Thomas Klupp, D
Geboren 1977 in Erlangen, lebt in Berlin. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim und arbeitet seit 2007 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Literaturinstitut. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien (u.a. BELLA triste, Entwürfe, Salz).
Thomas Klupp wurde auf Vorschlag von Hubert Winkels zu den TDDL 2011 eingeladen.
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Thomas Klupp
9to5 Hardcore
(Romanauszug)
Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.
© 2011 Thomas Klupp
Ich kann nicht behaupten, in den vergangenen Monaten eine besondere Haltung der Onlinepornographie gegenüber entwickelt zu haben. Womöglich, nein, bestimmt sogar erwartet man das von mir, allen voran Frau Prof. Faulstich erwartet das von mir, aber ich kann damit nicht dienen. Zu meinem Bedauern – ein, offen gesagt, karrieristisch motiviertes Bedauern – bin ich in Sachen Haltung nicht einen Schritt weiter als zu der Zeit, als ich noch ein ganz gewöhnlicher Pornokonsument war. Die Tatsache, dass ich seit April diesen Jahres mehr Pornos gesehen habe als jeder andere Mensch auf Erden – ich meine: als wirklich jeder andere Mensch auf Erden, eingeschlossen die Regisseure, Kameramänner und Cutter der großen Produktionsfirmen im San Fernando Valley, Kalifornien, USA – ändert nichts an meiner grundsätzlichen Überzeugung. Der Überzeugung, dass die explizite Darstellung des Geschlechtsakts schon aus rein evolutionären Gründen das Interesse des Betrachters weckt.
Nun, das eben Gesagte stimmt nicht ganz. Zum einen habe ich in den vergangenen Monaten mehr Pornos gesehen als fast jeder andere Mensch auf Erden. Die Ausnahme, die einzige, ärgerliche, ja, für mich und meine Zukunft ungemein bedrohliche Ausnahme stellt meine Kollegin Uschi Seidel dar. Seidel hält, ohne Frage ebenfalls aus karrieristischen Gründen, in Sachen Pornokonsum eisern mit mir Schritt. Sie tut das trotz einer angeborenen Sehschwäche. Acht Dioptrien auf dem linken, sechs auf dem rechten Auge, wie sie mir kürzlich verraten hat. Ohne ihre dickwandige Existenzialisten-Brille könnte sie auf einen halben Meter Entfernung einen Computerbildschirm kaum von einer Mikrowelle, geschweige denn das Gesicht einer Frau von ihrem Geschlechtsteil unterscheiden, aber Optiker gibt es hierzulande genug. Augentropfen auch. Wäre ich skrupelloser, ich würde ihre Tropfen, die sie in der obersten Schublade ihres Schreibtischs aufbewahrt, mit Abflussreiniger strecken, aber dafür geht mir die Härte im zwischenmenschlichen Bereich ab. Nein. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Seidels Leistung anzuerkennen, ja, sie als Ansporn zu nehmen und mich selbst in maximalem Tempo durchs Netz zu navigieren.
Zum anderen, und auch das beunruhigt mich, hat sich meine Haltung gegenüber Pornos doch in gewisser Weise verändert. Wobei das Wort Haltung die Sache nicht richtig trifft. Ich will es lieber so formulieren: Seit Antritt der Stelle habe ich bestimmte Vorlieben entwickelt. Motivische Vorlieben, um genau zu sein. Ich habe festgestellt, dass der weibliche Schambereich und insbesondere die Vagina selbst in meinem Denken eine immer größere Rolle spielt. Selbstverständlich habe ich auch früher hin und wieder an eine Vagina gedacht. Wer, die Asexuellen und die Kinder einmal ausgenommen, tut das nicht? Allerdings habe ich früher zumeist an die Vaginen bestimmter Frauen gedacht, an die Vagina als Teil dieser Frauen. Ich, die Frau und ihre Vagina bzw. ich in der Vagina einer bestimmten Frau – das war in meiner Vorstellung eine Einheit, ein libidinöser Knoten, der sich langsam aber sicher zu lösen beginnt. Als hätte ein geschickter Chirurg das Organ aus der Frau heraus- und in den Innenraum meines Schädels hinein operiert – irgendwie so fühlt sich das dort oben an.
So irritierend diese Entwicklung ist, sie hat freilich ihre Gründe. In erster Linie wohl den Grund, dass mir Tag für Tag rund fünf Dutzend Close-Ups rasierter oder zumindest teilrasierter Vaginen aus dem Bildschirm meines Arbeitsrechners entgegen leuchten. Das helle Rosa des mir offensiv, mitunter auch aggressiv entgegen gereckten Organs, die zylindrischen Konturen des stets geschwollenen Kitzlers, ja, die ganze, unter Garantie feucht glänzende, von perlmuttfarben lackierten Fingernägeln gerahmte 2-D-Pastelllandschaft des weiblichen Schambereichs – darauf ist Verlass. Dieses Motiv, dieser Appetizer, wenn man so will, ist ein All-Time-Favourite auf allen von mir dokumentierten Webseiten. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht noch beunruhigender, ich würde mir nie über die Vagina als solche Gedanken machen? Spricht es im Grunde nicht für mich, für mich und meinen Charakter meine ich, dass ich genau diesem Motiv – und nicht anderen, und zwar ganz anderen Motiven – ein bisschen zuviel Aufmerksamkeit schenke? Glauben Sie mir, Sie möchten nicht wissen, was ich sonst noch alles zu sehen bekomme, mein Wort darauf.
Das jedenfalls ist mein oder besser gesagt unser Job: Wir, Uschi Seidel und ich, sitzen täglich Minimum acht Stunden vor unseren Rechnern in Raum 101 des Instituts für Kulturwissenschaften der Uni Potsdam und erforschen ‚Inszenierungsstrategien des Expliziten in Onlineangeboten westlicher Mainstreampornographie’. Das heißt, momentan erforschen wir noch gar nichts. Momentan befinden wir uns noch in der Dokumentationsphase. Wir klicken uns durch die Archive dreier populärer Gratispornoseiten und vermerken in den auf unseren Desktops geöffneten Kontrollbögen, was immer uns dort begegnet. Wir vermerken Positionen, Kameraperspektiven und Einstellungsgrößen, aber auch Haarfarben, Frisuren und Rasuren sowie zum Einsatz kommende Tools & Toys. Das mag sich nach einem Zuckerschlecken anhören, aber das ist es nicht. Jede von uns dokumentierte Website hat Minimum fünfzehn Kategorien, von A wie Anal über M wie Milf bis V wie Voyeur, mit rund zwanzig Bildserien pro Kategorie, die jeweils aus zwanzig Einzelbildern bestehen. Summa summarum sind das 6000 Bilder pro Seite. 6000 Bilder, die täglich geupdatet werden. 6000 Bilder, täglich, mal drei.
Wenn mir, für Seidel kann ich nicht sprechen, in den vergangenen Monaten irgendetwas klar geworden ist, dann das: Irgendwo da draußen, irgendwo jenseits der Bildschirme, wird so richtig gefickt; gefickt und gefilmt und gecuttet und hoch geladen. Irgendwo da draußen sind die Leute mit einer Konsequenz bei der Sache, die mich, unter uns gesagt, deprimiert. Nicht, weil ich selbst ein besonders deprimierendes Sexleben hätte. Das heißt, seit Antritt der Stelle habe ich ein ziemlich deprimierendes Sexleben, aber das tut nichts zur Sache. Das ist nicht der Punkt. Deprimierend empfinde ich das bloße Unterfangen, mich Tag für Tag von neuem in diese Bilderflut zu stemmen, diesem sekündlich wuchernden Hardcore-Overkill die Stirn zu bieten. Seidel und ich, so sehe ich uns manchmal, wir sind zwei halbblinde Späher, die den virtuellen Leuchtspuren einer milliardenschweren High-Tech-Industrie hinterher spionieren. Wir sind Steinzeitmenschen mit Keulen, die ihre Kräfte mit einem Stealth-Fighter-Geschwader messen. Noch ehe wir in der Lage sind, unsere Keulen zu schwingen, sind wir von den ferngelenkten Waffensystemen unseres Gegners schon längst in unsere Atome pulverisiert worden.
Und damit nicht genug. Es ist nicht nur die Masse der Bilder, ganz zu schweigen von der Hirn zersetzenden Monotonie der immer gleichen Motive, die mich deprimiert. Nein, damit habe ich mich abgefunden. Was mir zuweilen richtig schlechte Laune bereitet, ist das Forschungsdesign selbst. Ich spreche davon, dass wir Standbildpornographie dokumentieren. Standbildpornographie, mein Gott! Was glauben Sie, wie viele der weltweit rund eine halbe Milliarde Pornouser ihren Hosenlatz öffnen, um sich die Zeit mit Fotographien zu vertreiben? Sie etwa? Wohl kaum. Wie jeder halbwegs normale Mensch suchen auch Sie im Rahmen Ihrer Onlineaktivitäten gezielt nach Angeboten im Bereich der Bewegtbildpornographie. So nennen wir das hier: Bewegtbildpornographie. Soll heißen: Auch Sie durchforsten das Netz nach Videoclips, geben in gemeinhin immer kürzer werdenden Abständen youporn.com oder porntube.com in die Adresszeile ihres Browsers ein – und eben nicht freepicseries.com, slutsgate.com oder public-pussy.com, wie ich es tue.
Und dennoch. Trotz der Widrigkeiten, die meine Tätigkeit so mit sich bringt, möchte ich festhalten: Ich liebe diesen Job. Ich sage: Was für ein Glücksfall von einem Job. Was für ein unfassbarer Glücksfall von einem Job! Wie jeder frisch diplomierte Kulturwissenschafter habe ich mich mit Abschluss meines Studiums auf lange Jahre Hartz IV oder – schlimmer noch – eine Reihe erniedrigender, das eigene Selbstwertgefühl mit äußerster Brutalität zertrümmernder Bettelstellen im so genannten Kulturbereich eingestellt. Ich habe mich schon als Praktikant der Assistentin der stellvertretenden PR-Leiterin der Langen Coburger Kurzfilmnacht gesehen, als zweiter Hilfsbeleuchter der tausendsten ZDF-Neo-Dokumentation über russische Frauenhändler oder – worst case – als einer dieser verzweifelten Jungexistenzgründer, die mit Ideen, die definitiv niemand auf diesem Planeten braucht, jahrelang Klinkenputzen gehen, um dann, mit Anfang Dreißig, doch noch auf Lehramt zu studieren und sich dabei das Erbe und zugleich Ende ihrer Eltern herbeihalluzinieren. Bis vor kurzem haben mich solche Szenarien sogar noch im Traum verfolgt, und ich bin nicht der Typ, der träumt. Ehrlich, ich träume normalerweise nie. Von rein gar nichts. Ich bin Realist, und als solcher weiß ich, was Leben bedeutet. Und zwar das beständige Abschiednehmen von Visionen, die man einst von sich und seiner Zukunft hatte, das ununterbrochene Nach-Unten-Relativieren ehemaliger Selbstansprüche, der stete Verrat an früheren Idealen, die in Wirklichkeit freilich keine Ideale sondern pubertäre Verirrungen der übleren Sorte waren.
So gesehen bedeutet jeder von mir dokumentierte Blowjob, jeder registrierte Gangbang, jeder vermerkte Cumshot, bedeutet schlichtweg jeder Klick auf ein weiteres Bild einen kleinen Schritt in Richtung Festanstellung. Zumindest in Richtung einer möglichen Festanstellung. Und dieser möglichen Festanstellung könnte, wenn denn alles perfekt läuft, irgendwann die Verbeamtung folgen. Die Verbeamtung im Schoß der Alma Mater, sprich: gedankliche Narrenfreiheit ohne Grenzen, ein festes Einkommen, ein helles Büro mit Blick auf den Campus und – last but not least – Seminarräume voll von immer neuen Generationen junger Studentinnen, 3-D-Updates ihrer selbst gewissermaßen, die – während man selbst Alter, Krankheit und Tod entgegen schreitet – doch niemals älter sein werden als siebenundzwanzig.
Ich spreche, und Sie stimmen mir da zweifellos zu, jobtechnisch vom Paradies auf Erden. Ich spreche vom gelobten Land, das ich, im Gegensatz zu so vielen anderen, nicht nur aus der Ferne sehe sondern bereits betreten habe. Ich meine: Ich bin ja hier. Ganz offiziell, sogar mit Schild an der Tür. Robert Thaler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich II, Institut für Kulturwissenschaften steht dort in schwarzen Lettern auf dem quadratischen Plexiglasschild vor Raum 101. Ich bin hier, und ich schwöre: Ich gehe hier nie wieder weg. Das heißt: Läge die Entscheidung bei mir, ich ginge hier nie wieder weg. Tatsächlich stellt sich die Lage weniger rosig dar. Tatsächlich verhält es sich wie folgt: Die beiden halben Stellen, die Seidel und ich momentan besetzen, werden – Prof. Faulstich hat uns gleich zu Beginn unserer Arbeit davon unterrichtet – in naher Zukunft zu einer ganzen Stelle verschmelzen, und es ist eher unwahrscheinlich, dass ich diese Stelle bekomme. Ehrlich, kein Mensch hier am Institut würde auch nur einen Cent auf mich setzen.
Das Problem ist nicht so sehr, dass Seidel jünger und, davon gehe ich aus, auch intelligenter ist als ich. Nein, das eine wie das andere ließe sich verschmerzen. In der akademischen Welt kommt es, anders als in der wirklichen, nicht ausschließlich auf Jugendlichkeit an. Und schon gar nicht, jetzt in Einklang mit der wirklichen Welt, auf Intelligenz. Im Gegenteil: Die Fähigkeit, eigene Gedanken schon im Keim zu ersticken und stattdessen professorale Meinungen unhinterfragt zu übernehmen und zu paraphrasieren, ist hier eine Schlüsselkompetenz. Ich jedenfalls kenne niemanden im Mittelbau, der nicht mithilfe dieser Strategie genau dort, eben im Mittebau, angekommen ist. Ginge es bloß darum, ich hätte die besten Voraussetzungen, das Rennen zu machen.
Das eigentliche, das gravierende Problem ist ein anderes. Und zwar ist Uschi Seidel eine Frau. Sie ist eine Frau, und dieser Sachverhalt wiegt schwer. Es ist, als würden wir gegeneinander im Hürdenlauf antreten, nur dass mein Penis dabei mit dem Waschmaschinenschlauch von Frau Dr. Huber verknotet ist. Frau Dr. Huber, das ist die Gleichstellungsbeauftragte unserer Universität, und sie achtet akribisch darauf, dass „bei gleicher Qualifikation weibliche Bewerberinnen bei der Stellenvergabe zu bevorzugen sind.“ Sie tut das, obwohl sie in ihrer eigenen Doktorarbeit die Idee einer klar definierten Geschlechtsidentität als reaktionär entlarvt und aufs Schärfste verneint. Dr. Huber. Dr. Heike fucking Huber! Der ganze Irrsinn unserer Welt bündelt sich in dieser Frau, und wäre ich ein leichter zu beeindruckender Charakter, ich würde allein ihretwegen das Handtuch werfen. Aber das ist nicht mein Stil. Ich glaube an meine Chance, so gering sie auch sein mag, und ich habe dafür sogar meine Gründe. Drei Stück, um genau zu sein.
Zum Ersten: besteht immerhin die Möglichkeit, dass Seidel demnächst krank oder schwanger oder ähnliches wird. Sie wäre nicht der erste Dropout hier am Institut. Immer wieder verschwinden Mitarbeiterinnen aus den undurchsichtigsten Gründen, sind plötzlich weg und wie nie da gewesen, und kein Hahn kräht mehr nach ihnen. Warum sollte es nicht auch Seidel erwischen? Sie hat diese Sehschwäche und klagt nicht selten über Migräneattacken vor dem Bildschirm. Zudem ist sie seit halben Ewigkeiten mit ihrem Freund zusammen und wird im Dezember Dreißig. Wer weiß, wohin ihre Gedanken in den stillen Stunden der Nacht wandern? Ein kleiner Unfall, ein kleiner Babyunfall, liegt da durchaus im Bereich des Vorstellbaren.
Zum Zweiten: mein Aussehen. Ich bin, ich kann es nicht anders sagen, geradezu obszön attraktiv. Denken Sie an Colin Firth als jungen Mann, denken Sie an Colin Firth in den sexiest scenes von Pride & Prejudice, und Sie haben eine ganz gute Vorstellung von meinem Gesicht. Rehbraune, ungemein aufmerksam dreinblickende Augen, darüber eine hohe, von dunklen Spirallocken gekrönte Stirn. Dazu intelligente, scharf geschnittene Züge und eine feinporige, angenehm blasse, aber keineswegs kränklich blasse Haut. Mein Gesicht, ich habe es in der Vergangenheit immer wieder feststellen dürfen, wirkt auf meine Umgebung ähnlich wie ein schwarzes Loch. Die meisten, die sich ihm nähern, kommen nicht wieder davon los. Ich hoffe und bete, dass auch Prof. Faulstich, die nicht nur im Feld der Pornographie sondern auch im Bereich der Ästhetik forscht, diese Erfahrung macht.
Zum dritten, und das ist vielleicht mein größter Trumpf: mein Commitment. Mein buchstäblich halsbrecherisches Commitment gegenüber den Belangen und Projekten des Instituts. Sprich: Kein Mensch hier schaut annähernd so viele Pornos wie ich, selbst Uschi Seidel nicht. Ihr Arbeitstag endet in genau dem Augenblick, in dem sie den Internet Explorer schließt und ihre letzten Kontrollbögen auf der Festplatte sichert. Meiner nicht. Wie sie klicke auch ich mich bis zur Erschöpfung durch die Seiten, solange bis die Bilder auf dem Monitor zu fleischfarbenen Flächen verschwimmen, und danach ... danach mache ich weiter. Ich streife meine Forscherexistenz ab und stelle mich der Professorin als Proband zur Verfügung. Ruckzuck geht das. Ich öffne den auf meinem Desktop liegenden Faulstich-Pedersen-Ordner, klicke auf einen der dort für mich gespeicherten Hardcore-Clips und aktiviere Ariadne, eine avancierte dänische Dokumentationssoftware. Mithilfe der Software fertige ich während der Sichtungen dann so genannte Verlaufs- oder besser gesagt: Lustdiagramme an. Die Frage der Professorin ist nämlich die: Wie viel Lust empfinde ich bei welchen Szenen? Wo liegen meine Lustspitzen, wo meine Lustschluchten? Und wie sieht meine Lustkurve über den gesamten Verlauf des Clips aus? Das Messverfahren ist idiotensicher, wie für Kleinkinder gemacht. Ich muss nur alle fünfzehn Sekunden auf eine der zehn Zahlentasten drücken – 9 steht für maximale Lust, 0 für totale Unlust – und am Ende generiert Ariadne daraus meinen persönlichen Lustgraphen.
Wohlgemerkt, es geht um Lust, nicht um Erregung. Auftretende Erektionen während der Sichtungen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Nicht auf die Reaktion meines Schwellkörpers, so hat die Professorin mehr als einmal zu mir gesagt, sondern auf die Lust in meinem Kopf komme es ihr an. In Ihren Schädel, Thaler, so ihre genauen Worte, dort wollen wir hinein. Ich habe dazu nur genickt und mich jeder Nachfrage enthalten. Auch ohne die von ihr vorgenommene Unterscheidung in allen Feinheiten nachvollziehen zu können, weiß ich, wovon sie spricht. Tatsächlich bin ich selbst, ist mein Körper das beste Beispiel dafür. Ich bemerke – und zwar immer häufiger in letzter Zeit –, dass mein Penis selbst bei den härtesten und am aufwändigsten produzierten Sexszenen wie ein loses Kabel zwischen meinen Beinen baumelt, während er in anderen Momenten, etwa wenn ich mich im Spiegel der Institutstoilette betrachte oder mir mit einem Wattestäbchen die Ohrmuscheln reinige, ganz enorme Reaktionen zeigt.
Aber Lust vs. Erregung und auch die Reaktionen meines Penis’ beiseite: Mich treiben, während ich die Clips sichte, ganz andere Sorgen um. Insbesondere beunruhigt mich, dass es bei den Messungen nicht nur um mein eigenes Lustempfinden geht. Die Professorin kooperiert im Rahmen der Studie mit der Kopenhagener Sexualpsychologin Prof. Inga Pedersen, die an ihrem Institut eine Gruppe pornosüchtiger Männer um sich geschart hat. Männer, die beim Anblick eines Modems wie unter Zwang ihre Hosen in die Kniekehlen zerren, Männer, die für fünf Minuten Onlinezeit ihre eigene Mutter zum Teufel jagen würden, Männer, die sich aus freien Stücken in Therapeutenhände geflüchtet haben. Diese Männer – und das ist der potenziell halsbrecherische Part meines Commitments – sehen sich unter exakt denselben Bedingungen wie ich exakt dieselben Videoclips an. Und die Professorinnen gleichen unsere Ergebnisse dann miteinander ab. Es geht ihnen darum, Unterschiede im Lustempfinden bei psychopathologisch auffälligen und psychisch stabilen Pornokonsumenten zu bestimmen. Weiß der Himmel, was sie sich davon versprechen, mich jedenfalls macht die Sache nervös. Was, frage ich mich immer wieder, was, wenn meine Lustkurven punktgenau mit denjenigen der pornosüchtigen Dänen übereinstimmen? Was sagt das über mich aus? Und schlimmer noch: Welchen Eindruck – akademische Objektivität hin oder her – könnte die Professorin dann von mir gewinnen?
Noch zu Beginn der Untersuchung hätte ich mir den linken kleinen Finger zerquetschen lassen, um an die Kopenhagener Kurven zu gelangen, inzwischen sehe ich die Dinge aber entspannter. Zum einen treten mir immer deutlicher die positiven Effekte vor Augen, vor allem mein enger, fast schon als intim zu bezeichnender Kontakt zur Professorin. So irritierend eine Bemerkung wie diejenige über meinen Schwellkörper im ersten Moment auch ist, letztlich lässt sie sich ja als ein Zeichen zunehmender Vertrautheit zwischen uns interpretieren. Ich jedenfalls interpretiere sie so. Zum anderen habe ich in den vergangenen Wochen ganze Nächte auf diversen Online-Selbsthilfeforen zugebracht, wo Heerscharen von Pornosüchtigen über ihr Konsumverhalten chatten. Charakteristisch für die harten Fälle, so legen es die Beiträge nahe, ist, dass sie sich in rasendem Tempo durch Dutzende zeitgleich geöffneter Clips klicken, immer auf der Suche nach dem nächsten Cumshot. Sperm-driven-Speed-Zapping hat der schwedische User Ole B. das genannt. In Abgrenzung dazu setze ich meine Lustspitzen vor allem bei lesbischen Szenen, bei (fingierten) weiblichen Orgasmen und hin und wieder bei langsamen Blowjobs. Für Gangbang- und Cumshotsequenzen hingegen habe ich die Tasten 0 bis 5 reserviert. Ich bin zuversichtlich, dass Ariadne auf Basis dieser Werte Krümmungsverläufe generiert, die den dänischen Kurven zuwiderlaufen. Krümmungsverläufe, die einen effeminierten, womöglich leicht gehemmten, in jedem Fall aber moralisch integren Pornokonsumenten suggerieren. So soll das bei der Professorin ankommen, so stelle ich mir das im Idealfall vor.
Alles in allem scheint meine Strategie auch aufzugehen. Zumindest hat bislang niemand Anstoß an meinen Kurven genommen. Das heißt, niemand außer Uschi Seidel. Erst vergangenen Freitag hat sie mich vor dem Heißgetränkeautomaten in der Institutscafeteria abgepasst, und ich vermute, sie hat den Ort gewählt, um dem Gespräch eine zwanglose Note zu verleihen. Während ich mir den mindestens zehnten Cappuccino aus dem Automaten gelassen habe, ist sie von der Seite an mich herangetreten, hat an ihrer Brille herumgenestelt, um mich dann, wie aus dem Nichts, mit ihren Bedenken zu überfallen. Sie sei sich nicht so sicher, hat sie in das Zischen der Maschine hinein gesagt, ob es methodisch korrekt sei, dass ich der Professorin als Proband aushelfe. Ja, sie frage sich, ob man meine Daten bei der Auswertung überhaupt berücksichtigen dürfe. Sie selbst jedenfalls sehe sich nach acht Stunden Dokumentationsarbeit außerstande, stichhaltige Aussagen über ihr Lustempfinden zu machen. Im Grunde sehe sie sich außerstande, stichhaltige Aussagen über irgendetwas zu machen. Sie fühle sich nach der Arbeit schlicht und einfach wie tot. Jetzt mal ehrlich Robert, hat sie in beinahe kumpelhaftem Ton gesagt, das geht dir doch genauso.
Clevere Uschi Seidel. Sie weiß, wie der Hase läuft. Sie versucht mein Commitment mit Methodenkritik zu unterwandern und mir dabei auch noch den einen oder anderen inkriminierenden Satz zu entlocken. Aber nicht mit mir. Ich kenne diese Tricks. Ich habe sie, den dampfenden Capuccinobecher in der Hand, angelächelt und ihr geraten, sich mit ihren Bedenken direkt an die Professorin zu wenden. Das hat sie zum Schweigen gebracht. Sie weiß so gut wie ich, dass Prof. Faulstich ihre Einwände abschmettern würde. Nicht, weil sie unberechtigt wären. Das sind sie weiß Gott nicht. Jedes Mal, wenn ich einen der Clips öffne, mache ich genau die von ihr beschriebene Erfahrung. Die Erfahrung, dass da eine Menge bunter Bilder voller kopulierender Paare und Gruppen über den Monitor flimmern, von denen mir eins so viel oder wenig Lust verschafft wie das nächste. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass an unserem Institut acht von zehn Studierenden Frauen sind. Und die Männer – von denen, vorsichtig geschätzt, ein Drittel schwul und damit datentechnisch irrelevant ist – reißen sich nicht gerade darum, ihre Kurven nach Dänemark zu schicken. Die fürchten Pedersens Pornobande noch mehr als ich. Die Professorin braucht schlicht und einfach jeden verfügbaren Mann, um die Datenerhebung abschließen zu können.
Und selbst das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere, weitaus bedeutendere Teil lautet so: Es ist der Professorin – wie auch jeder anderen Geisteswissenschaftlerin auf diesem Planeten – im Grunde ganz egal, wie ihre Daten zustande kommen, solange sie überhaupt zustande kommen. Daten, das darf man nicht vergessen, sind unsere Währung. Daten bedeuten Cashflow in unserer Welt. Daten, insbesondere ausgewertete Daten, ziehen Folgeuntersuchungen und damit neue Projektanträge nach sich. In diesen Anträgen werden frische Fördertöpfe angezapft, die weitere Mittel in den Institutshaushalt spülen, mit denen wiederum Stellen geschaffen werden. Stellen, die angetreten werden, um, ganz genau: neue Daten zu generieren. Forschen, das bedeutet schlicht und einfach: den Betrieb am Laufen halten. Alles andere ist nebensächlich, methodische Unschärfen fallen da wirklich nicht ins Gewicht. Ganz besonders nicht, wenn man bedenkt, dass unsere Untersuchungen – wie freilich alle Untersuchungen in jedem Teilgebiet der Geisteswissenschaften – gesellschaftlich in etwa so relevant sind wie Broschüren über die Karnickelzucht. Ehrlich, außerhalb der Universitäten interessiert sich niemand auch nur einen Furz für das, was wir zu sagen haben. Kein Mensch da draußen liest auch nur einen einzigen von uns zu Papier gebrachten Satz. Und das ist nicht nur meine Meinung. Jeder nicht komplett verlogene Geisteswissenschaftler wird Ihnen das bestätigen, und zwar als einen empirisch gesicherten Sachverhalt.
Man kann das natürlich beklagen. Ja, so manche Kolleginnen hier am Institut tun kaum etwas anderes, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Oder höchstens zum Schein. Hin und wieder stimme ich in ihren Klagechor ein – eben um mich diesen Kolleginnen, zu denen nicht zuletzt auch Frau Dr. Huber zählt, als ein im Leid Verbundener zu outen. Als einer, der scheinbar genauso wie sie von der gefühlten Last der eigenen Bedeutungslosigkeit zermalmt wird. Diese gelegentlichen Lamentos, diese spontan dahin geschmetterten Verbitterungsarien bereiten mir keine Mühe. Im Grunde ist das Wissen um meine eigene Bedeutungslosigkeit eine der wenigen Überzeugungen, ja, vielleicht sogar die einzige Überzeugung, die ich habe. Mit dem Unterschied allerdings, dass ich sie nicht als Last empfinde. Im Gegenteil. Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass die Gesellschaft sich keinen Deut um mich und meine Ansichten schert und ich mich, von ihren Ansprüchen gänzlich unbehelligt, als ihr zwar schlecht bezahlter, aber immerhin bezahlter Beobachter verdingen darf. Wobei das Wort Beobachter (von dem Wort Wissenschaftler ganz zu schweigen) die Sache nicht richtig trifft. Ich begreife mich eher als einen Spekulanten. Dipl.-Kulturspekulant Robert Thaler, das hätte ich selbst auf meine Diplomurkunde geschrieben. Zumindest in einer aufrichtigen Welt hätte ich das getan.
Ich – und im Übrigen auch Uschi Seidel, die es sogar offen zugibt –, wir beide erleben es ja Tag für Tag aufs Neue. Jedes Mal, wenn wir uns durch die Webarchive klicken und dabei auch nur einen Sekundenbruchteil zu lang auf eines der Bilder starren, ist mit dem Beobachten Schluss und das Spekulieren setzt ein. Das geschieht nicht nur bei Bildern, bei denen wir länger über Einstellungsgrößen und Perspektiven nachdenken müssen oder darüber, ob wir es mit einem Gangbang oder nicht doch eher mit einer Group Orgy zu tun haben. Nein, es geschieht auch bei ganz schlichten, unzweideutigen Darstellungen – etwa dem Close-up einer gespreizten Vagina, aus deren Öffnung Spermafäden sickern. Gerade bei solchen Motiven feuern meine Synapsen aus allen Rohren und zerfetzen die Idee von bloßer Beobachtung wie ein Stück feuchtes Brot. Was, so frage ich mich, während ich mit geröteten Augen auf den Monitor starre, was genau sehe ich da? Sehe ich, wie die schlichteren Gemüter am Institut behaupten, tatsächlich nur das Fortpflanzungsorgan eines weiblichen Säugetiers? Oder sehe ich nicht vielmehr ein Bild, das mir von der Lust von Abermillionen von Menschen erzählt? Männern meinetwegen. Aber weshalb ihre Lust? Ist es die Vorstellung, ihr eigener Penis stecke in dieser Vagina? Aber das tut er ja nicht, er steckt ja in ihrer schwitzenden Faust. Zeigt das Bild also nicht eher die Lustfiktion dieser Männer? Oder ist es die Fiktion von der Verfügbarkeit dieser bzw. aller Frauen, die ihnen Lust verschafft? Und was sehen eigentlich die Frauen? Was zum Beispiel sieht Uschi Seidel? Sieht sie, Semiotikerin, die sie ist, dort vielleicht die sich visuell manifestierende Verneinung des christlichen Weltbilds? Sieht sie die pornographische Netzvagina als Zeichen eines kulturellen Paradigmenwechsels? Oder liegen wir beide falsch? Sehen wir im Grunde nicht durch die Vagina und durch die Lustfiktionen der Männer hindurch in das Medium selbst hinein? Ist es der selbstreferentielle Triumph der medialen Apparaturen, der den Reiz des Bildes ausmacht? Die Demonstration ihrer totalen Entblößungsgewalt? Oder haben am Ende doch die Feministinnen um Frau Dr. Huber Recht und wir sehen schlicht und einfach eine große Sauerei?
Fragen über Fragen, die wie Schrapnellsplitter durch meine Hirnwindungen schießen, und auf die ich keine oder zumindest noch keine Antworten habe. Auf die, so hoffe und bete ich, auch Seidel noch keine Antworten hat. Auf die sich vielleicht überhaupt keine abschließenden Antworten finden lassen. Wobei, wer weiß! Vielleicht gebe ich allzu schnell klein bei. Vielleicht habe ich einfach noch nicht genug gesehen. Vielleicht stecke ich noch nicht tief genug in der Materie und muss die Schlagzahl, sprich mein tägliches Bilderpensum drastisch erhöhen. Ja, vielleicht ist das die Lösung. Um dem pornographischen Onlinekosmos sein Geheimnis zu entreißen, muss ich noch tiefer in ihn eindringen. Noch viel, viel tiefer. Bis die Netzvagina nicht nur von innen gegen meine Stirnplatte drückt sondern den kompletten Schädelraum ausfüllt. Ein pinkfarbenes Schimmern und Leuchten, das sich durch jede einzelne Nervenfaser zieht – das muss ich erzeugen. Dann werden sich Antworten und auch eine Haltung der Sache gegenüber schon einstellen. Ich darf dabei nur nicht die Kontrolle verlieren. Das ist wichtig, nur nicht die Kontrolle verlieren. Das sage ich mir jeden Tag wieder, wenn ich mich an den Rechner setze und online gehe: Ich darf nur nicht, unter gar keinen Umständen, die Kontrolle verlieren.