Antonia Baum, D
Geboren 1984 in Borken, lebt in Berlin. Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte. Veröffentlichung verschiedener Kurzgeschichten in der Wochenzeitung Der Freitag und bei Zeitonline.
Nach Klagenfurt eingeladen wurde Antonia Baum von Juror Hubert Winkels.
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Antonia Baum
Vollkommen leblos, bestenfalls tot
Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.
© 2011 Antonia Baum
Die Stadt hat viele Städte in sich, aber bei Nacht ist sie eine andere, man geht in ihren Bauch.
Einmal sah ich da einen, der inmitten der rotbeleuchteten Menge saß und seinen ganzen Unterarm zwischen den Beinen einer Frau versenkte.
Mit der freien Hand notierte er Stichpunkte in ein zerlesenes Buch, denn er war Schriftsteller.
Sein Blick wechselte eilig zwischen seinem Unterarm und dem Buch, das auf dem erschütterten Bauch der Frau lag, die sich über seine Faust aber sehr zu freuen schien.
„Was schreibst du da auf?“, fragte ich.
Der Mann schwitzte und hatte verwirrtes Haar. Er schrie gegen die Musik, dass er mich später per Textnachricht informieren werde, ich könne aber auch im Netz nachgucken, wenn es wirklich so dringend sei.
Schnell wollte ich mich durch die Menschen wegschieben, um weiter zu trinken, da nahm der Schriftsteller mein Ohr und sagte tropfend: "Keine Geschichten, nur Bedeutungsloses. Aber ich kann nichts dafür. Wäre ich arm, wäre ich ein Ali, würde irgendjemand eine Bombe auf mich werfen, mich wenigstens diskriminieren oder meine Menschenrechte verletzen, glaub' mir, es wäre ganz anders."
1
Meine Eltern hätten sich nie kennenlernen dürfen.
Meine Eltern heißen Carmen und Götz, und diese zwei Menschen hätten sich nicht begegnen dürfen. Tatsächlich, denke ich und schmeiße meine Zigarette auf das Garagendach, müsste ich sie richtigerweise als Elternteile, sozusagen als Einzelteile bezeichnen, denn ich kann sie nicht mit gutem Gewissen in ein und das selbe Wort, in das Eltern-Wort, stecken, das ist für sie eine Zumutung und für mich eine Lüge, es ist ganz einfach unpassend und je länger ich darüber nachdenke, desto unpassender finde ich es, denke ich, setze mich wieder an den Schreibtisch und versuche zu lernen.
Es ist zu laut. Geschiedener als meine Elterneinzelteile kann man nicht sein, jahrelang haben sie sich gegenseitig mit haarsträubenden Scheußlichkeiten vor Gericht gefoltert, bis kein Anlass mehr übrig war, wegen dem sie sich hätten verklagen können, dann erst wurde es still um ihre auseinandergenommene Unglücksehe und was geblieben ist, ist ein Familienrest, ein asozialer, wie ich in diesem Augenblick wieder einmal denken muss, ein asozialer Familienrest mit Geld, der mich mit seinem Geschrei bis unter das Dach terrorisiert.
Familien sind übergriffig, ansteckend sind sie, denke ich. Unten kreischt Astrid. Astrid, die sich ohne nachzudenken an meinen Vater drangeheiratet hat, schreit auf ihn ein, der gerade von irgendwoher zurückgekommen ist und sowieso nicht zuhört, wer ernsthaft denkt, Götz höre zu, muss im Kopf vollkommen verstellt sein, denke ich, vor dem Hitler-Stalin-Pakt sitzend. Sie streiten lauter, ich sollte runter gehen und um Ruhe bitten, aber ich versuche weiter zu lesen, denn ich will. Raus, morgen die letzte Abitur-Klausur, dann bin ich raus.
Unten knallt eine Tür, ich springe auf und stehe vor meiner Zimmertür, drehe mich aber doch wieder um und gehe zum Fenster, setze mich auf die Fensterbank, rauche, atme und denke, das Rauchen auf der Fensterbank hat dir schon tausend Mal das Leben gerettet, ja, denke ich, ohne das Indenhimmelgucken und das Rauchen auf der Fensterbank wärst du nämlich längst von der Fensterbank runter gesprungen, denke ich und blase Rauch zum Himmel, der hinter den Bergen weitergeht.
Das Gekreische von Astrid bohrt sich hinter mein Ohr. Ganz kalt wird einem davon, wie einem hier überhaupt kalt wird, über kurz oder lang wird es einem eben immer kalt, denke ich. Vermutlich streiten sie über die neue Kollegin, die mit dem gerade geschäftsverreisten Götz auf Geschäftsreise war und die Astrid eifersüchtig macht.
Die letzten beiden Tage ist sie deswegen durch das Haus gelaufen wie ein verwundetes Reh und sie hat mir Leid getan. Astrid tut mir Leid, Götz tut mir Leid, Carmen tut mir Leid. Ich will alleine sein.
Das war gestern Mittag. Astrid hat getrauert und früh das Weintrinken angefangen, man weiß ja nie bei ihr und ich habe mich also vor sie gesetzt.
Ich habe ihr die Hand gestreichelt und verständnisvoll genickt, obwohl wir sonst im Umgang eher reserviert sind. Sie hat mir die Hand zurückgestreichelt, sie hat an ihren Perlenohrringen gedreht, die ihr Götz als Liebesbeweis kaufen musste und dann kam ein Ausbruch. Sie weinte, sie versteckte ihr tränendes Gesicht hinter immer neuen Taschentüchern, die sie zerpflückte, und aus den Taschentuchresten bildete sie gleichgroße Häufchen, auf denen sie ihren zitternden Blick abstellte, während sie mir erzählte vom rück-sichts-losen Götz, den man verständlicherweise rück-sichts-los findet, wie Carmen sagen würde, weil dein Vater hat eben noch nie was anbrennen lassen, hat sie oft gesagt, als sie noch hier war und auch später, von der Toskana aus am Telefon, hat Carmen es immer weiter gesagt und wahrscheinlich, denke ich am Fenster, hat sie es auch schon immer gewusst.
Sie hat es schon immer gewusst und es geht mir nicht in den Kopf, wie man sein Leben so machen kann, wie man es sich bei vollem Bewusstsein mit offenen Augen zur Katastrophe verunstalten und in sie hineinrasen kann. Zur Ehefrauen-Katastrophe, denke ich über Carmen und Astrid, zur Arbeits- und Mitmenschen-Katastrophe, denke ich über Götz und sie alle drei betreffend, denke ich:
zur Lebens-Katastrophe, zur Menschen-Karambolage, zum totalen Personen-Schaden.
Als Astrid leer geweint war, lag um sie herum ein Halbkreis aus Taschentuch-Häufchen. Ich streichelte ihr nochmal die Hand.
Sie stand auf, räusperte sich etwas verschämt und machte dann in der üblichen Astrid-Stimmlage eine übliche Astrid-Aussage über eine übliche Astrid-Tätigkeit, die sie umgehend ausübte: Sie putzte das Haus, die Badezimmerspiegel, die Vorhänge, den Garten, und ich ging in mein Zimmer, das ich so schnell es geht verlassen werde, denke ich jetzt. So schnell es geht, werde ich dieses Haus verlassen, das für mich tote Haus, das Astrid tot gemacht hat, durch ihren Einrichtungskatalog-Wahnsinn hat sie es abgetötet.
Polster, Stehlampen, Buchdeckel-Arrangements auf Beistelltischen, alles farblich aufeinander abgestimmt und überall Bilderrahmen, in denen Astrid Bilder von angeblich glücklichen Menschen, nämlich von sich, Götz und mir, eingesperrt hat. Die Bilder in den Bilderrahmen wurden von ihr aber nur aus einem Grund im ganzen Haus verteilt, nämlich, um Besuchern und sich selbst vorzugaukeln, hier wohnten glückliche Menschen, was natürlich gelogen ist, denn in diesem Haus ist kein Mensch zu keinem Zeitpunkt jemals glücklich gewesen, denke ich, noch immer am Fenster stehend. Systematisch hat Astrid das Haus mit der Buchdeckel-Beistelltisch-Bilderrahmen-Einrichtungsglasur überzogen, dem dickflüssigen Einrichtungssirup, der Schuld daran ist, dass man hier nur in Zeitlupe gehen kann, denn man ist ja an dem Einrichtungssirup festgeklebt und hat also die größte Mühe sich zu bewegen. In unserem Bewegung verunmöglichenden Haus klebt aber nicht nur die ganze Einrichtung, es klebt auch die Luft, die Hausluft, in der wir uns täglich aufzuhalten haben, ist ein grauer Kleister, durch den jedes Wort schwer und ewig fällt, ein Kleister, in dem jedes Wort auszusprechen weh tut, weil man es jahrelang fallen und andere erschlagen hört, ein Kleister, durch den man sich aggressiv durchkämpfen muss, anders kommt man nicht vom Fleck. Es wird hier deswegen allgemein gekämpft. Man geht und schlägt sich gegenseitig, weil einem nichts anderes übrig bleibt, man kann ruhig sagen, man geht ununterbrochen schlagend durch den Unterhaltungs-Kleister über den von Astrid überall verteilten und dazwischen geschmierten Einrichtungssirup, an dem das Haus am Ende erstickt ist, so ist Leben in diesem Haus, so sind die Tatsachen.
Das Haus lag aber ehrlich gesagt schon im Sterben, als nur Götz und ich drin gewohnt haben, denke ich, eigentlich auch, als Carmen noch drin war, da war der Zersetzungsprozess längst fortgeschritten. Die Zersetzung hat genau genommen ja schon mit der Familiengründung eingesetzt, muss man fairerweise sagen, aber als Astrid gekommen ist, ist das Haus dann endgültig seinen Erstickungstod gestorben und mit ihm ersticken Astrid, ich und mein Vater, der aber sowieso schon tot ist, denke ich an meinem Fenster. Er ist tot, für mich ist er das, wie Carmen auch, meine Eltern sind tot für mich. Als Eltern sind sie das, als Götz und Carmen gibt es sie natürlich weiterhin, aber als Eltern sind sie tot, sie sind als solche nie geboren worden oder sie haben sich selbst umgebracht, was weiß ich.
Es ist zu laut, jetzt gehe ich runter, ich muss, denke ich und stelle mich vor der Zimmertür auf, von der ich mich aber gleich wieder abwende. Ich will das nicht sehen, denke ich, ich will mich nicht in ihre schlechte Beziehungssituation reinstellen.
Ich atme und stehe und gehe zurück zum Schreibtisch und dem Hitler-Stalin-Pakt, vor den ich mich setze, um weiter zu machen. Ich lese, ich notiere, ich kriege Kopfschmerzen und darf nicht denken. Nur noch heute Abend und morgen denke ich nicht, dann wird für immer Schluss sein mit dem blödsinnigen Auswendiglernen von Pakten, denke ich. Und es wird vor allem für immer Schluss sein mit allem anderen, was viel schlimmer ist, denke ich und starre auf den Hitler-Stalin-Pakt. Es wird Schluss sein mit der Angst-Anstalt, der Terror-Anstalt, der Schule, auf deren Terror-Fluren immer Angst vor der Zukunft verbreitet wurde, die ich dann auch bekam, je länger ich über die fensterlosen Terror-Flure habe gehen müssen, desto mehr Angst bekam ich, aber am größten war die Angst, die verbreitet wurde in den Klassenzimmern, den Angstzentralen, in die die Terror-Flure geradewegs geführt haben. In den Klassenzimmern haben sie uns jahrelang terrorisiert mit ihren Einschüchterungs-Parolen über die Zukunft und über Berufe mit beziehungsweise ohne Zukunft und wenig Zeit, das haben sie immer wieder gesagt, dass wir keine Zeit haben und uns beeilen müssen mit den Versetzungen, die zu einem schnellen Abitur, zu einem Abitur in zwölf Jahren, führen, für das wir gute Noten und einen guten Schnitt erwirtschaften müssen und danach sofort den Bachelor und dann den Master anfangen beziehungsweise bereits beendet haben müssen, ohne Zeit zu verlieren, wie sie im Zukunftsunterricht uns immer wieder vermittelt haben und Zukunftsbroschüren haben sie ab der dritten Klasse fast täglich verteilt und den Zukunftsuntericht haben sie erteilt in Arbeitsmarkt, Ausland, Disziplin, Flexibilität, Praktika, Wirtschaftskrise und diese Zukunfts-Besessenheit, denke ich jetzt vor dem Hitler-Stalin-Pakt sitzend, muss sich die gesamte Lehrerschaft aus der Zeitung angelesen haben oder sie hat sie von irgendwelchen Ministerien ins Ohr gesetzt bekommen, ja, denke ich, die gesamte Lehrkörperschaft muss einen kranken Zukunfts-Floh im Ohr sitzen haben, jedenfalls, habe ich zu meiner Freundin Lisa oft gesagt, bekommt man von diesem Dorf nicht von alleine so eine nervöse Zukunfts-Krankheit wie die Lehrkörper sie haben, wo doch hier gar nichts Zukunft ist, sondern immer alles gleich und langsam, habe ich weiter zu Lisa gesagt, die mit den Achseln gezuckt hat, die schon immer nur mit den Achseln gezuckt hat, erinnere ich mich jetzt, vor dem Hitler-Stalin-Pakt.
Herr Wolf war derjenige, dessen Lehrkörper am schlimmsten von der Zukunfts-Krankheit befallen war und der den größten Aufwand betrieben hat, sie auf uns zu übertragen. Er hat immer da gestanden und gesagt, dass wir uns beeilen müssen, dass wir uns breit aufstellen müssen und in der nächsten Stunde hat er, von seiner Krankheit vollkommen schwachsinnig geworden, das komplette Gegenteil behauptet: Wir sollen unser Spezialgebiet finden, hat er im Klassenzimmer durchgesagt, und einmal hat mein Freund Julian in seinem Törless oder sonstwo gelesen, aus Protest gegen den kranken Lehrkörper hat er das getan, im Gegensatz zu den anderen, die sich ganz ohne Widerstand haben anstecken lassen, aber beim Anblick des lesenden Julian ist dem Wolfs-Lehrkörper der
nervöse Geduldsfaden gerissen, der lesende Julian wurde vom Wolfs-Lehrkörper sofort in der Stunde aufgegriffen, also dran genommen und da fragte der Lehrkörper also Julian, wie sein Zukunftsplan aussehe, und Julian sagte lange lange nichts und dann, er wolle Theaterwissenschaften oder Soziologie studieren und da gluckste der Wolfs-Lehrkörper doch tatsächlich und lachte: Und was willst du damit anfangen? Taxi fahren. Ha Ha, so hat das menschenverachtende Zukunfts-Regime in Form von Herrn Wolf gelacht, der sich nicht geschämt hat, dem Klischee des dummen Einschüchterungs-Lehrkörpers derart perfekt zu entsprechen, erinnere ich mich jetzt von meinem Schreibtisch aus. Nein, das Zukunfts-Regime, das von ihm Besitz ergriffen hatte, lachte ganz unverhohlen aus ihm heraus, denke ich und er lachte auch über mich, denn ich wollte Julian nicht alleine lassen und habe gesagt: Herr Wolf, ich will das auch, oder ich gehe auf die Schauspielschule, habe ich gesagt und er lachte nur und sagte nichts, fuhr einfach weiter mit seinem miserablen Zukunftsuntericht fort, denn zu mir sagt er schon lange gar nichts mehr, nein, er glaubt, ich brauche keinen Zukunftsuntericht, denn seiner Meinung nach habe ich keine Zukunft, weil ich, wie er in der gesamten Lehrkörperschaft immer verbreitet oder besser: gestreut hat, nicht für das Gymnasium geeignet bin. Jetzt schreit Astrid, immer spitzer, gleich wird sie anfangen Götz zu beschimpfen, ich höre, sie weint wohl. Ich habe Wut im Mund. So fest reingebissen, dass ich das Rot schmecke, und ich sollte auf meinem Stuhl sitzen bleiben.
Ans Fenster, Kopf in die Luft, noch eine Zigarette. Oben hängt der von den Bergen angefressene Himmel, unten liegt die Straße still im Laternenlicht. Ein Straßenärmchen, diese Straße, und daran klebt der Dorfbushaltestellenkasten, der mich jetzt und täglich mit seinem traurigen und zugleich lächerlichen Aussehen quält und an dem ich nicht mehr warten will, weil ich warte ja genau genommen nur und am allerhäufigsten habe ich immer an dem traurigen und zugleich lächerlichen Dorfbushaltestellenkasten warten müssen. In die Stadt, raus hier, denke ich.
2
Die Stadt hat viele Städte in sich, aber bei Nacht ist sie eine andere, man geht in ihren Bauch. Man muss wissen, wie man reinkommt und es war Patrick, der mir geholfen hat, ihn zu betreten. Patrick, bei dem ich jetzt wohne, und vor dem ich wieder mal auf der Flucht bin, durch den Bauch rennend flüchte ich vor ihm, der mich besitzen will, der es sich in seinen verbeamteten Zwangskopf gesetzt hat, mich zu besitzen, in seiner Beamten-Designwohnung will er mich haben und zu den Möbeln dazu stellen als ein weiteres Möbel, das ihm das Betrachten schöner macht, so ist Patrick, denke ich und heute will Patrick, dass ich ein Fest, das wicht-ig-ste Fest im gan-zen Jahr, wie er sagte, neben ihm stehend verbringe, es ist wichtig, hat er mir heute wieder und wieder erklärt, seine ganze dumme Branche ist zugegen, auch Sue, weswegen er mich unbedingt als die Neben-Patrick-Herumstehende benötigt. Unter dem Vorwand etwas zu trinken zu holen, habe ich mich davonstehlen können und renne, die Lichter atmend, trinkend, man sollte immer betrunken sein, denke ich und trinke, trinke und suche Jo, durch den Fest-Bauch laufend.
Über die Zustände im Bauch führt niemand Aufsicht. Alles ist versperrt von Menschen und Armen, die etwas brauchen und es wird hier unten immer irgendeine Sensation gemacht, auf die eine noch größere folgen soll und die Menschen rufen sich unentwegt Urteile über das Ausmaß der Sensationen zu.
Am Tag geht man aus allen Häusern heraus zu anderen Häusern durch die Straßen einer Arbeit nach und in der Nacht sucht man sich hier unten Sensation. Ich habe die erste Nacht ganz ausgetrunken und ich habe auch alles, was danach kam ausgetrunken, bis fast nichts mehr von mir übrig war. Hier waren also die Menschen, die auf den Straßen eilten und nie anhielten, die sich aber auch hier unten nie zu erkennen gaben und immer verschwanden. Aber dann kam einer, der mich in seine Arme nahm. Es war dunkel, er trug eine schmale Maske vor dem Gesicht, es war eine Bühne, wir haben uns um uns gedreht. Seine Zähne waren wie Häuser, auf seiner Haut fühlte ich Striemen und es war ein ständiges Ziehen und Zerren um uns herum und ich nahm ihn ganz fest bei der Hand, damit er mir nicht verloren geht. An seinem Hals fand ich einen Geruch, den ich mir aufgehoben habe — dafür gibt es kein Wort, er war weich und fest und ich wollte, ich wollte!
Ich wollte seinen Namen wissen, aber verstand ihn nur schlecht, ich verstand Jo. Er war dann weg und es ist meine einzige Hoffnung ihn hier, irgendwo im Bauch, wieder zu finden. Auch jetzt suche ich ihn, Jo und plötzlich steht Patrick da. Mit einem Getränk in der Hand steht er lauernd da und sucht mich in den vorbeiziehenden Köpfen, nichts anderes tut er, als in der Menge wie ein Besessener nach meinen Kopf zu fahnden. Er winkt mich zu sich. Patrick denke ich und bewege mich widerwillig auf ihn zu, ist gefährlich und hat das Potential zum Psychopathen und mit ihm, dem Psychopathen, habe ich einen Vertrag.
Patrick, der in seinem langweiligen Computer lebt, Patrick, der in seinem Computer-Gehäuse ein kleines, entzündetes Herz trägt, das ihn verrückt macht und dauernd übers Ohr haut, denke ich neben ihm stehend und will weg, um Jo zu finden, bin aber gezwungen, neben Patrick zu stehen, der nun meine Hand nimmt und dabei in seinem Kopf nur einen einzigen Befehl hört, nämlich mich festbinden.
Patrick: Anfang dreißig, Art Director, viel Arbeit, irgendein Gesicht mit schwarz geränderter Brille.
Flüssig, durchsichtig, kastriert.
Dass ich bei ihm eingezogen bin, war der größte Fehler, denke ich jetzt, während er meine Hand fest in seiner hält und auf mich drauf lächelt. Er steht neben mir, in dunkelblaues Licht getaucht, sein Körper wird von der Musik angeschubst, tatsächlich schläft er, wenn aber ein beruflicher Kontakt vorbeigeschwommen kommt, knipst er kurz sein Gesicht an, macht ein paar Sätze und dann schläft er weiter. Schlafend hält er meine Hand umklammert und wacht darüber, dass ich mich nicht von der Stelle bewege. Seit seine Freundin, seine Ex-Freundin Sue nicht mehr bei ihm wohnt, kann Patrick nicht mehr schlafen, wie ich erfuhr, als ich ihn einmal nachts in seiner Küche antraf, die er zuvor sortiert und geputzt hatte, wovon ich wach geworden war.
Damals in der Küche wollte ich ihn sofort betreuen, denn wenn einer Schlafprobleme hat, kann er ja kein ganz Toter sein, dann muss man ihm helfen, dachte ich und redete auf die dilettantischste und selbstgefälligste Psychologentochterweise durch die Küchennacht hindurch auf ihn ein, ja, man kann sagen, bald hatten die Küchennacht, wie auch ich, einen Heiligenschein und dann legten wir uns alle zusammen in sein Bett, wo er tatsächlich neben mir, meine Hand haltend, einschlief, was mich damals rührte und heute wütend macht, immer wieder, denn ich lege mich ja immer wieder neben ihn und ich werde jedes Mal wieder wütend, immer wütender, bald wird das Bett explodieren und in Flammen aufgehen. Er kann nicht mehr schlafen, denke ich, und deswegen hat er sich Ersatz verschafft, mich hat er sich verschafft als den Sue-Ersatz-Menschen, der seine Wohnung mit Geruch und Stimme füllt. Der wahre Grund seiner Schlafprobleme ist nämlich nicht Sue, Sue ist ganz egal, die hat er auch nur ersatzweise gewollt, nein, der wahre Grund der Schlafproblematik ist die Krankheit des Alleinseins, von der er regelmäßig aufgefressen wird, die ihn eigentlich längst verschlungen hat, wie ich immer wieder feststelle, seit ich sein Leben beobachte, welches aus Arbeit, Produkten und Einladungen und noch mal: aus Arbeit, Produkten und Einladungen besteht. Patrick, denke ich und betrachte ihn von der Seite, seine egale Nase, den egalen Mund, das ganze egale Gesicht, Patrick fährt in einem ferngesteuerten Spielzeugauto sitzend durch die Welt und in einem der Regale hat er mich entdeckt. Er hat mich entdeckt, rausgenommen und eingekauft und ich, muss man ganz deutlich sagen, habe mich kaufen lassen, denn ich brauche Zukunft und Patrick braucht in seinem Weltgehege eine, die herum steht, so ist der Handel. Diese Herumstehende ist nicht irgendeine, nein, sie ist eine, die farblich passt; sie hat unbedingt eine zu sein, die man vom Zaun aus sehen darf, denke ich und sehe Patrick sich am eingezäunten Kopf kratzen, dem Kopf, in dem er nun mal zum Leidwesen aller Beteiligten drin steckt.
Ein Mädchen, keine Frau, ein Mädchen also, das man vom Zaun aus sehen darf, denke ich, ist Patricks Vorstellung nach eines, das unterhalb der Wimpern kein einziges Haar hat. Sieht Patrick ein Haar am falschen Platz, wird er hysterisch und geht es sofort abschneiden, weil er Angst hat, mit einem Mädchen gesehen zu werden, das ein Haar am falschen Platz hat, denke ich und werde einem Mann, einem Schriftsteller vorgestellt, der sich zu Patrick und mir, den zwei aneinandergeketteten, dazugestellt hat. Patrick küsst mich zu Demonstrationszwecken. Tatsächlich, denke ich weiter, will Patrick sich ein Mädchen in sein Gehege stellen, das so aussieht wie die Mädchen aus seinem Magazin, was sein Ferngesteuertsein einmal mehr auf den Punkt bringt und es erreicht noch seinen unglaublichen Höhepunkt, denn seinen Höhepunkt, denke ich, will Patrick von einem Mädchen verschafft haben, das sexuell kompetent ist, aber noch nie Sex hatte und an dieser Stelle, denke ich, erreicht Patricks Ferngesteuertsein in seiner ganzen unbegrenzten Dummheit seinen Höhepunkt. Weiter, denke ich, sollte das Mädchen, welches man vom Zaun aus sehen darf, nicht oder nur gelegentlich rauchen, es sollte nicht oder nur gelegentlich trinken, es sollte gelegentlich Sachen sagen, die sich schlau anhören und diese schlauen Sachen sollte es in gemäßigtem Ton vortragen, es sollte irgendeine tolle Berufsbezeichnung in Aussicht haben oder noch besser schon etwas Tolles, aber nicht zu Tolles sein, es sollte sich mit der gleichen Kunst, den gleichen Büchern, den gleichen Zeitungen, den gleichen Filmen, den gleichen Möbeln, den gleichen Gesprächsthemen wie er umgeben, kurz: Es sollte vollkommen leblos und bestenfalls tot sein.
Patrick, denke ich, muss in meinem Fall falsch kalkuliert haben, anders lässt es sich nicht erklären, dass er sich mich in sein Gehege rein gestellt hat. Möglicherweise war er wegen seiner Schlafkrankheit zu Abstrichen bereit bzw. nicht voll urteilsfähig, in jedem Fall aber hat er sich verkalkuliert und nun versucht er, mich für seine Zwecke zurechtzustutzen und zu schneiden und dieser ferngesteuerte und ja tatsächlich menschenfeindliche Patrick, dieser gefährliche Gärtner muss man sagen, läuft unerkannt herum, von sich selbst am allerwenigsten erkannt, denke ich und diese haarsträubende Gesamtlage beweist ja im Grunde nur, was ich seit jeher geahnt habe, nämlich, dass die Emanzipation, für die Carmen ein extra Bücherregal zuhause angelegt hat, eine vollständig missglückte und missratene ist. Schon immer habe ich es geahnt, jetzt weiß ich es mit Bestimmtheit: sie ist missraten, sie ist vollkommen verunglückt. Mein Kopf ist ein aus der Vergangenheit hier her getragener und auf meine zeitgenössischen Kleider draufgesetzter, nichts weiter. Nichts hat sich in dem Kopf verändert, er ist ein stickiges Frauenwohnzimmer mit lauter gehäkelten Lügen darin, die unaufgedeckt herumliegen, er ist vollgestopft mit Lockenwicklern und Gardinen. Gardinen, die ich nicht selber angebracht, sondern dafür den ferngesteuerten Gärtner hergeholt habe, der mir überhaupt mein ganzes Leben anbringen und zurechtnageln soll und insofern hat sich der ferngesteuerte Gärtner ja doch nicht verkalkuliert, sondern genau richtig gerechnet, denke ich nickend und betrachte Patrick und den Schriftsteller, die ihr langweiliges Gespräch essen müssen, die aus rein ökonomischen Gründen dazu gezwungen sind es zu essen. Der Schriftsteller wendet sich lächelnd mir zu, Patrick nähert sich meiner Wange. Er streift mein Ohr und flüstert mir zu, dass wir jetzt gehen und ich nicke immer noch. Patrick, denke ich, ist in seinem Gehäuse drinnen ein zutiefst verunsicherter, einer, dem die aktuellen Zeit-Forderungen und die widersprüchlichen Lebens-Durchsagen aus seinem I-Phone raus direkt in den eingezäunten Kopf gefallen sind, wo er ihnen Folge leistet, wo sie aber auch ein heilloses Chaos anrichten, das er mit aller Kraft zu ordnen versucht, mit Gewalt, denke ich. Deswegen muss ich das Gehege, das Areal schnellstmöglich verlassen, gleich morgen, denke ich. Darf ich kurz auf die Toilette gehen?, unterbreche ich den Schriftsteller und Patrick. Der Schriftsteller legt seine Stirn in Falten und sieht ungläubig zu Patrick, der eifrig nickt. Ich bedanke mich und laufe, um mir einen neuen Wodka zu holen und dann zu verschwinden. Gleich morgen verlässt du das Gehege, das Zurechtstutzen muss ein Ende haben. Er stutzt dich zurecht, du lässt dich zurechtstutzen, zusammen seid ihr das Zurechtstutzungskommando und du bist die Anführerin. Irgendwo in dem seit Jahrhunderten überlieferten Schlamm, welcher in deinem Gehirn aufbewahrt ist, denke ich, steht geschrieben, dass du dich von einem Gärtner bewirtschaften lassen willst. Auch dir, denke ich, müssen diverse aktuelle Durchsagen in den Kopf gefallen sein. Auf diesen überlieferten Schlamm sind die Durchsagen drauf gefallen: nämlich, dass es sich absolut nicht gehört, sich in die Hände eines Gärtners zu begeben, um sich bewirtschaften zu lassen. Der Schlamm verträgt sich mit den aktuellen Durchsagen nicht, die weiter lauten: Sei insgesamt total befreit, sei weiblich, sei dabei wie ein Mann, sei sexuell befreit, mach' möglichst viele krasse sexuelle Sachen, lass dich krass überall rein ficken und wirke dabei möglichst selbstbewusst, (weswegen ich mit sexuellen Handlungen nichts zu tun haben will und kann, wirklich, ich kann sie nicht durchführen). Die mir in den Kopf gefallenen Propaganda-Durchsagen, denke ich weiter, haben mit dem überlieferten Schlamm zusammen eine Explosion verursacht und einen vollkommen irritierten Kopf zurückgelassen, einen zerstörungswütigen Kopf, einen Werwolfskopf, denke ich. Am Tag ist er der häkelnde Ehefrauen-Kopf, der bereitwillig mit Patrick über Produkte spricht und ihm beim Einschlafen hilft, hat der Ehefrauen-Kopf aber Ausgang, verwandelt er sich in den grausamen Werwolfskopf, der von einer gemeinen Zerstörungswut, den ferngesteuerten Patrick betreffend, besessen ist, so ist es, denke ich. Vor der Toilette treffe ich den Schriftsteller, der mir gefolgt sein muss, er fragt, ob ich zu irgendeinem Fest mitkomme, ja, sage ich und stoße mit Patrick zusammen, der nach mir sucht, der mich am Arm packt und sagt, er wolle jetzt gehen, mitkommen, sofort, sagt er, festnehmen, abführen will er mich. Ich reiße mich los, laufe weiter, drücke mich durch die Menge zum Ausgang, dicht gefolgt von Patrick, der mich zu fassen versucht, draußen winkt der Schriftsteller ein Taxi heran und ich steige ein, Patrick bleibt alleine stehen, wir fahren, die Stadt ist voll mit Lichtern, das Taxi überholt sie und fährt in neue rein und nach 88 Nächten im Bauch liege u. a. ich in Begleitung des Schriftstellers unter einer Bar, eine Spezialvorrichtung versorgt mich mit Wodka und Pillen, jeder schmeißt immer mal wieder was rein, der Schriftsteller legt sich auf mich drauf, Schweiß läuft ihm aus dem Komponisten-Haar, langsam wird es grau und darüber weint er, er presst sich an mich, damit wir eins sind, es liegen zwei Körper aneinander, die nicht zueinander gehören, denke ich, sehe uns zu, drehe den Kopf zur Seite und gucke, ob ich irgendwo in den tanzenden Menschen über mir Jo sehen kann, aber ich sehe nur zitternde Menschen, ob aus Freude oder Angst kann ich nicht sagen. Ich krabbele also los und suche einen Ausgang, ich sehe Beine zu Techno auf den Boden stampfen, ein Tritt trifft mich in der Seite, ich liege flach und sehe die Füße, die trampelnden, denke ich, nein, die marschierenden, denn die Füße tun nichts anderes, als im Gleichschritt zu marschieren und die Hände am oberen Ende der Körper, stehen stramm in der Luft, wo sie, wie angeordnet, jubeln und aus ihrem Alltag raus marschieren, denke ich und fühle meine Nase platzen. Techno, die den einzelnen mit Sicherheit tottrampelnde Marschmusik zum gemeinsamen Dummsein, die Technologie zum Dummsein, das dümmste, was die Menschheit an Musik jemals hervorgebracht hat, Techno wird unser aller Untergang sein, denke ich, als ich keine Luft mehr bekomme, weil jemand auf meinem Brustkorb steht und zu hüpfen beginnt, Hitler hätte Techno hören wollen und Techno für das ganze Land verordnet, so auch meine ehemaligen Lehrkörper, sie müssen alle Techno gehört haben, als ihnen ihre desinfizierten Standardisierungseinfälle kamen, auch Götz, vermutlich ein geheimer Techno-Hörer. Techno, denke ich, während die Musik anschwillt und die Trampelabstände dichter werden, die Musik der absichtlich Schwachsinnigen, die nichts interessiert, die nichts mehr versuchen, außer ihr Technogebet, denke ich und robbe getreten über den Boden, wo ich meine Zähne einsammele, die ich gleich als Pillen zu verkaufen beschließe, wenn es mein Gesundheitszustand noch zulassen sollte. Nacht für Nacht der weißdampfende Bauch, an der schwarzbemalten Wand hängt Kunst aus herausgerissenen Organen, in Plastikfolie eingeschweißte, Nacht für Nacht, sehe ich, treffen sich da zwei an der Bar und gefallen sich.
Was ist das?
Das ist ein Blick aus Augen, die genau gucken, das ist vielleicht das Zurückzucken, das sie beim Anderen spüren, das ist ein warmer Geruch, den sie nach einer Bewegung aus dem Hemd des Anderen durstig schlucken.
Sie sperren sich selbst ab, auch die Bar wird zur Sicherheit mit Signalfarben umwickelt. Auf den Tresen schwarze Tinte und die Vereinbarung, denn vorher muss klar sein: Ich kann dich nicht reinlassen, irgendwas ist da bei mir rausgerissen und nicht wieder eingebaut worden, frag mich nicht was, frag lieber meine Eltern und ich will gerne und sofort meinen ganzen komplizierten Charakter hier vor dir auf der Bar ausbreiten. Jedenfalls darfst du nicht zu viel von mir wollen und ich verspreche dir, auch ich werde niemals zu viel von dir wollen.
Kurz geben die beiden in Absperrband Eingewickelten einander zu verstehen, dass man gern zu allen möglichen Dingen bereit ist, man sich aber zu dieser einen gewissen Sache grundsätzlich nicht in der Lage sieht und dann verlassen sie den Bauch und legen sich gemeinsam in ein Bett, das am nächsten Morgen bleich und verschmiert unter ihnen liegt, kalt ist es auch, weil einer, vereinbarungsgemäß, eilig das blutende Zimmer räumt, so ist es, so habe ich es wieder und wieder von den vor Schmerzen Schreienden vernommen, so würde es auch mir widerfahren, wenn ich nicht immer rechtzeitig wegrennen würde, um das Rausreißen meines Herzens zu vereiteln, was ja das ganze große Herzvernichtungsproblem auf den Punkt bringt, denke ich. Der Bauch, durch den du schwimmst — ein groß angelegtes Herzvernichtungsprojekt, eine Herzmisshandlungsstätte, rausreißen, liegenlassen, mehr davon. Kalkige Gesichter ziehen vorbei, violett und nass, ich schwimme durch die Menge und will raus, an einen Hals, an Jo' s Hals, aber ich finde ihn nicht, nur Patrick zieht plötzlich wieder an mir und ich sehe in seine Augen, durch die ich hindurch gehen kann, hinein ins Dunkel, da kommt nichts mehr, nichts kommt mehr, er zerrt an meiner Hand, die ich ihm abschlage und weglaufe, weiterschwimme, weiter und nächtelang durch den Bauch, aus dem ich den Ausgang nicht fand.