, von dem man nicht weiß, ob er tief genug ist, um hineinzuspringen.

Albert erwiderte seinen Blick und wünschte sich einmal mehr, er hätte Fred einfach eine Frage stellen und Fred sie ihm einfach beantworten können, ein stinknormales Gespräch, das wünschte er sich, bei dem Fred seine Worte so verstand wie Albert sie meinte, und am meisten wünschte er sich, all seine verfluchten Zweifel würden verfliegen und er könnte Fred glauben.

„Von wem hast du das?“ fragte Albert und gab Fred den „Gold- klumpen“ zurück.

Zufrieden verstaute Fred ihn wieder in der Blechbüchse. „Die Erde hat es ausgespuckt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er mit leuchtenden Augen hinzu: „Ich kann dir zeigen, wo!“

Wenn er Albert auf diese Weise ansah, schien ihm Fred noch fremder und vertrauter als sonst. Albert kannte ihn gut genug, um zu spüren, dass er ihn gar nicht kannte. Zumindest in der Hinsicht schien er ihm wie jeder andere Vater.

„Hm“, machte Albert.

„Hm“, machte Fred.

Im selben Moment gab der Hahn des Nachbarn sein gekrächztes Kikeriki zum Besten. Fred verzog das Gesicht, „der weiß nie, wann er aufhören soll“, und kurbelte das Seitenfenster hoch.

Albert tippte auf die stehen gebliebene Uhr neben dem Tacho. „Es ist spät. Das Sandmännchen ruft.“

 

Bevor Albert Fred ins Bett brachte, briet er ihm Rühreier mit Tomaten. Fred legte die Tomaten auf den Tellerrand, weil sie „überhaupt nicht gut schmeckten“ und Albert sagte „Iss deine Tomaten“ und Fred verschlang das ganze Ei, aber nicht die Tomaten, und Albert wiederholte „Iss die Tomaten“, und Fred spülte schnell den Teller ab, und Albert warnte „Du bekommst kein Honigbrot“, aber Fred schwor, nächstes Mal werde er die „gesunden Tomaten“ essen, worauf Albert ihm doch ein Honigbrot schmierte und sich bemühte zu überhören, wie Fred sich leise lobte: „Das war ein guter Trick.“

Alberts bester Trick war, die Medikamente unter Freds Essen zu mischen, ohne dass er es merkte.

 

In dieser Nacht fand Albert keinen Schlaf. Er betrachtete einen fingernagelgroßen, sternförmigen Leuchtaufkleber auf dem Balken über ihm. Den hatte er, als er jünger gewesen war, jeden Abend solange angesehen, bis ihm die Augen zugefallen waren, er hatte es als tröstlich empfunden, dass dieses winzige Licht für ihn leuchtete, trotzig gegen die Schwärze einer Nacht auf dem Land anleuchtete.

Während Freds säuselndes Atmen durch das Babyfon auf dem Nachttisch drang, zog Albert sich einen Bademantel über und schlich in den Garten. Draußen steckte er sich eine Zigarette an. Rauchen konnte er nur zu später Stunde riskieren; Fred hatte ihn ermahnt „Rauchen macht tot!“, und Albert wollte ihn nicht unnötig beunruhigen. Der Qualm verlor sich in der Nacht. Als sein Blick auf den BMW fiel, schnippte er die Kippe über den Gartenzaun; sie flog in hohem Bogen auf die Hauptstraße wie ein abstürzendes Glühwürmchen. Albert trat gegen den Kotflügel und erwartete, dass es wehtun würde, doch er spürte kaum etwas. Dieser Kotflügel schien wie geschaffen, von ihm getreten zu werden, er probierte es noch einmal mit dem anderen Fuß, und schlug zusätzlich auf die Motorhaube, hieb mit beiden Fäusten auf sie ein. Er hoffte, jemand würde vorbeikommen und versuchen, ihn aufzuhalten, dann könnte er denjenigen verprügeln, oder verprügelt werden, das war ihm egal. Aber niemand kam.

Außer Atem ließ er sich in den Beifahrersitz des Flitzers fallen. Das Handschuhfach klappte von allein auf, und er nahm die Blechbüchse und stellte sie auf das Armaturenbrett. Das schmeichelnde orange Licht der Straßenlaterne kaschierte einige ihrer Beulen und verlieh ihr einen kupferartigen Glanz. Albert wäre es lieber gewesen, sie hätte keinen glänzenden Stein enthalten, sondern handfeste Hinweise, Erinnerungsstücke, mit denen er etwas hätte anfangen können, ein Tagebuch von Anni etwa, oder Familienfotos, oder wenigstens irgendwelche Dokumente. Er hatte unendlich viele Fragen, und die einzige Hoffnung auf Antwort war Fred.

Albert betrachtete die Finger seiner linken Hand. Eine kleine, leise, schrumpfende Hoffnung.

Aus einem unbestimmten Bedürfnis heraus öffnete er die Blechbüchse und nahm das „Goldstück“ in die Hand. Er entdeckte eine Audiokassette am Boden der Büchse; auf einem angegilbten Klebestreifen stand: Mein Liebster Besitz. Der schnörkelige Schulmädchenstil entsprach mitnichten Freds krakeliger Handschrift. Albert holte den batteriebetriebenen Kassettenrekorder aus dem Haus, auf dem Fred und er gelegentlich Benjamin Blümchen Episoden abspielten. Eine Zeit lang war Fred ganz versessen gewesen auf die Folge, in der der Elefant glaubt, Schauspielerei bedeute, man lügt. Wieder und wieder hatte er sie abgespielt, zuweilen zehn Mal an einem Tag, bis Albert sich nicht mehr anders hatte helfen können, als die Episode heimlich zu vernichten.

Er fütterte das Kassettenfach, schob den Knopf von OFF auf ON und sah das rote Lämpchen neben der Minutenangabe aufleuchten.

Albert drückte PLAY. Zuerst ein Knistern. Dann, langsam anschwellend, ein Rauschen, das ihm irgendwie bekannt vorkam, und fordernd. Es hörte sich an wie ein Schweigen. Er suchte darin, spulte vor und zurück, legte sein Ohr auf die Lautsprecherschlitze und überprüfte A- und B-Seite.

Nichts.

Er kletterte über die Mittelkonsole und setzte sich ans Steuer, nahm einen von Freds Kalendern aus dem Seitenfach in der Tür und schlug ihn auf. Mit der Hand fuhr er über eine magentafarben bekritzelte Seite, die süßlich roch wie die Luft im Haus, und spürte die leichten Unebenheiten der von Fred in das Papier gedrückten Notizen. Montag, 24.5.2002: 76 grüne Autos, 8 grüne LKW, kein grünes Motorrad. Dienstag, 25.5.2002: 55 grüne Autos, 10 grüne LKW, 2 schöne grüne Motorräder, 1 grüner Traktor. Mittwoch, 26.5.2002...

Albert warf den Kalender auf die Rückbank, fuhr die Lautstärke hoch, versteckte sich in dem Rauschen vor dem Gedanken, dass er niemals eine richtige Familie haben würde, und spürte das Gewicht von Freds Gold in seiner Hand.

Dann drückte er EJECT. Das Kassettenfach sprang auf. Albert steckte Kassette und „Goldstück“ zurück in die Blechbüchse, und warf diese in den Müll, als er zurück ins Haus ging. Er betrat Freds Zimmer, knipste das Licht an, weckte ihn.

„Morgen gehen wir ins Krankenhaus.“

Fred rieb sich umständlich mit den Daumen die verschlafenen Augen. „Aber Albert, ich muss dir zeigen, wo das Gold herkommt!

Albert sagte: „Frederick.“

Fred biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf. „Du hast es versprochen!“

„Halt den Mund“, sagte Albert.

Mit einem Satz war Fred über ihm, packte seine Hand und drückte zu.

Im ersten Moment spürte Albert nichts, er wollte die Hand wegziehen, sie war wie fest gefroren, umsonst bemühte er sich mit der anderen, Freds Griff zu lösen. „Lass. Los.“ Freds Haare verdeckten seine Augen, stumm öffneten und schlossen sich seine Lippen. Der Druck nahm zu, Alberts Fingernägel bohrten sich in seine Handfläche, und der Schmerz verschmolz mit einer Taubheit, die Alberts Arm entlang wanderte. Kurz bevor sie seinen Ellbogen erreichte, stemmte er sich mit ganzer Kraft nach hinten. „Fred, hör jetzt auf!“ rief er, und erst da ließ Fred los und Albert fiel auf den Rücken und prallte mit dem Kopf gegen die Bettkante. So schnell er konnte stand er auf und rannte ins Badezimmer. Dort schloss er sich ein und begutachtete seine dunkelrot angelaufene Hand, bewegte einen Finger nach dem anderen. Gebrochen schien sie nicht. Er vermied es, in den Spiegel über dem Waschbecken zu blicken, und horchte ins Haus. Schweigen drang durch die Tür. Einhändig steckte er sich eine Zigarette an. Ihm war heiß, er zog sein Hemd aus, verfing sich darin, der Stoff wollte nicht loslassen, er schleuderte es auf den Boden. Eine Weile stand er unschlüssig da und zitterte. Auch ohne nachzusehen wusste er, von allein würde sich Fred nicht vom Fleck rühren. Einmal hatte er fünf Tage ohne Essen im Flitzer verbracht, wegen irgendeiner Bagatelle, an die sich Albert nicht erinnerte, und er hätte noch länger ausgeharrt, wäre Albert nicht auf ihn eingegangen, Fred war mindestens so stur wie Albert, und gerade weil Albert ihn holen musste, wollte er es nicht. Er drückte die Zigarette im Waschbecken aus. Nun war es Fred gelungen, dass er sich kindisch fühlte. Albert setzte sich auf den Rand der Badewanne, schloss die Augen und stellte sich vor, Fred würde ihn holen, wenigstens einmal, Fred würde klopfen und sich entschuldigen, und sie würden, durch die Tür, über alles reden, und lachen, sie würden viel lachen, und irgendwann würde sein Vater ihn bitten, die Tür zu öffnen, und Albert würde das tun.