PAPIERGEWICHT
Roman
1. Kapitel

Stephan Reimertz

Mein Vater fuhr geradeaus. Der Wagen zog schnell über die Straße, die jetzt einen Kilometer am Fluß entlang lief. Der Fluß hatte unsichtbare Strudel, und es waren viele darin ertrunken, Mensch und Vieh. Mein Vater hatte sogar ein paar gute Schwimmer gekannt, die in dem Fluß ertrunken waren. Durch das hintere Seitenfenster kuckte ich in den Fluß und die Buchten am Ufer. Das Fenster war an einer Schnalle um Handbreit nach außen gestellt. Ein Luftzug wirbelte mir über die Backe, und ich hörte den Sechszylinder-Boxermotor wie von fern. Mein kleiner Bruder war auf sein Polizeiauto gesunken und schlief. Die ganze Fahrt über hatte ich versucht, im "Großen Treck" weiterzulesen. Das Buch lag aufgeschlagen auf meinem Schoß. Aber in der halben Stunde, die die Fahrt dauerte, war ich nur drei oder vier Sätze weiter gekommen. Ich konnte mich nicht konzentrieren.
Es war der letzte Besuch im Dorf für lange Zeit.
Immer wenn wir hier vorbeifuhren, fürchtete ich mich vor dem Fluß. Ich wollte ein guter Schwimmer werden wie mein Vater. In seiner Jugend war er oft durch den Fluß geschwommen. Er war einer von denen, die nie untergingen. Er konnte auf dem Wasser liegen wie auf einer Luftmatratze. Das hatte er mir an der Ostsee gezeigt. Er nannte es Toter Mann.
Vom Rücksitz sah ich meinen Vater halb von hinten. Mit zwei Fingern der linken Hand tippte er ans Lenkrad, die Rechte lag auf dem kurzen Schaltknüppel. Das Kinn gesenkt, sah er durch die Sonnenbrille auf die blendende Straße. Er bewegte den Kopf nicht und kaum das Steuer. Ich sah aber seine Schläfen arbeiten. In seinem harten Kopf schob er schwere Gedanken hin und her. Dachte er an das große Geschäft, die Klinik in Berlin und an das neue Haus? Ich wußte, sein Nacken war stark. Als ich klein war, hatten wir zum Spaß gerungen. Später gab er mir Boxunterricht. Er trug Krawatte, heute wie an Werktagen. Unter dem weißen Hemd waren seine Arme deutlich. Sicher war er immer noch ein guter Schwimmer. Er war lange nicht mehr mit mir ins Schwimmbad gegangen. Ich konnte noch immer nicht schwimmen. Vielleicht hatte er keine Lust, mit einem Nichtschwimmer ins Schwimmbad zu gehen.
Der Wald kam näher, in dem die Kurve zum Dorf lag. Mein Vater nahm die Hand meiner Mutter und legte sie auf den Schaltknüppel. Es sah aus, als schalteten meine Eltern den Gang zusammen herunter, aber ich wußte, daß mein Vater meiner Mutter die Hand führte. Meine Mutter konnte den 911 gar nicht allein fahren. Ich hätte ihn fahren können, aber ich durfte nicht, weil ich erst zehn war. Das war etwas mehr als der halbe Weg zum Führerschein. Vor mir lagen noch acht Jahre; ein langer Tunnel, durch den ich zu Fuß gehen mußte.
Wir fuhren auf den Wald zu. Ich kuckte noch einmal zum Fluß hinunter.
"Wann gehen wir wieder ins Schwimmbad?" fragte ich meinen Vater.
"Wenn du dich heute benimmst", antwortete meine Mutter. "Benimm dich wenigstens heute. Du weißt, es ist das letzte Mal für lange. Und komm ja nicht auf die Idee, zum Bauernhof zu gehen und dich dreckig zu machen!"
Mein Vater bewegte den Kopf nicht. Im Rückspiegel sah er an mir vorbei.
"Gleich kommt die Kurve", sagte er.

Dreieinhalb Jahre waren wir jeden Sonntag durch die scharfe Kurve gefahren. Sie bog ein Viertel nach links, dann ging es den Berg hoch. Der Wald begann, bald kam das Dorf, die Welt der Großmutter und des Bauern Kampehoff, die Welt der Leute, die ich kannte, eine schöne Welt. Auch mein Vater war aus dem Dorf gekommen, aber er hatte es schon als junger Mann auf dem Motorrad hinter sich gelassen. Wenn wir sonntags zur Großmutter fuhren und die Männer im Dorf vor seinem Wagen den Hut zogen, merkte man, daß auch er von hier war. Wir rollten ins Dorf, und die Leute blieben auf dem Weg zur Kirche stehen. Sie hörten auf zu sprechen. Mein Vater fuhr den schnellen Wagen ganz langsam. Die Leute nickten und winkten. Sie hatten ihn schon als Jungen gekannt.
"Dein Vater hat es von allen hier am weitesten gebracht", sagte meine Großmutter. Meinte sie seine weiten Reisen? Schon als Student war er in mit einem Fulbright-Stipendium nach Amerika gefahren, dann durch ganz Europa gereist, sogar bis Rußland. Er hatte einen wichtigen Beruf. Er war Arzt. Er heilte die Kranken in der Klinik, und den Gesunden hielt er Vorträge. Als er nach Berlin kam, um seinen Doktor zu machen, hat mein Vater meine Mutter kennengelernt. Meine Mutter war eine blonde Frau, wie es sie nur in Berlin gibt. An dem besonderen Blond und an der schönen Frisur sah ich es. Und alle anderen mußten es auch sehen, daß sie aus Berlin kam.
Berlin war weit weg. Man mußte zwei Mal über die Grenze, wenn man hin wollte. Meine Mutter sprach sehr gut deutsch. Obwohl sie von weit her kam, sprach sie besser deutsch als die Deutschen, besser sogar als die Leute vom Dorf. Und die Leute vom Dorf sprachen sehr gut Deutsch. Meine Mutter aber sprach nicht das Deutsch der Leute vom Dorf. Sie sprach anders als meine Großmutter, anders als Frau Sprott und Frau Hering und der Bauer Kampehoff. Sie sprach wie die Leute im Fernsehen. Sie zog auch die komischen Gesichter der Leute im Fernsehen. Meine Mutter wäre eine gute Nachrichtensprecherin gewesen. Man verstand jedes Wort. Aber Frauen lasen keine Nachrichten vor. Frauen sah man bloß im Film. In den wichtigen Sendungen sprachen nur Männer. Auch mein Vater hielt wichtige Reden. Aber meine Mutter las sie alle durch, bevor er sie hielt. Oft strich sie ein Wort und schrieb ein besseres darüber.
Als wir in den Wald mit der Kurve fuhren, drosselte mein Vater kaum das Tempo. Er ging ein wenig vom Gas, und der Wagen zog um die Kurve wie auf Schienen. Es war dunkel im Wald, doch ich wußte, daß er in der Kurve wieder Gas gab. Der Wagen fuhr bergan, ohne langsamer zu werden. Er stieß die Straße hinauf und brüllte dabei wie ein Rennboot.
"Man muß schon in der Kurve wieder beschleunigen, um keine Zeit zu verlieren", sagte mein Vater. Er sagte das zu mir, und ich richtete mich im Sitz auf. Mit meiner Mutter konnte mein Vater nicht über das Auto reden. Es gab wenig Frauen, mit denen man über Autos reden konnte.
Mit Frau Blömeke sicher. Mit Frau Blömeke konnte man sicher über alles reden, wenn sie sich nur die Mühe machte, einen zu verstehen. Frau Blömeke konnte auch autofahren. Seit ihr Mann tot war, fuhr sie sogar sehr viel Auto, darum hatte sie meistens keine Zeit zu reden. Mit Schwung fuhr sie auf ihr Grundstück, gegenüber dem Haus meiner Eltern, und hielt ein paar Zentimeter vor dem Garagentor. Sie fuhr einen VW Käfer, genau wie meine Mutter. Hinten drin saß Alfred, der überhaupt nichts mitkriegte.
"Warum spielst du nicht mit dem Alfred?" sagte meine Mutter. "Der ist doch in deinem Alter."
Mit Alfred zu spielen, kam nicht in Frage. Zwar hätte ich das Haus gegenüber betreten können und sehen, wie Frau Blömeke lebte. Doch ich mochte nicht als Spielkamerad ihres Sohnes auf der Matte stehen. Sollte ich klingeln und sagen: "Hallo, Frau Blömeke, kann ich mit Alfred spielen?"
Frau Blömeke hieß Marika, und sie war Österreicherin. Aber sie kam nicht aus Wien.
"Die kommt da unten vom Land", sagte meine Mutter und zeigte mit dem Kinn in die Zimmerecke. "Irgendwo am Ende der Welt."
Meine Eltern erwähnten, daß Frau Blömeke aus "Kratz in der Steiermark" stammte. Kratz in der Steiermark, das war für sie ein Landstrich, wo es im Grunde gar nichts gab, keine Autos, keine Waschmaschinen, kein Leben. Nur ein paar Kühe und eine Handvoll Leute, die nicht viel schlauer als die Kühe waren.
Als Herr Blömeke noch lebte, hatten die beiden Nachbarinnen sich nicht viel zu sagen gehabt. Sie grüßten sich über die Straße.
"Grüß Gott", sagte Frau Blömeke.
"Tach", sagte meine Mutter.
Herr Blömeke stammte von hier. Er war älter als seine Frau. Er hatte eine Glatze, eine Brille mit schwarzem Rand und ein lahmes Bein. Sah man die beiden zusammen, hielt man ihn nicht für ihren Mann, sondern für ihren Vater.
"Der Alte war früher beim Finanzamt", erzählten sich meine Eltern. "Dann hat er auf Steuerberater umgesattelt. Blöd ist der ja nicht."
Herr Blömeke lüpfte den Hut, wenn ich ihn auf der Straße grüßte.
"Na, was macht der Herr Kronprinz?"
Blömekes gingen öfter spazieren, einfach so die Straße entlang; Herr Blömeke mit seinem grauen Mantel, seine Frau mit dem dunklen Haar, der kleine Alfred dazwischen. Sie gingen Hand in Hand, alle drei.
Frau Blömeke fuhr einen blauen Käfer, meine Mutter hatte gerade einen in Orange mit Schiebedach bekommen. Er war etwas breiter und hatte dickere Reifen. Beide Käfer konnte man schon aus der Ferne rattern hören. Ich war jedesmal gespannt, ob es Frau Blömeke oder meine Mutter war. Ich beugte mich über den Tisch. Mein Zimmer lag zur Straße. Im Winter konnte ich Blömekes Haus sehen. Im Sommer war es von Bäumen verdeckt. Ich war enttäuscht, wenn es draußen ratterte, und es kam ein orangener Käfer, kein blauer. Gleich würde der Schlüssel in der Haustür klacken. "Mein Gott, komm doch mal runter und hilf mir beim Auspacken!"
Sie wußte nicht, ob ich zu Hause war, aber sie rief trotzdem. Ich schleppte die Plastiktüten, die Persil-Pakete, die Weinflaschen, die Kästen Bier und Mineralwasser in Küche und Keller.
"Hast du mir was mitgebracht? Hast du Eis gekauft?"
Mit der Zeit konnte ich unterscheiden, welcher Wagen die Straße entlang kam. Der alte blaue Käfer ratterte hell, er klingelte auch. Der neue dröhnte. Die Musik des Sechszylinder-Boxermotors hörte ich sowieso überall heraus. Nur Herrn Blömeke mit seinem Ford Taunus bemerkte man nicht. Wenn drüben das Garagentor quietschte, wußte ich aber, daß er es war, denn er stellte seine blaugrüne Badewanne jeden Abend in die Garage. Ich hatte nichts gegen Herrn Blömeke. Es störte mich nur, daß er da war. Als er dann starb, bekam ich ein schlechtes Gewissen.
Der kleine Alfred Blömeke sah zum Piepen aus. Seine dünnen Haare hatten eine Farbe, für die es keinen Namen gab. Sie standen immer ab, als hätte er in die Steckdose gefaßt. Wenn man ihn vor dem Haus traf, starrte er Löcher in die Luft. Sein Blick war nicht zu fangen. Und so jemand wurde im Auto herumgefahren von einer Frau wie Frau Blömeke. Seit ihr Mann tot war, fuhr sie nur noch Alfred herum. Ich hatte Herrn Blömeke manchmal im Garten gesehen, immer mit Hut und Zigarette, und ein Bein zog er nach. In der Erinnerung kam er mir uralt vor. Blömekes waren keine Familie wie wir. Wenn sie zusammen spazieren gingen, paßte eins nicht zum anderen. Herr Blömeke war ein guter Mann, aber er war aus einer vergangenen Zeit. Alfred hoppste herum wie ein Äffchen. Marika Blömeke jedoch war eine Königin, groß und fraulich gebaut. Sie trug schöne Kleider, und wenn ich sie von meinem Zimmer aus kommen oder gehen sah, glaubte ich ihren Duft zu atmen. Sie war immer in Bewegung. Meistens kutschierte sie Alfred. Er ging auf eine Schule für Kinder wie ihn, irgendwo in den Städten. Morgens fuhr sie ihn hin und holte ihn nachmittags ab. Er war so alt wie ich, aber er war zu klein für sein Alter.
"Der gehört noch in den Laufstall", stellte ich fest.
Ein paar Wochen, bevor Herr Blömeke starb, harkten mein Vater und ich das Laub im Vorgarten. Da kam der blaue Käfer angerasselt. Frau Blömeke fuhr ihren Mann. Er ging nicht mehr zur Arbeit. Man sah nur Rauchschwaden in dem kleinen Auto, denn der alte Herr rauchte immer.
"Der sollte nicht so viel rauchen!" sagte mein Vater und steckte sich eine Zigarette an. "Wenn man es am Herzen hat…"
Mein Vater verstand etwas davon. Er war Herzspezialist.
Man hörte Herrn Blömeke murmeln, als seine Frau ihm beim Aussteigen half. Mit seinem Hut und dem Bein kam er nicht so leicht aus dem VW. Herr Blömeke ging noch ein paar Mal mit seinem Sohn spazieren, aber nur bis ans Ende der Straße. Er ging am Stock, während Alfred um ihn herumsprang wie ein Äffchen. Immer wieder lief er bis zum Ende der Straße und zurück. Der alte Mann blieb oft stehen und deutete mit dem Stock auf irgend etwas, das er Alfred erklären wollte. Aber Alfred konnte man nichts erklären.
Eines Mittags, es war vor Weihnachten, kam mein Vater zum Essen nach Hause und erzählte, daß Herr Blömeke gestorben war. Meine Eltern schauten mir in die Augen, als sei es meine Schuld. Ich bekam einen Schreck. Ich hatte es mir gewünscht. Doch dann kroch mir aus dem Rücken ein angenehmes Gefühl in den Nacken. Und plötzlich mochte ich Herrn Blömeke dafür, daß er gestorben war. Ich sah ihn, wie er in die Grube stieg, das eine Bein nachschleppte und mir mit der Zigarette am Hutrand zuwinkte. Er war mir nicht böse.
"Paß gut auf sie auf!" rief er mir zu.
Doch so ein Tod war nicht zum Lachen. Die Straße wurde still, die Luft wurde ernst, Frau Blömeke ging in Schwarz, und auch bei uns war irgendetwas anders geworden.

Mein Vater fuhr mitten auf den Marktplatz. Die Glocken riefen schon zur Kirche. Er parkte den Wagen direkt vor seinem Elternhaus, neben den Brunnen, so daß hier niemand mehr durchfahren konnte. Ich blinzelte in die Seitenscheibe, als ob die Fahrt noch lange nicht zu Ende wäre. Meine Eltern wanden sich aus dem Wagen. Beide waren sehr groß. Natürlich waren sie größer als ich, aber sie waren auch größer als andere Erwachsene, größer als die meisten Leute vom Dorf. Mein Vater überragte meine Mutter noch um einen halben Kopf. Aber auch meine Mutter war groß für eine Frau, das sah man, wenn sie neben dem Postboten, Onkel Georg oder unter den Müttern meiner Mitschüler stand. Sie klappte ihren Sitz nach vorn und nahm meinen Bruder und sein Polizeiauto auf den Arm. Die Glocken schlugen laut.
"Wir gehen zusammen", sagte mein Vater und ging voran. Aber da stürmte ich schon an ihm vorbei, auf die Tür zu, hinter der ich jahrelang zu Hause gewesen war, die Stufen hinauf zu meiner Großmutter. Sie umarmte mich und hob mich ein paar Zentimeter auf, aber so leicht war ich nicht mehr. Mein Vater kam das Treppchen hinauf wie der Vormann von der Shiloh Ranch. Jeder Schritt saß. Der Anzug stand ihm gut. Meine Mutter ließ ihre Handtasche links baumeln. Ich war jetzt in Augenhöhe meines Vaters.
"Ich hatte gesagt, wir gehen zusammen."
Ich ließ meine Großmutter los und trat in die dunkle Diele. Ich atmete die kühle Luft und den Duft aus der Küche. Es war wie eine Heimkehr nach Jahren, dabei war ich nur eine Woche weg gewesen. Meine ersten fünf Jahre hatte ich bei der Großmutter gewohnt, und ihr Haus würde immer mein Zuhause sein.
Hier im Dorf war ich jemand, und ich wollte, daß Frau Blömeke das begriff, auch wenn sie niemals hier herkommen würde. Ich wollte etwas sagen, das ihr Eindruck machte. Jeden Tag formte ich Worte vor dem Spiegel im Badezimmer. Auf dem Schulweg murmelte ich Sätze für ein Gespräch mit ihr. Die meisten Schulkameraden hausten auf der anderen Seite des Ortes. So begegnete ich selten einem auf dem Weg zur Schule, und das war gut so, denn mit denen hatte ich nichts zu reden. Sie hätten mich bloß bei meinen Übungen gestört. Meine Sätze begannen mit Worten wie: "Ich bin der Meinung…" oder "Nach meiner Ansicht…". Das hatte ich von meiner Mutter, die mir sagte, daß man so anfangen mußte, wenn man jemanden überzeugen wollte.
Meine Mutter sagte Sachen wie: "Die Welt ist ein Dorf".
Das war ein guter Satz, auch wenn ich nicht ganz verstand, was sie damit meinte. "Die Welt ist ein Dorf" würde ich einmal zu Frau Blömeke sagen. Es ging nicht um den Inhalt, sondern um den Satz. Ich probierte es in der Schule aus und rief eines Tages in die Klasse: "Die Welt ist ein Dorf!"
Alle waren still. Die Lehrerin sah mich mit ihrem schiefen Gesicht an.
"Ja, ja. Unser neunmalkluger Herr Professorensohn!"
Hatte ich einen Erfolg erzielt? Die Klasse und die Lehrerin erschienen mir viel zu dumm, um einen Satz zu verstehen, in dem das Wort "Dorf" vorkam. Was wußten sie hier schon von einem Dorf? Lehrerin und Mitschüler sahen in mir nur den Sohn des Professors. Das war ihr Problem. Ich wollte lieber der Junge vom Dorf sein - und der künftige Boxweltmeister.

Wir gingen zu viert über den Marktplatz zur Kirche. Alle Leute grüßten. Meine Mutter, obwohl sie eine Evangelische war, schritt voran. Sie trug ein Seidentuch um den Hals. Die Liebe zu langen Schals entdeckte sie erst später. Es sollte ihre letzte Liebe sein.
Während wir in der Messe waren, kümmerte sich die alte Anna um meinen Bruder. Sie hatte schon bei meinen Großeltern gedient, als mein Vater so alt war wie ich. In der Predigt sprach der Priester über den Boxkampf von letzter Woche. Er verurteilte ihn. Er hatte sogar eine passende Stelle in der Heiligen Schriftgefunden. Ob er nachts aufgestanden war und den Fernseher eingeschaltet hatte, sagte er nicht. Man bekam aber den Eindruck, daß er den Kampf gesehen haben mußte. Er schimpfte, aber er wußte genau, worüber.
"Man sollte lieber die Hände falten, statt seinem Nächsten die Faust ins Gesicht zu hauen", rief er, und es hallte von den Wänden. Vor kurzem hatten sie in der Kirche ein Mikrofon eingebaut. Der Priester kletterte nicht mehr auf die Kanzel. Er hielt die Predigt vom Altar aus.
Ob er wenigstens die Wiederholung des Kampfes am Dienstag abend gesehen hatte? Warum sollte sich ein Priester nicht fürs Boxen interessieren? Muhammad Ali war auch ein Priester. Er stand einfach da und sprach. Er konnte besser predigen als unser Priester. Er predigte nicht über das Boxen. Er wollte, daß die Neger ihr eigenes Land bekämen, wo man sie in Ruhe ließ.
Unser Priester hatte eine dunkle Stimme. "Der Horr sei mit euch!" brummte er, wenn er die Hände hob.
"Na, willst du immer noch Boxer werden?" fragte meine Mutter nach der Messe. "Willst du, daß deine Ohren aussehen wie Blumenkohl? Willst du dir das Hirn zu Brei schlagen lassen? Dein Vater hat das Boxen auch beizeiten darangegeben. Und der wußte, warum. Hoffentlich hast du gut zugehört bei der Predigt. Die war extra für dich. Die platte Negernase kriegst du sowieso, wenn du nicht aufhörst, mit dem Finger zu bohren!"
Ich boxte seit dreieinhalb Jahren. Als meine Eltern mich zu sich holten und ich den großen Sandsack im Arbeitszimmer meines Vaters sah, fing ich an. Mein Vater zeigte mir, wie es ging. Als ich noch bei meiner Großmutter wohnte, wäre ich nicht auf die Idee gekommen zu boxen. Jetzt konnte ich es gebrauchen. Mit Rupert und Max vom Bauernhof hatte ich höchstens Ringkampf gemacht, aber nicht ernst. Auf dem Schulhof jedoch mußte man hin und wieder zeigen, wer der Boß war. Es gab Leute, die es einfach nicht kapierten.
Als mein Bruder geboren wurde, boxte ich jeden Tag.
Das Haus meiner Eltern war größer als das meiner Großmutter. Und es war neu. Es gab auch einen Garten. Da wuchs kein Gemüse, da stand nur Rasen. Die Häuser in der Siedlung standen hinter Zäunen und Mauern. Einige waren noch im Bau. Alle hatten Garagen mit breiten Toren für zwei oder drei Autos. Ich kam in die erste Klasse und ging jeden Morgen zwanzig Minuten zur Schule. Am Anfang bekamen wir noch keine Schularbeiten auf. Wenn ich mittags nach Hause kam, war meine Mutter mit meinem Bruder oder mit sich selbst beschäftigt. Sie saß unter ihrer Frisierhaube und feilte die Nägel, oder sie beugte sich mit viel Heiteitei über die Wiege meines Brüderchens. Meistens aber telefonierte sie. Das ging nicht unter einer Stunde ab. Sie hing am Telefon wie am Tropf. Ich drückte mich im Haus und im Garten herum oder kurvte mit meinem neuen Fahrrad durch die Gegend.
"Der Junge muß Sport treiben!" sagte meine Mutter. "Der lungert sonst nur herum."
Ich hatte meinen Vater gefragt, wie man boxt, und jetzt mußte ich ein paar Mal in der Woche zum Unterricht antreten. Bevor es mit dem Boxen losging, zeigte er mir die Beinarbeit.
"Wie stehst du denn überhaupt da!" rief er, wenn ich die Füße nicht geradeaus richtete und sie nicht dicht am Boden behielt, wenn ich einen Schritt zuviel machte. "Das ist keine Ballettstunde."
Dann brachte er mir die Armhaltung bei. Ich mußte mich hinter meinen Armen und Fäusten verschanzen wie in einem Käfig, damit mich keiner treffen konnte. Mein Vater traf mich doch, am Kopf und am Bauch, ganz leicht nur, um mir zu zeigen, wo ich keine Deckung hatte. "Mach die Deckung zu!" rief er. "Nimm die Ellenbogen vor den Bauch!"
Ich gab acht, daß das rechte Bein immer fest auf dem Boden stand, drückte mich mit ihm ab, fuhr mit dem linken Bein nach vorn, drehte mich in der Hüfte und bohrte die linke Faust geradeaus.
Er hielt sein Kinn hin und deutete mit dem Handschuh darauf: "Da, schlag zu! Hau, so fest du kannst. Keine Angst, daß du mich triffst. Ich fall davon nicht um."
Ich wußte, daß es an der Zeit war, ihm einen richtigen Kinnhaken zu verpassen. Wenn er k.o. ging, konnte ich sagen: "Du hast es ja gewollt!" Ich hatte aber Angst vor seiner Kraft, und zugleich wollte ich ihm nicht weh tun. Er gab mir ein paar Treffer auf Schultern und Schläfen; ganz schwach, aber sie saßen.
"Jetzt habe ich Punkte gesammelt!" rief er. Als er versuchte, mir die Rechte leicht auf die Nase zu setzen, berührte ich seine Brust, zu schwach, als daß es ein Treffer gewesen wäre. Da traf ein linker Haken mein Kinn, daß ich an die Tür schlug.
"Das kommt, wenn man die Deckung aufmacht."
In meinem Kopf zog sich alles zusammen, meine Kehle wollte Tränen herauspressen. Ich versuchte, das Gesicht in den Griff zu kriegen. Mein Vater haßte Spielverderber.
"Mann, hast du gut gemacht", sagte ich.
"Jetzt fangen wir noch mal von vorne an", sagte er. "Ist alles eine Frage der Beinarbeit und der Reaktion. Muß man nur üben. Stell dich neben mich und mach mir alles nach!"
Ich ging neben ihm in die Grundstellung, achtete auf seine Arme und Beine, und gemeinsam schlugen wir unsere Geraden und Haken in die Luft.
"Vor allem die Füße immer auf dem Boden behalten. Und mit der Linken tippst du deinen Gegner nur leicht an, um zu sehen, ob der überhaupt noch da ist. Der eigentliche Schlag kommt aus der Rechten."
Noch immer wollte ich nicht zuschlagen. Aber er rief: "Du mußt dem Gegner das Nasenbein ins Gehirn treiben!"
Ich schlug noch ein paar Geraden und Haken, dann links-rechts-links. Ich tänzelte vor und zurück, nach rechts und nach links und achtete dabei auf ständige Deckung und gute Beinarbeit. Ich versuchte mich schnell über den Boden zu bewegen und doch mit beiden Füßen auf dem Boden zu bleiben. Ich wurde immer schneller und dachte an die Atmung. Ich wollte meinem Vater ein würdiger Gegner sein.
Nach ein paar Wochen hatte er keine Lust mehr, mir Boxunterricht zu geben.
"Was dir fehlt, ist der Killerinstinkt", sagte er.

 

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser, dem Tagungsbüro oder dem Piper-Verlag geklärt werden.

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© 01.07.2000