Linus Reichlin, D

Geboren 1957 in Aarau, lebt in Berlin. Schrieb zunächst Kolumnen und Reportagen,
für die er mehrere Preise, darunter den Ben
Witter-Preis der ZEIT und den Zürcher Journalistenpreis erhielt.

Für den Bewerb vorgeschlagen wurde Linus Reichlin von Jurorin Meike Feßmann.

 

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Videoporträt

 

 

Linus Reichlin


Weltgegend

 

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

© 2011 Linus Reichlin

 

1

In einem Dorf mit einem lateinisch klingenden Namen schoss Martens auf zwei Männer und erkannte im selben Augenblick, dass er sich geirrt hatte. Die Frau fiel in den Staub, ihre Arme bewegten sich unnatürlich, Martens schloss die Augen. Ich bin Arzt, dachte er. Ich bin Arzt. Rein und fromm werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Rein und fromm. Das war der fünfte Paragraph des hippokratischen Eides, Martens versuchte sich an den ersten zu erinnern. Wie lautete der erste? Wer sich an den fünften erinnern konnte, für den durfte doch der erste keine Schwierigkeit sein. "Ich schwöre", murmelte Martens, "und rufe Asklepios und Hygeia … ich rufe Apollon, den Arzt und Asklepios und Hygeia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an." Er war Arzt und er war bewaffnet, weil die Anderen ein Kopfgeld auf ausländische Ärzte ausgesetzt hatten. Und er war ein guter Schütze, aber als Arzt hätte er das gar nicht sein dürfen, jetzt rächte es sich. Und dann, dachte er, und dann, wie geht der Eid weiter, zweiter Paragraph? Die Lebenden ruf' ich, die Toten beklag' ich, die Blitze brech' ich. Das passte nicht dazu, aber das hatte ihm immer gut gefallen, das Motto aus Schillers Glocke. Mal sehen, ob ich das noch auf lateinisch hinkriege, dachte er. Vivos voco, mortuis plango. Fulgaro frango. Hieß es mortuis oder mortuos? Es war schwierig, das zu entscheiden, denn sein Kopf dröhnte noch von der Bombe, die die Anderen vorhin ferngezündet hatten. Sie verkabelten Nokias mit der Zündvorrichtung, und dann riefen sie die Bombe an. Weil sie keine Freunde haben, dachte Martens. Der Gedanke löste einen hysterischen Lachreiz aus, er biss sich in die Hand, die zwischen seinen Zähnen zitterte. Die Detonation hatte die Vorderachse des Fuchs geknickt wie ein Streichholz, mein Krankenwagen, dachte Martens, ich rette Leben, wenn man mich lässt. Martens lag im Schatten des demolierten Wagens, die Reifen stanken verschmort. Er hörte jemanden etwas rufen. Er öffnete die Augen. Es waren zwei Frauen. Die eine lag im Staub, die andere schrie etwas in seine Richtung. Sie packte die Verletzte an beiden Armen und schleifte sie unter großer Anstrengung über die Gasse. Das alles konnte nicht wahr sein. Nicht drei Tage vor der Heimreise. Eine Sandale hing am Fuß der verletzten Frau, und kurz bevor die Frauen hinter einer schmalen hölzernen Tür in einem Lehmhaus verschwanden, löste die Sandale sich vom Fuß und blieb liegen.

 

Jetzt war wieder alles wie vorher. Eine friedliche, gleichgültige Gasse, links lehnte sich ein weißer Toyota Corolla an eine Lehmmauer, rechts befand sich das Haus, in dem die Frauen verschwunden waren, der Staub stand in der heißen Luft, die Sandale lag in der Mitte der Gasse.

Lass dir Zeit, dachte Martens. Es war noch nicht entschieden, ob er sich alles nicht nur eingebildet hatte. Er musste nachdenken, rekapitulieren. Dabei störte ihn das permanente Knattern hinter ihm. Die Anderen knatterten, die Eigenen, Niehoff, Khalili, Petersen und ein paar aus einem neuen Kontingent knatterten zurück.

"Ruhe!", schrie Martens, aber die Eigenen waren zu weit weg und die Anderen noch weiter, und die Bitte um Ruhe wurde in solchen Momenten sowieso nie erfüllt. Er hielt sich die Ohren zu. Von des Krieges Lärm wenden wir uns ab, um den Rehen beim Grasen zuzuhören. Von wem war das? Er konnte sich nicht erinnern. Rein und fromm, dachte er, ich bin Arzt. Dass er das so häufig dachte, beruhigte ihn. Es bedeutete, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass er unter Schock stand und seinen Wahrnehmungen nicht trauen konnte. Ja ist es denn ein Wunder! Er dachte es mit der Melodie, die er von einem Rocksong kannte, ich bin heiß, du bist heiß, ja ist es denn ein Wunder! Die Bombe war doch direkt unter ihm explodiert, er hatte im Fuchs auf dem Vordersitz gesessen und gegähnt, weil er gestern Nacht auf der Rückseite von Bremen mit Nina Voigt Verkehr gehabt hatte, wie sie das nannte, und bei ihr stimmte es auch, es ging um Vortritt, Geschwindigkeitsbegrenzung und Abschleppen. Er hatte gegähnt, und zu den wenigen Vorteilen dieser Weltgegend gehörte es, dass ein simples Gähnen im richtigen Moment das Platzen des Trommelfells verhindern konnte. Die Bombe war explodiert, und die Druckwucht der Detonation hatte Martens' Seele aus seinem Körper gepresst, einen Augenblick lang hatte er sich von außen gesehen: sein verzerrtes Gesicht, der vor Schrecken dumpfe Blick, fast dümmlich, in Todesnähe fiel offenbar alle Intelligenz von einem ab. Er war einer enormen feindlichen Gewalt ausgesetzt gewesen, und dann kein Schock? Unwahrscheinlich, dachte Martens. Die Sandale, das war die plausibelste Erklärung, hatte schon vorher dagelegen, er hatte sie nur einfach erst jetzt bemerkt, und sein Gehirn, ein einziger Schüttelbecher, hatte traumartig zu der Sandale eine Geschichte halluziniert, zwei Männer, die hinter dem weißen Toyota hervorsprangen, und natürlich waren es in Wirklichkeit Frauen, und am Schluss blieb nur die Sandale übrig: Es war eine sich sukzessive verringernde Halluzination, es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Sandale bald auch noch verschwunden wäre.

 

Er schloss die Augen, schaute wieder hin: Die Sandale lag noch da, aber bestimmt nicht mehr lange. Dass der Lauf seines Gewehrs heiß war - und die Erhitzung stammte nicht von der Sonne - und dass das Gewehr außerdem nach Schießpulver roch, ein kerniger, angenehmer Geruch, wie Martens immer fand, bedeutete gar nichts. Sein Vater hatte im Spätstadium seines Weinkonsums eines Abends mit der Pump Action ein tellergroßes Loch in den Perserteppich vor dem Fernseher geschossen, ein Teppichloch, wie es die Polizei von Furtwangen im Schwarzwald noch nie gesehen hatte. Sein Vater behauptete ins Protokoll, zwei Einbrecher seien eingedrungen, aber dafür fand sich nie ein Beweis. Natürlich habe ich etwas gesehen, dachte Martens, und ich habe geschossen, ja ist es denn ein Wunder? 15.000 Dollar Kopfgeld auf ausländische Ärzte, jeder Arzt im deutschen Lager lief mit dieser Zahl herum, die ein Gerücht sein mochte, was die Höhe betraf, aber 5.000 wären schon Grund genug gewesen, zu schießen, wenn man Gestalten oder niemanden hinter einem Wagen hervorspringen sah. Zuerst sprengten die Anderen das Sanitätsfahrzeug in die Luft, danach versuchten sie, sich den Kopf des Arztes zu holen, für mich war das logisch, dachte Martens. Ich habe zwei Männer gesehen, die nicht da waren, dachte er, aber sie hätten sehr wohl da sein können

Er blickte wieder hin, und die Sandale lag stur an ihrem Ort.

 

"Ich bin Arzt", sagte Martens, als Khalili sich neben ihn legte, Khalili roch wie Martens' Gewehr, nur stärker. Es tat Martens gut, den Freund neben sich zu haben. Jetzt konnte eigentlich alles nur besser werden.

"Ach, du bist Arzt?", sagte Khalili. "Freut mich. Ich bin Dolmetscher aus Kreuzberg. Weißt du, wer ich bin?"

Martens nickte.

"Schau mich mal an", sagte Khalili.

Martens schaute ihn an, es war ein Vergnügen. Er mochte Khalili, er mochte ihn wirklich. Khalili war das Beste an dieser Weltgegend, Khalili war ein Fund fürs Leben. Wenn ich zu Hause geblieben wäre, dachte Martens, hätte ich ihn nie kennengelernt, und es wäre ein Verlust gewesen.

"Du schielst", sagte Khalili. "Könnte eine Gehirnerschütterung sein."

Umso besser, dachte Martens. Commotio cerebri, leichtes Schädel-Hirn-Trauma, jetzt fiel ihm ein, wie das Dorf hieß, in dem sie lagen: Quatliam. Ein Name, der in einem lateinischen Vers keineswegs fremd wirkte: Quatliam esse delendam.

"Ärzte sollten nicht bewaffnet sein", sagte Martens. "Es ist zynisch."

"Ja", sagte Khalili. "Ich bin auch der Meinung, dass wir gerade eine Menge philosophischer Probleme haben. Und mit unseren Brüdern da drüber kann man einfach nicht diskutieren. Deswegen lassen wir die jetzt hier allein."

Hinter der Lehmmauer, die die Anderen von den Eigenen trennte, schoss eine schmale Säule hoch, wie die Fontäne eines Springbrunnens, dessen Wasser in Staub verwandelt worden war. Der Wind fächerte den Staub auf, in der Sonne glitzerten kristalline Teile.

Khalili schwenkte seine Hand vor Martens Gesicht hin und her. "Hallo?", sagte er. "Hast du gehört? Wir verlassen diesen Ort. Heute ist nicht unser Tag."

"Ja", sagte Martens.

Er löste sich von der glitzernden Schönheit der Staubfontäne und blickte in die Gasse.

Die Sandale war weg.

In seinen Ohren rauschte das Blut. Er konnte hören, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte.

Er blickte ins Blätterwerk eines dünnen Baumes, der sich über einem der Lehmhäuser erhob. Grün erfrischt die Augen. Martens wollte ganz sicher sein.

Er blickte wieder hin.

Die Sandale war weg.

Er zitterte am ganzen Leib vor Erleichterung.

"Warte!", sagte er zu Khalili, als dieser aufstehen wollte. "Siehst du da eine Sandale? In dieser Gasse. Liegt da eine Sandale?"

Khalili blickte kurz hin.

"Nein, da liegt keine Sandale. Warum? Siehst du eine?" Khalilis besorgter Blick wärmte Martens. Auf Khalili konnte man sich verlassen, eine Welle der Euphorie flutete durch ihn, alles in Martens prickelte, er sagte: "Kein Problem."

Er griff nach Khalilis Arm, Khalili zog ihn hoch.

"Mir geht's gut", sagte Martens, zwischen seinen Füßen und dem Boden lag weicher Gummi, Martens schwankte, aber Khalili stützte ihn zuverlässig.

"Alles in Ordnung", sagte Martens, und tatsächlich war jetzt alles geklärt. Erst zwei Männer, dann zwei Frauen, dann eine Sandale, jetzt auch keine Sandale mehr, seine Selbstdiagnose stimmte: Belastungsreaktion, leichte Gehirnerschütterung. Aber es ging aufwärts, seine Seele gesundete bereits, um das Gehirn ging es nämlich gar nicht, obwohl ein Neurologe das bestritten hätte. Nein, seine Seele, von der Explosionswucht aus dem Körper förmlich rausdrückt, war wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, und im wiedererworbenen Zusammenspiel von Empfindung und Verstand hatte eine halluzinierte Sandale keinen Platz mehr. Da lag keine Sandale, und das bedeutete, dass in Wirklichkeit gar nichts geschehen war, außer dass Martens auf Trugbilder geschossen hatte.

Es liegt in der Familie, dachte er.

 

 

 

2

Begleitet von den Abschiedsschüssen der Anderen rumpelte der Dingo über die Staubstraße. Khalili und Petersen schaukelten im Rhythmus der Unebenheiten. Martens stemmte die Beine gegen den Wagenboden, um die Stöße der Schlaglöcher nicht ungefedert ertragen zu müssen, sein Kopf reagierte auf Erschütterungen empfindlich. Durchs Lukenfenster des Wagens fiel Sonnenlicht in einem Winkel, der einen schmalen Strahl erzeugte, und dieser Strahl hatte etwas Hoffnungsvolles, fand Martens. Der Strahl illuminierte die Mündung von Felders Gewehr, die Mündung glänzte, und Felders Hände waren die eines Fleischers. Aber als der Wagen um eine Kurve fuhr und das Sonnenlicht nun von der Mündung zu Felders Händen glitt, waren es die Hände eines Fleischers, der in seiner Freizeit Mandoline spielte.

"Spielst du Mandoline?", fragte Martens.

"Was?" Es war laut im Wagen, Martens wiederholte seine Frage.

"Schlagzeug!", rief Felder. "Warum?"

Martens hob die Hände. Es wäre ja auch schwierig zu erklären gewesen. Khalilis besorgter Blick. Na und, dachte Martens, ich hab ihn ja nur gefragt, ob er Mandoline spielt. Lazarett, sagte Khalilis Blick, ich bring dich gleich hin, wenn wir im Lager sind. Nicht nötig, dachte Martens. Khalili schüttelte den Kopf und schaute weg.

"Rauchen ausnahmsweise erlaubt!" , rief Niehoff nach hinten. Niehoff führte diese Patrouille an. Niehoff sagte über sich selbst: "Langer Schwanz, kurzer Verstand." Niehoff liebte das Leben, wenn man mit ihm unterwegs war, kam man unverletzt zurück, und wenn nicht, war es Schicksal. Niehoff stellte keine Gefahr dar, weder für die Anderen noch für die Eigenen, sie liebten ihn alle. Khalili, Petersen, Felder zogen unter ihrer Schussweste die Zigaretten hervor, Martens hatte seine letzte vor der Abfahrt geraucht, im Lager, Abfahrt in dieses Dorf, in dem die Bombe explodiert war, wenn er daran dachte, wurde ihm übel. Explosion war nicht das richtige Wort, es war nicht das Wort für ein Gefühl, als würde man zwischen zwei Stahlplatten zerquetscht. Dass die Anderen ihm diese radikale Gewalt antaten hatte er nicht verdient, es war eine verfluchte Ungerechtigkeit.

Khalili setzte sich neben ihn, bot ihm eine Zigarette an.

Martens griff sich eine aus der Packung. Khalili zündete das Feuerzeug an. Martens sah die Flamme, sie flackerte, sie sprang hin und her, sie konnte verdammt nochmal nicht stillstehen. Khalili hielt Martens' Hand fest, jetzt klappte es mit dem Feuergeben.

"Jetzt mal im Ernst, Moritz. Das gefällt mir nicht."

"Was?" Martens inhalierte den Rauch tiefer als zu Hause in Berlin, in dieser Weltgegend starb man nicht am Rauchen.

"Wie du die Zigarette angezündet hast. Du konntest die Flamme und die Zigarettenspitze nicht zusammenbringen."

Gut, dachte Martens. Motorische Störungen. Ein weiteres Symptom der Gehirnerschütterung.

"Schon möglich", sagte er. "Ich gehe ins Lazarett. Gleich wenn wir im Lager sind. Ich lass es untersuchen."

"Aber nicht von Nina."

"Nicht von Nina."

"Ich behandle keine Menschen, die ich liebe. Sagt mein Vater immer. Andererseits sagt er's vielleicht auch nur, weil ich nicht privatversichert bin."

"Dein Vater hat recht. Ich werde mich von Loeck untersuchen lassen."

"Das ist keine gute Idee. Loeck ist in Nina verliebt. Selbst wenn du eine Kugel im Kopf hättest würde er sagen: Alles in Ordnung, mein Freund. Halten Sie nur immer schön den Finger auf das Loch, dann werden Sie hundert Jahre alt."

"Alle sind in Nina verliebt. Ich kann's mir nicht aussuchen, Tim."

"Dann lass dich von mir untersuchen! Ich bin nicht in Nina verliebt. Meine Liebe gilt allein dem Kampf gegen den Terrorismus. Und ich habe zwei Semester Medizin studiert."

"Ja. Und fünfzig Semester Germanistik."

"Na und? Dann heile ich dich mit Versen, wie der Sayyid. Ich mache dich unverwundbar."

Er zog unter seinem Hemd das Amulett hervor, das er von einem Straßenheiligen gekauft hatte, ein in Leder gewickelter Koranvers mit einer Chilischote. Khalili küsste das Amulett.

"War heute wieder mal den Preis wert", sagte er.

 

Die Fahrt ins Lager zog sich hin, es waren nur fünf Kilometer, diese aber gespickt mit Schlaglöchern, bevölkert von Ziegen, Martens spürte jeden Meter Fahrt am eigenen Leib. Ein Schmerz hinter seinem Auge verstärkte sich bei jeder Erschütterung, es fühlte sich an wie ein Nagel, der sich durch die Pupille bohrte. Mit tränendem Auge sah Martens draußen die ersten Häuser der freundlichen Stadt, in der sich das Lager befand. Die Stadt war freundlich, weil das Lager den Bewohnern etwas Geld und ein bisschen Schutz verschaffte. Es war eine Freundlichkeit mit knirschenden Zähnen, und als der Dingo plötzlich zum Stehen kam, wurden Khalili, Petersen und alle, die drin saßen, unruhig. Stehenzubleiben war in dieser Weltgegend nicht ratsam, mach es wie die Spitzmaus: in Deckung huschen, kurzer Blick nach links und rechts, nächstes Versteck anpeilen, rüberhuschen, und das den ganzen Tag, und viel essen, denn bei einer solchen Lebensweise werden Kalorien verbraucht.

"Nur ein Unfall!", rief Niehoff nach hinten, aber manchmal begann es so: ein quergestellter Wagen, kein Durchkommen, Enge, ein zweiter Wagen näherte sich von hinten, oder ein Mann rannte plötzlich weg, oder er rannte schreiend auf einen zu.

"Ist nur ein Eselskarren", präzisierte Niehoff. Khalili blickte angestrengt nach vorn, Petersen bekreuzigte sich, Felder betrachtete das Gewehr zwischen seinen Knien. "Weg, weg, weg!", rief Vogel, der Fahrer zum Fenster raus. Martens riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen, er stürzte auf die Knie, bekam keine Luft, die Panik schnürte ihm den Hals zu, durch eine unendlich schmale Öffnung würgte er bitteren Schleim hoch und erbrach sich vor die Füße der Kinder, so viele Kinder. Sie tauchten stets aus dem Nichts auf, mitten in der Einöde manchmal, als hätten die Steine sie geboren. Kinder waren ein gutes Zeichen, wenn sie da waren, schossen die Anderen nicht oder sagen wir ungern. Die Kleineren kamen Martens ganz nahe, sie streckten die Hand aus und berührten sein goldenes Haar. Jetzt kicherten sie, sie waren stolz, dass sie das Haar des Ausländers berührt hatten. Er schmiert sich Farbe in die Haare, sagten die Älteren, nein, nein, er kommt aus einem Land, in dem die Sonne nie scheint, deshalb sind sie so hell. Khalili hatte ihm oft genug übersetzt, was sie über seine Haare sagten.

"Es ist alles in Ordnung", sagte Khalili, er half Martens auf die Beine.

"Tut mir leid", sagte Martens, ihm lief Rotz aus der Nase. "Ich konnte es nicht kontrollieren."

"Es ist nur ein umgestürzter Eselskarren. Komm, schau es dir an. Da ist keine Bombe. Ich möchte, dass du dich davon überzeugst. Es ist nur ein Schuhhändler, zwei junge Kerle sind ihm in die Seite gefahren. Jetzt liegen überall Schuhe rum, schau dir das an!"

Khalili führte Martens zum Geschehen, der Eselkarren lag auf der Seite, das eine Rad drehte sich noch, die Straße war übersät mit Sandalen. Zwei Männer in weißen westlichen Hosen stritten sich mit dem Händler, Niehoff, das Gewehr im Anschlag winkte Khalili zu sich: "Die sollen die Straße freimachen. Sagen Sie ihnen das, aber freundlich!"

Martens hatte ein Pfeifen im Ohr, vor seinen Augen flimmerten weiße, durchsichtige Flocken, sie flimmerten vor den Sandalen, mit denen der Boden bedeckt war, paarweise zusammengebundene Sandalen. Er blickte über all die Sandalen, und in jeder einzelnen steckte das Bild jener Frau, die in den Staub stürzte, die Wölklein, die aufstiegen und eine Weile über dem Körper der Frau schwebten. Die Sandalen brachten auch Töne hervor. Martens hörte die andere Frau, sie rief ihm etwas zu, er konnte sich jetzt an ein Wort erinnern, sie hatte es mehrmals wiederholt.

Khuuree, das Wort drehte sich in seinem Kopf, immer schneller, Khuuree! Khalili verhandelte mit den Männern, die in den Unfall verwickelt waren, aber Martens konnte nicht warten, er zog Khalili von den anderen weg, er musste wissen, ob es noch Hoffnung gab.

"Khuuree", sagte Martens. "Ist das ein Wort? Heißt das etwas?"

"Wie kommst du denn jetzt darauf? Du bist übrigens weiß wie ein Laken."

"Heißt es etwas?"

"Du sprichst es falsch aus. Man sagt: Khooree. Das heißt Schwester. Warum?"

"Nichts", sagte Martens. "Gar nichts." Er schwankte zum Dingo, setzte sich zu Petersen und Felder, einen Moment lang hatte er das Gefühl, nur aus seinem Kopf zu bestehen, er hatte den Zugang zu seinem Körper verloren. Seine ganze Energie konzentrierte sich zwischen den Schläfen, wo das Wort pochte, Khooree, Khooree. Man konnte sich kein Wort einbilden, das man nicht kannte. Ich habe das Wort gehört, dachte er. Wenn ich es nicht gehört hätte, würde ich es nicht kennen. Ich habe es gehört. Und wenn es das Wort gab, gab es die Frau, und wenn es die Frau gab, gab es die Verwundete.

"Das ist meine Schwester!", hatte die Frau ihm zugerufen. "Meine Schwester!"

 

 

 

3

Die Tore des Lagers öffneten sich für den Dingo, das Lager war für die Anderen ein Abszess in der freundlichen Stadt, für die Eigenen aber war es eine Alphütte. Hier war man vor Sturm und Wetter sicher, und abends, wenn die Bierdosen zischten, erzählte man sich Geschichten, die stimmten. Hier wurde nichts erfunden, diese Weltgegend bot selbst schlechten Erzählern genügend Stoff für gute Geschichten. Manche verließen die Alphütte morgens mit glattem Kerbholz, und wenn sie abends zurück kamen, strichen sie mit dem Daumen über eine oder zwei frische, grob herausgeschnitzte Kerben, und ihre Seelen blieben an den kleinen Holzsplittern der Kerbränder hängen wie Zuckerwatte.

Martens betrachtete im Vorbeifahren die mit Kies gefüllten Kugelfänge, mit denen der Zufahrtskorridor zu beiden Seiten gesichert war. Der Schatten des Dingos strich über die Kugelfänge, das Schattenspiel war nichts. Alles, was Martens sah oder hörte war nichts mehr, er fand keine Einstellung mehr zu den Dingen. Die Schüsse auf die Frau trennten ihn von allem. Er saß Knie an Knie mit Petersen und Khalili im Dingo, er hörte sie reden, aber das war alles nur funktional. Das Ohr hörte, das Knie spürte, der Körper verhielt sich wie ein Fließbandarbeiter, der auch dann noch seine Handgriffe verrichtet, wenn auf dem Band gar nichts mehr liegt. Essen, schlafen, scheißen, das alles würde weiterhin funktionieren, nur dass ich nicht mehr dabei bin, dachte Martens. Er war in dem Dorf. Er hatte wieder vergessen, wie es hieß. Er war in dem Dorf und nirgendwo sonst. Ich bin dort zurückgeblieben, dachte er. Das, was von ihm hier war, war ein Gespenst.

 

Auf dem Parkplatz des Lagers stiegen sie aus dem Dingo, die Fahnen der Nationen knatterten ihm Wind, es roch nach Brathähnchen. Niehoff hielt noch eine kleine Ansprache, dann sagte er: "Feierabend."

Khalili legte den Arm um Martens Schulter.

"Unser letzter Einsatz", sagte er. "Die werden uns ja wohl kaum noch mal rausschicken."

Samstag, dachte Martens. In drei Tagen war Schluss, am Samstag flogen sie nach Berlin zurück, am Sonntag waren sie verabredet, Khalili und er.

"Du siehst total käsig aus", sagte Khalili. "So kann ich mich mit dir in Berlin nicht blicken lassen. Wir wollen doch ins Manzoni, das hast du doch nicht vergessen? Sonntag, 20.00 Uhr, Manzoni. Treffen der Veteranen."

"Manzini", sagte Martens. Der Name tat ihm gut, warme Bilder, die Abende mit Anja im Manzini, ihre grünen, kalten Augen, die Liebe steckte bei ihr in den Händen, ihre Haut transportierte ihre Gefühle, sie benutzte die Augen nur zum Sehen. Wie Nina, merkwürdigerweise wurde ihm diese Ähnlichkeit zwischen den beiden erst jetzt bewusst, sie waren beide keine Augenmenschen. Das Manzini, ein wunderbarer Name, aber nichts, woran er sich jetzt halten konnte, das Manzini existierte nicht wirklich. Das Dorf existierte.

"Wie heißt es?", fragte er.

"Was?"

"Das Dorf. Wo wir waren."

"Quatliam."

"Ja. Quatliam." Quatliam, dachte er, damit konnte er etwas verbinden, es war der einzige reale Ort, und dort würde er sich auch wieder finden. Er musste dorthin, weil er dort noch war, jemand musste ihn holen.

"Das geht aber nicht ohne dich", sagte er.

"Was geht nicht ohne mich?"

Martens schwieg. Seine Füße standen auf unsicherem Grund, der Boden neigte sich, breitbeinig wie ein Betrunkener schaute er sich nach einer Sitzgelegenheit um. Er musste sich jetzt einfach hinsetzen, auf das Mäuerchen vor dem Café Lummerland, Martens mochte diesen Namen. Die ersten, die hierhergekommen waren, hatten das Lager Lummerland genannt und abends das Lummerlandlied gesungen: Eine Insel mit zwei Bergen, und im tiefen, weiten Meer … Damals waren die Anderen noch nahe genug an Lummerland rangekommen, um eine Rakete ins Café zu schießen, aber sie war nicht explodiert, die Enttäuschung der Anderen lag jetzt noch in der Luft.

"Aber nur auf eine Zigarette", sagte Khalili. Er setzte sich neben Martens. "Und dann begleite ich dich ins Lazarett."

Sie zündeten sich Zigaretten an, und Martens sagte: "In dem Dorf. Quatliam". Quatliam, dachte er. Ein solcher Name, und ein so unbedeutendes Dorf. Und dennoch war es zum Zentrum seines Lebens geworden. "Ich habe dort etwas gesehen", sagte er.

 

Abends erhob sich in den Bergen ein Wind, er stürzte sich hinunter ins Tal, fegte über die Kartoffeläcker, erfasste die Drachen der Kinder, brach über die freundliche Stadt herein, überwand die Kugelfänge und Schutzmauern des Lagers und blies Staub und Hitze durch die Gassen. Der Wind bauschte die Tarnnetze, machte die Flaggen der Nationen verrückt, und er brachte die Zigarettenspitzen zum Glühen. Khalili setzte die Sonnenbrille auf gegen den Staub, und Martens erzählte, was er in Quatliam gesehen hatte. Er sagte nicht: Ich habe auf die Frau geschossen. Er wollte die Verantwortung nicht allein tragen, er wollte sie mit dem Schicksal teilen, mit unbekannten Kräften, mit Querschlägern, die die Frau getroffen hatten, mit verirrten Kugeln, von denen viele in der Luft waren. Für die Frau spielte es keine Rolle, ob er die Wahrheit sagte oder nicht. Für sie ging es um schnelle Hilfe. Natürlich hätte Khalili es verstanden, wenn Martens gesagt hätte: Ich habe auf sie geschossen. Alle im Lager hätten es verstanden, wer auf der Welt, wenn nicht sie? Aber es zu verstehen, genügte nicht. Sie hätten es verstanden und gedacht: Gott sei dank ist mir das nicht passiert. Das ist kein Aussatz, keine Pest, dachte Martens, ich bin nicht krank, mir ist nur etwas passiert, und es ist mir allein passiert, und ich regle das alleine. Es war sein Recht, es für sich zu behalten. Er hatte nicht das Bedürfnis, etwas zu gestehen, er hatte das Bedürfnis, etwas zu tun.

"Ich weiß, dass Thieke einen Fuchs in Reparatur hat", sagte er. Die Zigarette war zwischen seinen Fingern runtergebrannt, sie versengte ihm die Haut, er warf sie in den Wind. "Thieke ist ein Kunde von dir. Und du hast noch vier Flaschen. Für zwei wird er uns den Fuchs geben."

"Moritz", sagte Khalili. "Wir sind für Sonntag verabredet. Wie heißt es?"

"Manzini."

"Manzini. Das mit dieser Frau, ich verstehe, dass dir das zu schaffen macht. Aber ich glaube, dass du im Augenblick nicht klar denken kannst. Was soll das mit Thieke? Willst du allein in einem Fuchs in dieses Dorf fahren? Überleg mal. Du weißt, dass das bescheuert ist, sonst würdest du Seegemann um Erlaubnis bitten. Das tust du aber nicht. Weil du weißt, dass Seegemann zwar ein lausiger Kommandant ist. Aber sogar er käme nicht auf die Idee, jetzt einen Sanitätstrupp in dieses Dorf zu schicken. Wir haben uns zurückgezogen, und sie haben sich das Dorf geschnappt, es gehört jetzt ihnen. Du wirst da nicht lebend …"

Martens hörte nicht mehr zu. Er beobachtete einen Vogel, der gegen den Wind anflatterte, er kam kaum vom Fleck, er tanzte mit den Windwirbeln, es war ein kleiner, bläulicher Vogel. Es gab hier kaum Vögel, zu wenige Bäume, zu wenig Futter, es gab ein paar Katzen und viele Kampfhunde mit einer Risthöhe von neunzig Zentimetern. Plötzlich gab der Vogel den Widerstand auf, er ließ sich vom Wind packen, und wie etwas Unbelebtes wurde er weggeweht. Das ist nichts Metaphorisches, dachte Martens, das ist einfach nur ein Vogel.

 

"Bist du bei mir?", fragte Khalili. Er schwenkte die Hand vor Martens Gesicht hin und her.

"Lass uns die Flaschen holen", sagte Martens. Er stand auf, er war unendlich müde. "Wir müssen losfahren." Sein Mund war trocken, und da war ein Eisengeschmack, wie von Blut. "Wir holen die Frau und bringen sie ins Lazarett."

Khalili legte den Arm um Martens Schulter.

"Komm, wir gehen ein paar Schritte", sagte er. Er wendete Martens um neunzig Grad, in der Richtung lag das Lazarett. Martens widersetzte sich, drehte sich in Richtung Frankfurt, das war die Baracke, in der Khalili wohnte, in seinem Spind versteckte er die Wodkaflaschen, die er vor fünf Monaten von einem Onkel aus Tadschikistan bezogen und ins Lager geschmuggelt hatte, hundert waren es damals gewesen, jetzt noch vier: Khalili versorgte die Durstigen, er war im Lager beliebt.

"Nicht ins Lazarett", sagte Martens. "Zu dir. Ins Lazarett geh ich, wenn wir die Frau geholt haben. Bei mir ist es nicht dringend, bei ihr schon."

"Das sehe ich anders. Wenn mir einer erzählt, dass er einen Fuchs klauen will, um eine paschtunische Frau aus einem Dorf zu holen, in dem sich zehn oder zwanzig Kämpfer verschanzt haben, dann würde ich schon sagen, dass der Betreffende sich vielleicht besser erst mal im Lazarett untersuchen lässt. Vor allem, wenn vor ein paar Stunden direkt unter ihm eine Bombe explodiert ist."

Es langweilte Martens. Es langweilte ihn, und er war müde bis auf die Knochen, er wollte nicht diskutieren. Vielleicht hatten die Anderen das Dorf übernommen, vielleicht auch nicht. Es machte für ihn keinen Sinn, darüber nachzudenken.

"Ich muss dorthin", sagte er. Zwei Frauen kamen ihnen entgegen, sie hatten sich gegen den Staub bunte Tücher vors Gesicht gebunden, sie trugen Sonnenbrillen, ihre Haarschweife wirkten sportlich.

"Hallo Tim!", sagte die Kleinere, die andere lächelte sportlich. Alles an ihnen war sportlich, sie trugen die Uniform wie einen extravaganten Jogginganzug.

"Hallo Sabine", sagte Khalili, und aus seinem Tonfall schloss Martens, dass Khalili mit ihr geschlafen hatte, dass er es aber nicht noch einmal tun wollte.

Der Wind schob die Frauen an ihnen vorbei, über den Bergen blähte sich die Abendsonne auf.

"Komm jetzt", sagte Martens.

Khalili legte die Hände auf Martens' Schulter.

"Nenn mir einen guten Grund", sagte er, "warum du drei Tage, bevor wir nach Hause fliegen, dein Leben riskieren willst. Und erzähl mir jetzt nicht, dass es deine Pflicht als Arzt ist. Als ich Medizin studierte, sagte mein Vater zu mir: Der beste Freund eines Arztes muss der Tod sein. Du weißt doch, dass du nicht allen helfen kannst, dass sie dir unter den Händen wegsterben. Warum also diese Frau? Warum willst dein und mein Leben für sie aufs Spiel setzen? Nenn mir einen plausiblen Grund, und ich komme mit."

Martens schaute in Khalilis Augen. Und er wusste, dass Khalili es nicht verstehen würde. Es ging nicht um Schuld. Ohne Absicht keine Schuld, es war unerheblich, wer auf die Frau geschossen hatte. Ich muss in dieses Dorf, weil ich dort bin, dachte Martens. Und er war dort, weil er hier war, in diesem Land. Der plausible Grund wäre gewesen: Was ich tue, tue ich, weil ich in diesem Land bin. Aber das hätte Khalili nicht überzeugt, und er brauchte Khalili, als Übersetzer und als Freund, mit dem er die Angst teilen konnte.

"Ich habe auf die Frau geschossen", sagte er.

Khalili blickte weg.

"Das ist ein guter Grund", sagte er. Er umarmte Martens, kräftig und kurz, er ließ ihn gleich wieder los. "Dann holen wir jetzt die Flaschen", sagte Khalili, er rieb sich etwas aus dem Auge.

"Ja", sagte Martens. Wie zwei Fremde gingen sie zur Baracke Frankfurt. Und am drittletzten Tag vor seiner Abreise begriff Martens, nach fünf Monaten, was es bedeutete, hier zu sein.

 

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