Julya Rabinowich, A
Geboren 1970 in St. Petersburg, lebt in Wien. 1977 entwurzelt & umgetopft. 1993 – 1996 Studium an der Dolmetschuniversität Wien. Vorgeschlagen wurde Julya Rabinowich von Jurorin Daniela Strigl.
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Julya Rabinowich
Erdfresserin
Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.
© 2011 Julya Rabinowich
In Leos Wohnung ist es heiß, nicht sommerlich heiß, sondern wüstenheiß, Leo und ich brüten beduinenhaft in Leintücher gewickelt in der stehenden, alles zukleisternden Hitze. Leos Wasser im Glas von gleicher Wärme wie die Feuchtigkeit in unseren Gesichtern. Das Leintuch wirft Falten um meinen Oberkörper und meine Schenkel, verläuft in Hügeln in Richtung Bettende. Im Halbdunkel des frühen Morgens wirken sie wie eine Wüstenlandschaft, eine weiße Düne, noch eine, viele, in unregelmäßigen Reihen.
Der Mond sinkt hinter die Wölbungen der Erde, der Himmel ist noch kaum vom Horizont zu unterscheiden, ein etwas helleres Blau mit dem Versprechen noch sengenderer Hitze. Irgendwo heult ein Tier, langgezogen und heiser.
Dieses Heulen habe ich in Griechenland oft gehört, wo an den Stränden, an denen ich übernachtete, ganze Rudel von verwilderten Hunden gelebt haben, hungrig und fremd wie ich und genauso verschlagen. Ausgesetzt und verängstigt, verschmolzen sie bald zu einem großen, vielmäuligen Ganzen, mit vielen Augen und Ohren und scharrenden Pfoten, große, kleine, säugende und mörderische Einzelleiber. Manchmal machten sie Jagd auf andere Tiere, und es soll auch vorgekommen sein, dass sie Menschen angefallen haben.
Ich schlief damals oft am Strand und hatte keine Angst vor ihnen; ich fühlte, dass ich mehr Teil ihres Rudels war als manche Hunde. Einmal kamen ein paar von ihnen wie Kundschafter zu meinem Schlafplatz, vorsichtig, mit wachem Blick und aufgestellten Ohren, sie kamen nicht in Feindschaft. Sie erschienen lautlos am Hügel, dunkle Umrisse gegen dunklen Nachthimmel, dort, wo sie nicht waren, intensiv leuchtend weiße Punkte. Sterne.
An griechischen Stränden brennt der Sand schon in der Früh unter den Sohlen, ist so intensiv aufgeheizt zu Mittag, dass ich um meine Plastiksandalen fürchtete, fürchtete, sie von meiner Haut abziehen zu müssen wie eine stinkende zweite bunte Haut. Ich will Leos dampfende Haut von mir abziehen, bevor er mich zukleistert, meine Poren verstopft, bevor mein Geruch so abstoßend wird wie seiner, der immer gegenwärtig ist, in seinem Schweiß, in seinem Atem, in seiner Berührung, mit der er überwuchern will, an mir anwachsen, durch mich hindurch gesund werden an meiner statt. Ich rücke in der tropischen Hitze von ihm ab, und er rollt mir flüsternd nach, er gibt Laute von sich, die an ein Tier, an einen Säugling erinnern. Leo wirft eine schlaffe Hand aus wie einen Fangarm, dem ich gerade noch ausweichen kann, sie fällt ins leintuchbezogene Leere zwischen uns und zerstört die weiße Wüstenlandschaft, unter der ich mich geschmeidig hervor ziehe, die Beine anwinkle, langsam, und die Füße vorsichtig aufs grüne Linoleum setze, zehn rote Punkte auf streifigem Grün im Licht der runden Leolampe.
Ich schleiche ins Bad, schiebe mein Gesicht auf der Spiegelfläche zur Seite, ich will mich jetzt nicht sehen, weder mich noch Leo will ich sehen. Schütte kaltes Wasser über den Nacken, hole mir eine Kopfschmerztablette aus dem Schminktäschchen, das schon Leos Rasierwässerchen verdrängt hat, die er nicht mehr verwendet. Schließe die Kästchentür. Hänge den ganzen Kopf ins Becken und drehe den Hahn auf. Meine Haare beginnen sich in der Feuchtigkeit zu kräuseln, mein Gesicht erscheint hinterhältig im Halbdunkel wie das der Gorgo auf Perseus Schild, ich ducke mich unter meinem Blick geschickt hinweg und bin in Sicherheit.
Auf dem Balkon, der in den Hinterhof geht, ist es heiß und still, die Vögel beginnen sich zu regen. Leos Aschenbecher am Rand des Gitters, voll mit Asche, ich nehme ihn und schütte ihn aus in den Hof hinunter, leichter Wind kommt auf und verbläst die Asche seitwärts zum Nachbarbalkon. Ich sehe hinauf, es ist diesig, man kann keine Sterne erkennen, keinen Sand unter mir, keine Tiere. Ich stehe in der Stille und warte und erkenne, dass ich auf Leos Atem lausche, und als ich nichts hören kann, ergreift mich eine unbeschreibliche Unruhe, und ich werfe den Aschenbecher absichtlich auf den Boden, damit er scheppert und Lärm macht und höre immer noch nichts und warte ein wenig und schleiche zurück in das Stickige hinein und lege mein Ohr auf seine nasse Brust und spüre sie in Bewegung und entspanne mich.
Mein Rücken liegt auf dem feuchten Grasrücken der Erde, beide sind überzogen von einer dünnen Schicht Nässe. Es ist schwül, auch wir schwitzen, unsere Feuchtigkeit berührt sich und vermengt uns, die Erde und mich. Rücken an Rücken wie zwei Duellanten. An ihrem Rücken Baumstämme wie Borsten misstrauisch aufgestellt, an meinem bloß die hellen Härchen, denn ich friere trotz der lauen Teewärme der Luft. Zehn Schritte haben wir, bevor wir uns einander zuwenden, bevor der erste Schuss fällt. Ich werde betrügen. Ich werde betrügen wie immer, ich habe es noch nie geschafft, auf die Lüge zu verzichten, auf die Täuschung, ich bin zu schwach, mit offenen Karten zu spielen, ich bin zu stark, um unterzugehen, jetzt noch nicht. Das Haus wartet noch. Die Schwester. Die Mutter. Mein Sohn.
Ich drücke meine Schulterblätter fester in meine Gegnerin hinein, ich fühle, wie sie Kuhlen in ihre Oberfläche formen, spüre kleine Klümpchen ihres Leibes an meinem Nacken, losgelöst von ihrem unendlich schweren Ganzen, so viel schwerer als ich, so viel größer, unbeteiligt und gnadenlos und doch das Zuhause. Schließe meine Augen.
Halt mich fest. Nimm mich zurück. Aber unbefleckt nimm mich zurück, nimm mich ganz, verstecke mich bei dir, lösche mich aus, verändere mich, bis ich eine andere werde, eine Kuh vielleicht oder eine Pflanze.
Meine Finger suchen ihren Weg durch das Gras, ungeduldig bohre ich sie in den Boden neben mir, reiße Halme unbarmherzig aus, der Nagel meines Ringfingers bricht ab, der Schmerz ist kurz, aber wirkungsvoll, ich hebe die Hand an meinen Mund. Kleine Brösel schwarzer Erde bleiben an meinen Lippen zurück.
Öffne die Augen. Schwarzes Brot der Heimat, denke ich, Schwarzbrot meiner Mutter fällt mir ein, das sie am Sonntag selbst gebacken hat, in ein besticktes Tuch eingeschlagen, schwerer Stoff mit roter Stickerei, alles an ihr ist schwer, rot, schwarz, vertraut, das dampfende Brot auf dem klobigen Holztisch der Küche, die dampfende Schwelle aus Stein, die dampfenden Hände über den Schneewehen, die halbverhangenen, dunklen Augen, so dunkel wie ihr Schwarzbrot, das sie liebevoll an ihre flache Brust gedrückt hält, jeder Laib Brot perfekt rund, der Bauch einer Fruchtbaren, deren Frucht genießbar ist, nicht nur genießbar, sondern gut, nicht verdreht und verdorben wie mein Leben, wie mein Sohn, auf den sie jetzt aufpasst an meiner statt, weil ja jemand das Geld nach Hause bringen muss und weil ich beide kaum ertrage. Die langen, glatten Haare zu einem strengen Knoten gedreht, an den Schläfen scheint schon lange die Haut durch, rote Ohrringe in den ebenfalls durchscheinenden kleinen Ohren.
Ich werde hungrig, plötzlich und überwältigend hungrig, dieser Hunger reißt mich von der Erde, aus dem Gras heraus, auf die Beine, mir ist übel vor Hunger, über mir die Sonne, die Wiese dreht sich, ein Kaleidoskop in Grün und Gelb, am Rand der Wiese die dunkle Linie der Kastanienbäume, dreht sich zügig mit.
„Willst Du einen Kaffee, Leo?“, flöte ich aus der Küche, während meine Finger die Schublade vor mir durchwühlen, die Hände zittern, und ich muss mich stark darauf konzentrieren, dass meine Bewegungen nicht zu fahrig werden, sonst hört er mich klimpern.
„Wo bist du?!”, schreit Leo irgendwo in der Wohnung, im Halbdunkel, unsichtbar. Seine Stimme ist verwaschen, ich kann sie nicht orten.
„Gleich“, rufe ich, in der Schublade sind nur unzählige Schachteln seiner Medikamente, halb daraus hervorquellende, falsch zusammengelegte Beipackzettel, leere Kapselhüllen, bunt verpackte Kondome, ein Päckchen Zigaretten.
Ich schließe die Lade vorsichtig und nehme mir seinen Regenmantel vor, der über einem Stuhl neben dem Küchentisch hängt. Säuberlich auf der Lehne platziert, nicht so hingeworfen wie meine Jacke, schwarze Falten von weichem leichtem Stoff, unter denen ein brauner Schuh hervorragt, der Pfennigabsatz ist abgetreten. Ich sollte zum Schuster. Ich sollte zum Arzt. Seit Tagen quälen mich brennende Schmerzen im Unterleib, die ich mit sanftem Druck meiner Hände wieder in mich zurück treiben will, in mich hinein und dann ganz weg.
„Ich komm gleich“, lüge ich. Meine manikürte Hand verschwindet in seinen weiten Manteltaschen, ich gleite in sein Geheimnis hinein, das ich unbedingt lüften möchte, und wühle in ihm herum, wie er in mir wühlen würde, wenn er noch könnte. Ich ertaste ein Feuerzeug, ein Papiertaschentuch, Kleingeld. Die andere Tasche ist leer. Nehme einen Schluck kalten Kaffees aus seiner Schale, die noch auf der Küchenzeile steht, ein kleiner Rest dunkler Pfütze, abgesetzt am Boden. Wenn ich Glück habe, ist er schon eingeschlafen. Die Federn im Bett quietschen, er wälzt sich von einer Seite auf die andere. Wenn er seine Schlüssel in der Hosentasche verborgen hat, muss ich bis zum Einbruch der Nacht warten, warten auf den Ruck, mit dem er den obersten Knopf öffnet, auf das Rascheln des Jeansstoffs an seinen stämmigen Waden entlang, auf seine schwitzige Wärme an meinem Bauch, an meinem Rücken, auf das pfeifende Geräusch, das seiner Kehle entweicht, wenn er endlich eingeschlafen ist. Ich klopfe die Jacken ab, die alte Uniform, ich sehe unter den Bergen von alten, feuchten Zeitungen nach, die den Boden bedecken. Im Eck steht ein verwaistes Katzenkistchen, der Kater ist schon weg, er hat ihn zu seinen Eltern bringen lassen, obwohl das Tier ihm in schlaflosen Nächten Entspannung brachte. Ich bin ein billigeres Tier, das sich selbst versorgen kann. Es ist ein undefiniertes Gefühl, das mich angespannt und sinnlos im Vorzimmer im Halbdunkel stehen lässt, fast so, wie meine Mutter in unserem stand, als ich wieder einmal fortging, mit starrem Blick, der kein Gegenüber sucht und auch keines braucht, ich muss also schon wieder an meine Mutter denken und dann unvermeidlich an meinen Sohn.
Ob er auch so übel schwitzend am Bett meiner Mutter kniet, mit heiserer Stimme um Aufnahme bittend, dann fordernd. Im Dunkeln könnte alles wahr sein, was ihm seine Bilder im Kopf einreden wollen. Ob sie wohl aus ihrem immer leichten Schlaf erwacht, in der Hoffnung, der Atem an ihrer Wange könnte der ihres Mannes sein, endlich, und wie lange es wohl dauert, bis die Enttäuschung sie vollends aufweckt und die Träume sie endgültig der realen Finsternis um ihr Bett überlassen, in der bloß mein Sohn ist und sie, niemand sonst. Sie sehen sich an, unverwandt sehen sie sich wohl an, ich sehe sie sich unverwandt ansehen, im Dunkeln, es ist noch lange kein Morgengrauen, mit wütender Angst, mit der Gewissheit, etwas Falsches zu bekommen, etwas Enttäuschendes, etwas, das sie nicht gesucht haben, aber ohne das sie auch nicht weitermachen können, er in seiner Sehnsucht befangen, sie in ihrer Hoffnung, vereint durch die Bande, die ich ihnen aufzwinge mit meiner immer wiederkehrenden Abwesenheit. Draußen bellt ein Hund, der vom Nachbarn wahrscheinlich, den die zuschlagende Kinderzimmertür geweckt hat, die polternden Schritte im Gang, weil er den Lichtschalter nicht findet und sich in seiner Unruhe nicht orientieren kann und gegen unsere alten Bauernkästen prallt. Ich sehe mich neben ihm stehen, dort im finsteren Gang zwischen den bemalten Bauernmöbeln, den rauen Teppichläufer mit eingewebten roten Hähnen unter meinen bloßen Fußsohlen, wie ich meinen Kopf müde an seine Schulter lege. Er riecht so vertraut wie nichts sonst auf der Welt, ich kann die erbrochene Muttermilch an seinen Mundwinkeln noch riechen, ich lege meinen Kopf mit allem Gewicht an seiner Schulter ab und sage: „Wann stirbst du endlich.”
Leos Wohnung hat zwei große Fenster, gegenüber die Wand des Hauses auf der anderen Seite der schmalen Gasse. Straßenbahnen halten direkt vor dem Eingang, ihr schrilles Bremsen reißt Leo jede Nacht aus seinem Schlaf, den er sucht und sucht und so selten findet, wenn er ihn brauchen kann, in der Früh ist er benebelt von dem Schlaf, der ihn nun umso fester in seinem Griff hält, ihn verhöhnend, hat er doch die halbe Nacht auf der Jagd nach ihm verbracht und ist trotzdem nur Sammler geblieben, Minutenjäger, Stundenzähler, Erbsenklauber, Haarspalter.
„Mein Schlaf“, sagt er, als hätte er ihn geerbt, erworben, mit Vertrag gepachtet, und als würde er nun um ihn betrogen werden, täglich aufs Neue, was ihn zusehends empört, wie jeden anderen auch, der um sein Hab und Gut geprellt wird durch undurchsichtige Gaunereien. Er übt schon für seinen großen Schlaf, der vermutlich unmittelbar bevorsteht, und wie jeder, der seinem Hobby mit Hingabe frönt, möchte er dabei nicht gestört werden. Stundenlang liegt er auf dem Rücken, die Hände mal andächtig, mal majestätisch über dem hoch aufragenden Hügel des Bauches auf die Brust gelegt, auf der sich graublonde Haare wie kleine, feuchte Schlangen einringeln.
Mal sieht er stundenlang an die Decke, die Spinnweben in den Ecken habe ich entfernt, damit nicht alles, was er sieht, ihn an Verfall erinnert, geblieben sind die von der Sonne ausgeleuchteten Umrisse des Lusters, den seine Exfrau mitgenommen hat. Er betrachtet das abgenutzte Kabel, das sich aus einem falschen Stuckgeschwür auf der Decke windet, den leeren weißen Ring der Aufhängung, die kleinen Fetzen, die sich aus dem Kabelgeflecht lösen. Knipst die Tischlampe an, die ich ihm auf sein Nachtkästchen gestellt habe. Dann fixiert er seine aufgedunsenen Füße, die unter der Decke hervorsehen. Breite gerillte Nägel. Leo verbringt viel Zeit liegend. Sein Leben verläuft in den kurzen Schüben meiner Aufmerksamkeit und den ausgedehnten Zeitinseln dazwischen. Seine Eltern rufen oft an und er legt auf oder er hebt gar nicht erst ab. Sie möchten ihn abholen, sie möchten ihn ins Spital fahren, seine Sparbücher in Sicherheit bringen, sie wollen mich erwischen, mich dabei erwischen, wie ich den letzten Rest aus ihrem Sohn sauge, aber ich bin vorsichtig wie jeder Vampir und Leo ist aggressiv ihnen gegenüber und sie stehen oft vor verschlossenen Türen und läuten lange und hoffnungslos und vergeblich.
Die Fenster von Leos Wohnung gehen auf eine Gasse, dunkel und schmal, geschützt von den hellen Spinnweben der Spitzenvorhänge. Ich schätze die Ruhe, die mir die Österreicher vor ihren Belangen gewähren, ich beobachte lieber den roten Weihnachtsstern im weißen Topf mit Goldrand, als dass ich ihre Boshaftigkeiten beobachten muss, die sie sich und anderen täglich bereiten. Umso mehr macht mich das aggressive zur Schau stellen von angeblich Intimem wütend, wie Leos Nachbarn in der Wohnung schräg gegenüber es gerne machen. Dieses Sichzurschaustellen ist billig, denn es geschieht ohne Not und Grund, es ist so verwerflich, dass mir die Galle in meinen Hals hochsteigt und ihn satanspilzgelb verätzt. Von weitem erkenne ich bereits ihr Fenster, die zur Seite gezogenen grünen Stoffbahnen, ihre nackten Körper in Bewegung, ich weiß, dass sie nur darauf warten, Leo mit ihrer provokanten Funktionalität zu beschämen, und weiß, dass ich gleich töten könnte, reißen wie ein Ungeheuer, faule Eier hinüberwerfen, Leos gebrauchte Klobürste wie einen Morgenstern hinterher. Ich könnte wegsehen. Wegsehen ist Mutters Spezialität, nicht meine. Das kopulierende Pärchen grinst. Vermutlich halten mich die beiden für die Ehefrau eines Spießers, schon etwas verwelkt, mit Bausparvertrag und einer Kosmetikerin ums Eck, die mir den Damenbart wegharzt. Eingesetzt im Rahmen von Leos Fenster, von Leos Leben werde ich harmlos, zahm, bürgerlich. Meine kurze Atempause, ein vorübergehender Rastplatz, ganz anders als die übrigen Rastplätze meines Weges, verstreut an Autobahnen und Vororten von Industriestädtchen. Wenn ich abends das Haus verlasse, um das Geld zusammen zu bekommen, auf das drei Menschen warten, stelle ich mich niemals ohne Grund zur Schau.
„Leo“, frage ich also scheinheilig, „willst du mit mir Darts spielen?“
Leo drückt sich mit dem Ellbogen von seinen vielen Kissen hoch, sein Tablett mit dem leeren Geschirr gerät in Schieflage, er erwischt nur mehr seine Tasse, der Teller, aus dem er eben noch Bortsch geschlürft hat, scheppert zu Boden und übrig gebliebene Rübenstücke fallen heraus, akkurate tiefrote Quader. Sie fallen wie kleine Würfel auf ein riesiges Spielbrett aus Holz, und ich bin in Spiellaune, noch viel mehr als vorher.
„Hier?“ Leo sieht mich fassungslos an. „Ich habe seit zwei Jahren nicht mehr gespielt“, sagt
er, „woher weißt du, dass ich überhaupt gespielt habe? Ich habe dir nichts davon erzählt.“
Ich verfluche meine Wut, die mich zu unkontrollierten Aktionen hinreißt. Natürlich hat er mir nichts davon erzählt, so wie er nichts erwähnt, was mit seiner Exfrau zusammenhängt, dieses Kapitel seines Lebens ist zwar nicht abgeschlossen, aber gut zugesperrt. So gründlich wie die Lade in seiner Kommode, die ich während meiner Streifzüge durch die Wohnung längst entdeckt habe, ebenso wie den Schlüssel, den er in seinem ehemaligen Schreibtisch versteckt, der zum reinen Lagerplatz mutiert ist. Alle Tage wieder erklärt er mir, dass er heute daran gehen wird, diesen Tisch in Ordnung zu bringen, um endlich seine berufliche Korrespondenz weiter zu führen, in sein Büro zurückzukehren, in sein Dienstauto. In seine Welt, weit weg von meiner.
Er hat mich keinem einzigen Bekannten vorgestellt, ich habe gehört, wie er seinem Nachbarn aus dem Stock darüber erklärt hat, ich sei eine günstige Putzfrau, und ich weiß auch, dass er angenommen hat, ich würde ihn nicht verstehen, weil er mit schwacher Stimme und starkem Dialekt gesprochen hat.
Ich aber bin sehr hellhörig. Versuche all sein Kontaktaufnehmen zur Außenwelt zu verstehen, zu katalogisieren und einzuschätzen, alles, was er an Hilfe von auswärts bekommen könnte, macht mich unnötiger und gefährdeter. Ich ertappe mich dabei, dass ich eifersüchtig werde auf diese Fluchtversuche, die völlig harmlos sind: Seine Nachbarn wissen Bescheid, sie haben sich, bevor ich kam, über die Gerüche, die aus seiner Wohnung drangen, bei der Hausverwaltung beschwert, ohne ihm in irgendeiner Weise zu helfen oder ihn wenigstens über ihr Vorhaben zu informieren.
Ich sage mir das vor, immer und immer wieder, trotzdem überkommt mich ab und zu eine leichte Unruhe, die mich durch Leos Wohnung treibt, seine Telefonanrufe durchgehen lässt, seine Post. Manchmal kommen Genesungswunschkarten, zuerst noch viele, später immer spärlicher, die ich öffne, lese und entsorge. Manche klebe ich vorsichtig wieder zusammen und überreiche sie, wenn ich Lust darauf habe. Dass seine Exfrau so lange nichts mehr von sich hören lässt, wundert ihn, er kann nicht glauben, dass seine Kollegen auf ihn vergessen haben. Ich antworte darauf wie jedes Mal in solchen Situationen, geduldig und mütterlich, sanfter als meine Mutter jemals gewesen wäre, die meine Stirn mit wesentlich gröberen Bewegungen kühlte, als sie unsere Schwelle wusch, und das grobe Kühlen der Stirn war noch eine Zärtlichkeit im Vergleich zu ihren Prügeln, die einen aus dem Hinterhalt trafen, unerwartet und umso entwürdigender.Ich spüre die Bewegung ihrer Hände augenblicklich wieder auf meinem Körper, schwebend wie der Taktstock eines Dirigenten, präzise gesetzte Schläge, und schon spielen wir ihre Musik, eine Runde und dann die nächste, und irgendwann macht mir dieses Spiel sogar Spaß, und ich unternehme Dinge, von denen ich weiß, dass sie Prügel nach sich ziehen, weil ich ihr beweisen möchte, dass es mir egal ist und ich gewonnen habe.
Die Hände der Kinder und auch meine warm, glatt, gemeinsam, ich aus der Sauberkeit meines Elternhauses herausgelöst, vereint mit all den Ziegenhütern und Gänsehirten des Dorfes. Wir schreien, wir lachen, wir stoßen einander um und wälzen uns im Dreck, panieren uns mit Sand, warmes Wasser spritzt unter unseren Fingerkuppen hervor und sprenkelt allen ohne Ausnahme Sommersprossen in die Gesichter, und wir sind endlich alle ein sommerlich unbekümmertes, lärmendes Wesen, zehnmal so groß wie die Erwachsenen und zwanzigmal so laut. Ich kneife die Augen zu, die Haut des Nachbarmädchens, das ich nur von Weitem kenne, weil ich nicht aus unserem Haus hinaus darf, streift meine und ist Samt.
Umso unerwarteter trifft mich der Schlag, gezielt und kräftig auf meinen Hinterkopf. Der Unterkiefer schlägt mit voller Wucht auf den oberen, die Zähne aufeinander. Die Stimmen verwischen kurzfristig zum Rauschen, das zum salzigen Geschmack in meinem Mund gerinnt. Minuten später sitze ich an unserem Küchentisch, während sie mich schweigend mit zu heißem Wasser und schnellen Bewegungen reinigt, und ich spucke Seifenlaugenreste in ein blutiges Taschentuch. Ich weine nicht. Ich sammle die ekelhaft schmeckende Flüssigkeit in meinem Mund, schwenke sie einmal von links nach rechts und wieder zurück und lasse sie ins rosige Papier tröpfeln, während das Handtuch aus grob gewebtem Stoff flammende Flächen auf meiner Brust hinterlässt, die zwischen den Bewegungen meiner Mutter aufleuchten, als würde sie mich bemalen. Ikonenrot.
„Spiel mit mir, Leo“, fordere ich nochmals. Ich habe zwar die Tafel gefunden, aber keinen einzigen Pfeil, weder in der versperrten Lade noch in den anderen, und ich will kein Geld ausgeben für die Dinge, die mir außer einem einmaligen Vergnügen nichts bringen werden.
Leo lächelt unsicher, er kennt mich als Tobende und Versorgende, aber nicht als Verspielte.
„Ich weiß nicht“, murmelt er und wirft die Decke beiseite.
Unter der Decke kommt ein Schwall Wärme hervor, ich empfinde den Geruch mittlerweile als vertraut, und er stört mich nicht. Ich erwische mich dabei, dass dieser Geruch mir hilft, in langen, rastlosen Nächten doch noch in den Schlaf zu sinken, steinschwer zu fallen, durch Leos Arm, den er um mich gelegt hat, durch die Polster und die Matratze mit der Gummiauflage, das Betoneisenskelett des Hauses und die asphaltierte Straße hindurch bis in tiefes, weiches Erdreich, das mich endlich auffängt.
„Sag mir, wo die Pfeile sind“, muntere ich ihn auf und streiche zart über seine Haut.
Leo legt mir seinen Arm um die Schultern und hängt sich mit vollem Leogewicht an mein Rückgrat. Ich ziehe ihn weiter, bis er halb aus dem Bett heraushängt wie ein Darm aus offener Wunde.
„Ich komme nicht raus“, stößt er hervor. Er klingt, als ob er den Tränen nahe wäre, sie aber mit aller Kraft unterdrückte. Ich bin gnadenlos, ich zerre weiter an ihm.
„Komm, Leo. Das geht.“
Ich will nicht daran glauben, dass er in diesem Bett mit mir bis ans Ende der Tage liegen wird, ich will nicht mit ihm gemeinsam unter seiner vertraut stinkenden Decke gefangen sein, ohne eine Aussicht, dieses Zimmer je wieder zu verlassen.
Ich kippe ihn mit Anstrengung zurück auf die Polster und gehe suchen.
„Im Arbeitszimmer, im kleinen Kasten. Im Federpennal“, weist mich Leo laut an.
Das Kästchen kann ich erst öffnen, nachdem ich ganze Stöße von Zeitungen und Arbeitsunterlagen beiseitegeschoben habe, sie fächern sich vor mir auf wie Nastjas Tarotkarten, ich ziehe wahllos eine heraus, sie lautet: „Sehr geehrter Herr Brandstegl, wir haben bereits für Ihre Vertretung gesorgt ...“
Der Name ist unleserlich, Leo hat eine Kaffeetasse auf dem Brief abgestellt, viele Male, absichtlich. Ich drehe das Blatt, die Unterschrift ist jetzt oben, Leos Name unten, kopfüber hängend. Leo ist der Gehängte, Brief ist Karte, und alles ist anders.
„Hast du’s?“, schreit Leo aus Leibeskräften aus seinem Krankenzimmer heraus, und ich antworte nicht, ich lasse die Leotarotkarte auf den Haufen seiner restlichen Geschichte fallen und greife ins Kästchen und finde das Pennal. Ein Skateboard ziert die Seite, die man beim Aufziehen des Reißverschlusses aufklappt. Ich nehme den Pfeil heraus, und beeile mich, das Theater hat mich viel Zeit gekostet. Ich werfe das Pennal auf den Boden und die Türe hinter mir zu und laufe ins Vorzimmer.
„Hast du’s?“, wiederholt Leo, als ich an seiner Tür vorbeigehe, in den Flur, zum geöffneten Fenster, auf dem das junge Mädchen halbnackt hockt und sich in der Sonne räkelt, und als sie ihren Blick faul in meine Richtung gleiten lässt, ziele ich und werfe und verfehle dieses grüne freche Auge nur knapp. Sie schreit und greift nach ihrer Schulter, aus der Leos abgekauter Plastikgriff ragt, der rostige Pfeil in ihrer Haut, die schon von einem kleinen karmesinroten Tropfen benetzt ist, und ich nutze den Moment und ducke mich unter dem Fenster und schleiche lautlos in den Gang zurück.