Markus Orths, Karlsruhe (D)

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren und lebt in Karlsruhe.Orths wurde zum Bewerb von Daniela Strigl vorgeschlagen.


Download des Textes:
Word-Format (*.doc)
PDF-Format (*.pdf)

 

Info über den Autor
Orths ersuchte, ohne Video an den Start zu gehen

 

Banner TDDL 2008


Markus Orths

Das Zimmermädchen
[Romanauszug]


Ihr Leben läuft wie am Schnürchen. Lynn hat gelernt, aus den Badetüchern Schwäne zu falten. Bei Gästen, die länger bleiben, gibt es schon mal Trinkgeld. Lynn putzt nicht nur, sie putzt gründlich. Wo andere Zimmermädchen nichts mehr sehen, fängt es bei Lynn erst an. Der schwache Abdruck auf dem kleinen Holztisch stammt von einem Wasserglas, ein Abdruck, der nur zu erkennen ist, wenn man sich bückt und ein Auge zusammenkneift: Lynn greift zur Holzpolitur und wischt ihn weg. Schwarze Körnchen in den Ritzen der Fensterbank sind kaum sichtbare Aschereste: Lynn kratzt sie mit dem Messer raus. Ein Fingerabdruck auf einer Kachel in Augenhöhe: Jede andere hätte ihn übersehen. Die Schubladen der Kommoden: Kein Krümel bleibt drinnen. Lynn hat sich die Daumennägel wachsen lassen, um festklebenden Schmutz von den Armaturen entfernen zu können. Die Laken liegen auf den Betten wie frisch gebügelt, die Bettdecken weisen nicht die geringsten Unebenheiten auf, kein noch so kleiner Zipfel lugt aus dem Handtuchstapel. Stühle werden vor Schränke gerückt, Schrankoberflächen entstaubt, Heizungsrippen, Toilettenecken, Raumspray, Lüften, Frischegeruch. In den minimalen Raum zwischen Spiegel und Wand stößt Lynn ein feuchtes Tuch, das sie um die Klinge eines Küchenmessers gewickelt hat, Lampenschirme säubert sie innen und außen, rückt die Tische weg und saugt plattgedrückte Teppichstellen.

Immer öfter kehrt Lynn zurück in die Zimmer. Nicht in die Abreisezimmer, nein, in die Bleibezimmer: Wenn sie zu wissen glaubt, dass ihre Bewohner unterwegs sind, nicht zurückkommen, ehe die Nacht einbricht. Und Lynn schnuppert. Wie riecht der Mann, der hier wohnt? Riecht er nach Lavendel? Stinkt der Schlafanzug nach Schweiß? Mit welchem Waschmittel hat man die Wäsche im Koffer gewaschen? Pfirsich? Veilchen? Frühlingsduft? Rasiert er sich trocken oder nass? Was hat er notiert auf dem Zettel? Sind die Klamotten ordentlich über die Stuhllehne gehängt? Was befindet sich in den Taschen? Weswegen ist er hier? Montage? Geschäftstreffen? Privatreise?

Markus Orths (Foto ORF/Johannes Puch)

Im nächsten Zimmer eine Frau: Die Schuhe neben dem Stuhl sind verdammt hoch, wer solche Schuhe trägt, muss selbstbewusst sein, muss von sich überzeugt sein, muss sich schön finden, wer solche Schuhe trägt, muss die Welt überragen wollen, das Höschen zeigt Spuren von Ausfluss, im Bad findet Lynn das Medikament, ein wenig versteckt, unten, im Kulturbeutel, KadeFungin, gegen Pilze, am Koffer klebt ein Schild, Sabrina Hutwelker, Sabrina, denkt Lynn, das klingt nach Humphrey Bogart.

Zimmer 309, Tüte von Lidl auf dem Stuhl, wie kann er sich eine Nacht im Eden leisten, zu teuer für ihn, wahrscheinlich hat seine Firma ihm den Aufenthalt bezahlt, in der Lidl-Tüte finden sich Chips, Erdnüsse, Schokolade, dazu eine Flasche Wein, die man aufschrauben kann, er ist klein, der Mann, klein und dick, eine Wundsalbe, er wird hingefallen sein, Schürfwunde, die Reste eines Pflasters im Mülleimer, oder, denkt Lynn, er ist geschlagen worden, verprügelt, vielleicht ist er einer, der verspottet wird, einer, über den man Witze macht, seit der Schule schon, dieser dicke Junge mit Brille, heute trägt er Kontaktlinsen, der leere Behälter liegt offen dort, als Kind immer diese dicke Brille, die seine Augen verzerrt, ein Schmöker auf dem Nachttisch, schon sehr zerfleddert, Mängelexemplar, auf einem Grabbeltisch gefunden, für eins fünfzig, und als würde diese Summe einen unermesslichen Wert darstellen, hat der Mann auf die erste Seite die traurigen Worte gekritzelt: Dieses Buch gehört Bernie Willms.

Von Tag zu Tag bleibt Lynn länger. Sie hat nichts mehr zu suchen im Zimmer, in dem sie steht, lange nach Mittag, ihre Arbeit ist seit Stunden getan. Wenn der Gast etwas vergessen haben oder wenn sich ein Termin verschieben, wenn er unverhofft in seinem Zimmer auftauchen sollte, dann säße Lynn in der Klemme. Ob man ihr die zurechtgelegte Ausrede glauben würde, weiß sie nicht. Doch gerade das ist der Reiz: die Gefahr, erwischt zu werden. Ein Reiseföhn? Die Frau ist noch nie in einem Hotel gewesen, oder sie traut den Hotelföhns nicht. Pantoffeln? Längerer Aufenthalt. Geplünderte Minibar? Maßlosigkeit. Kein Schlafanzug im Bett? Der Gast hat nackt geschlafen, nein, der Schlafanzug findet sich im Schrank, er hat ihn reingepfeffert. Lynn lässt den Schlafanzug, wo er ist, sie schließt den Schrank, zupft an der Bettdecke, bekommt aber den Schlafanzug nicht aus dem Kopf. Sie schaut auf die Uhr, öffnet den Schrank, nimmt die Schlafanzugjacke heraus, schüttelt sie. Wie ein Hemd kann man sie zuknöpfen. Lynn legt sie sich über die Schultern. Steht eine Weile da. Erregung, als sie sich vorstellt, die Tür ginge auf. Wirft die Jacke wieder in den Schrank. Überhaupt, Schlafanzüge: ein rosaroter Pyjama, daneben gelbe Schlafsocken? Die Frau ist immer noch Kind: will ins Bett gebracht werden. Ein Nachtkleidchen, Spaghettiträger? Für wen trägt man so was? Die Frau ist allein hier, Einzelzimmer, das Bett nur einseitig zerwühlt. Lynn zieht sich aus, hastig, steht nackt vorm Bett. Ihre Putzklamotten wirft sie auf den Stuhl. Sie zwängt sich ins Kleidchen. Es ist zu klein, der Stoff bedeckt kaum ihre Scham. Dann hört sie Stimmen vor der Tür, reißt sich das Ding vom Körper, es bleibt heil, Lynn atmet heftig, doch die Stimmen verklingen. Lynn zieht wieder ihre Putzklamotten an und bringt das Bett in Ordnung.

Es geschieht an einem Dienstag.

Lynn hat den Tagen Farben gegeben. Dienstage tragen die Farbe von Eierschalen. Am Morgen hat sie ein Ei geköpft, aber nicht gegessen. Jetzt steht sie im Zimmer 303, hört Schritte auf dem Flur, schreckt hoch, sie hat den Kontakt zur Zeit verloren, schaut auf die Uhr, längst hat sie Feierabend, und Lynn weiß schon, als sie die Schritte hört, dass sie haltmachen werden vorm Zimmer, in dem sie steht und nicht mehr stehen darf. Lynn trägt die Pyjamajacke des Gasts über der Putzuniform. Sie hat sie zugeknöpft. Die Ärmel sind viel zu lang. Sie hört den Schlüssel im Schlüsselloch. Die Tür öffnet sich, der Gast betritt das Zimmer.

Und Lynn?

Ist verschwunden.

Ihr Herz gibt endlich Lebenszeichen.

Sie liegt unterm Bett.

Es ist ein Doppelbett.

Die Pyjamajacke hat sie noch an. Lynn legt den Kopf auf die Seite. Sie kann die Beine des Manns sehen, der ins Bad geht. Sie hört den Wasserstrahl der Dusche. Das ist ihre Chance. Sie verlässt das Versteck. Sie schaut zur Badezimmertür, nichts, Lynn faltet die Pyjamajacke zusammen und stopft sie unter die Bettdecke.

Und jetzt?

Sie muss nur ganz leise den Raum verlassen. Schon wäre alles in Ordnung. Sie zögert. Der Duschstrahl immer noch zu hören.

Lynn öffnet die Tür nicht.

Sie bleibt.

Sie spielt.

Sie will.

Spürt das Kribbeln der Versuchung auf der Haut. Noch ein kurzes Zaudern: Was tu ich da eigentlich? Und Lynn handelt.

Sie kriecht zurück unters Bett.

Liegt dort.

Wartet.

So sieht Leben aus.

Markus Orths (Foto ORF/Johannes Puch)

Ein paar Minuten reichen, ihr Revier zu erforschen, zu durchschnüffeln, zu markieren. Es ist dunkel dort und staubig, aber Beklemmung legt sich nicht auf ihre Brust. Wenn es die offenen Seiten nicht gäbe, läge sie wie in einem Sarg, aber es gibt die offenen Seiten, sie bringen Licht und Luft. Zwischen Nasenspitze und Unterseite des Lattenrosts bleibt mehr als eine Handbreit Platz. Lynn kann die Hände an den Lattenrost klammern. Sie kann die Hände um den Kopf legen. Sie kann die Hände unter die Hüften schieben. Latten, Schimmern der Matratzen, Lattenrost, zwei Lattenroste, für jede Matratze einer, jeweils achtzig Zentimeter breit, zwei Meter lang, an den Stellen für die Schultern sind vier Streben ein wenig nach unten gebogen, nicht zu stark, sie stören kaum, das Bett hat vier Beine, keine zusätzlichen Stützen in der Mitte. Lynn legt die Hände um die Querstreben im Hüftbereich.

Der Mann kehrt ins Zimmer zurück. Er stellt den Fernseher an. Schnipsen eines Feuerzeugs, langes, entspanntes Ausatmen. Zuerst ein Film, den Lynn nicht kennt. Es macht ihr Spaß, aus dem Gehörten Bilder zu formen. Später ein Nachrichtensender. Leises Schlafatmen von oben, aber der Mann schnarcht nicht. Wie kann er dabei schlafen? Vielleicht der monotone Klang der Worte? Jetzt eine Stimme, die Lynn dem amerikanischen Präsidenten zuordnen kann. Der sagt: When I talk about war, I actually talk about peace. Nach einer Stunde wird das Programm wiederholt, fast identische Nachrichten, Endlosschleife. Lynn fällt in leichtes Dösen. Schließlich schläft auch sie ein. Irgendwann kommt sie wieder zu sich, der Fernseher ist ausgeschaltet, ihr Genick schmerzt, aber Lynn fühlt sich gut dort, unterm Bett, sie horcht eine Weile dem Atmen über ihr. Am Morgen kriecht sie aus dem Versteck, als der Gast unter der Dusche steht.

Mittwoch ist Lynns freier Tag. Sie verlässt das Hotel durch den Hinterausgang, ohne dass sie gesehen wird. Ihr Herz schlägt schneller, wenn sie an die Nacht denkt. Wenn sie daran denkt, was hätte geschehen können. Wenn sie daran denkt, was sie hätte belauschen können. Wenn sie daran denkt, dass man sie hätte erwischen können. Eine Schicht Müdigkeit liegt auf ihr. Alles ist seltsam verkleistert. Aber sie weiß, dass sie es wieder tun wird, tun muss, sie weiß, dass sie etwas gefunden hat. Jeden Dienstag, sagt Lynn, ich werde es jeden Dienstag tun.

 

Am Sonntag wird sie unruhig. Sie weiß nicht, ob sie es bis Dienstag aushalten kann. Noch zwei Nächte in ihrem eigenen Bett. Noch zwei Nächte allein. Und in dem Augenblick, da sie daran denkt, vielleicht schon am Montag unters Bett des Gasts von Zimmer 307 zu kriechen, es ist eine alten Frau, die sich für eine Woche einquartiert hat und merkwürdigerweise über ein Ersatzgebiss verfügt, das wie ein vergessenes Lächeln im Zahnputzbecher schwebt, in dem Augenblick, da Lynn gerade ihren Putzlappen auswringt und dem leisen Tröpfeln des Wassers lauscht, betritt Heinz das Zimmer 302, in dem sie gerade putzt.

„Lynn", sagt er.

Lynn steht auf und sieht ihn an.

„Da ist ein Anruf gekommen", sagt Heinz.

„Was für ein Anruf?"

„Deine Mutter."

Lynn zieht die Putzuniform aus. Das geht mechanisch. Sonntag ist blassblau, Lynn steigt in ein Taxi zum Bahnhof, in den Zug nach Hause, vier Stunden Fahrt, am Heimatbahnhof nimmt sie ein Taxi zum Krankenhaus, dort zögert sie, raucht und versucht, so viel Qualm wie möglich bei sich zu behalten, zerdrückt die Zigarette im bereitstehenden Behälter. Neben ihr pafft ein Mann mit dickem Verband um den Schädel, er lächelt. Bei der Anmeldung erfährt Lynn die Zimmernummer: 118. Eins plus eins ist zwei, zwei plus zwei ist vier, vier plus vier ist acht. 118. Ihre Mutter ist wach. Die ersten Worte zielen auf Beruhigung. Nichts Schlimmes, sagt die Mutter, zum Glück rechtzeitig ins Krankenhaus, Operation gelungen, Bypass, werd in zwei, drei Wochen wieder zu Hause sein, Leben umstellen, weniger Fett und so weiter, aber schön, dich zu sehen, Linda. Lynn zieht einen Stuhl zum Bett. Das gibt ein Gänsehautgeräusch. Eine zweite Frau liegt im Zimmer, schläft, neben dem Bett ein Stapel Illustrierte.

„Wie ist es passiert?", fragt Lynn.

„Beim Rasenmähen. Aber alles in Ordnung, der Bypass hält, die Operation hat gut geklappt. Bypass schreibt man übrigens mit Ypsilon. Ich habe immer gedacht, man schreibt es mit ei, verstehst du, wie bei, aber man schreibt es mit Ypsilon. Das ist Englisch."

Lynn zieht Zigaretten aus der Tasche, sieht sich um, überlegt es sich anders, steckt sie wieder ein.

„Seit wann bist du wieder zurück?", fragt die Mutter.

„Seit drei Monaten."

„Hättest mich doch mal besuchen können."

„Natürlich", sagt Lynn.

„Hab ich dir was getan?"

„Mutter", sagt Lynn und schaut sie so an, dass sie schweigt.

Ich kann mich selbst kaum tragen, hätte Lynn am liebsten gesagt, wie soll ich dich tragen, wenn ich mich selbst kaum tragen kann? Aber sie sagt es nicht. Sie schweigt. Auf meiner Schulter ist kein Platz mehr für dich, hätte Lynn am liebsten gesagt, es ist kaum Platz für mich dort oben, ich schleppe mich selber so gut es geht. Wenn ich dich auch noch schultern soll, brech ich zusammen.

„Es ist gut, dass du da bist", sagt die Mutter.

„Ich kann nicht lange bleiben."

„Natürlich."

Sie lässt sich nichts anmerken, denkt Lynn. Sie reißt sich zusammen. Wie kann man sich zusammenreißen, denkt Lynn und schaut an der Mutter vorbei. Reißen ist immer zerreißen, zerreißen ist immer Zerstörung. Wir zerreißen uns jeden Tag zusammen. Wir tun jeden Tag etwas, das nicht geht. Wir leben in einem Raum der gleichzeitigen Gegenteile.

„Kannst du mir Wasser eingießen?"

Markus Orths (Foto ORF/Johannes Puch)

Lynn gießt Wasser ins Glas, wenig Kohlensäure, die Frau nebenan wacht auf, gibt kurz vorm Aufwachen einen Schnarcher von sich, schreckt leicht zusammen, begrüßt den Gast, Lynn nickt, Mutter schenkt der Frau keine Beachtung, redet weiter zu Lynn, redet von Blumen, die sie gepflanzt, von Unkraut, das sie gezupft, von Figuren, die sie gebastelt, von Unternehmungen, die sie geplant hat. Im Herbst fährt sie in die Toskana, Reisegesellschaft.

„Freut mich", sagt Lynn.

„Hast du Kleingeld?"

„Warum?"

„Hier gibt's Getränkeautomaten."

Lynn schüttet den Inhalt ihrer Börse auf den Tisch.

„Was macht die Arbeit?", fragt Mutter.

„Ich putze."

„Was zuerst?"

„Das Bad."

„Immer?"

„Erst das Bad, dann das Zimmer. Ich sauge die Böden."

„Wischst du Staub?"

„Jeden Tag."

„Sammelt sich da überhaupt Staub, nach nur einem Tag?"

„Kann ihn kaum sehen. Nur in der Sonne."

„Aber du wischst ihn trotzdem weg?"

„Ja, klar."

„Mit einem Staubtuch?"

„Mit einem feuchten Tuch."

„Und die Betten?"

„Mach ich."

„Wechselst du jeden Tag die Bettwäsche?"

„Kommt drauf an."

„Worauf?"

„Wie lange die Gäste bleiben. Wenn sie nur einen Tag bleiben, muss ich jeden Tag wechseln."

„Und wenn sie länger bleiben?"

„Dann nicht."

„Wenn einer drei Tage bleibt?"

„Dann nicht."

„Wenn einer eine Woche bleibt?"

„Dann nach dem dritten Tag."

„Nach jedem dritten Tag?"

„Ja."

„Wenn einer also zwei Wochen bleibt, dann wechselst du die Bettwäsche viermal?"

„Am Schluss noch mal. Für den neuen Gast."

„Und die Schuhe?"

„Muss ich putzen."

„Immer?"

„Wenn der Gast sie hinstellt."

„Was ist mit den Handtüchern?"

„Werden gewechselt."

„Jeden Tag?"

„Kommt drauf an."

„Worauf?"

„Ob sie auf dem Boden liegen oder über der Stange hängen."

Die Mutter schweigt. Beidseitige Erschöpfung. Wie nach einem Kampf. So viel haben wir lange nicht geredet, denkt Lynn.

„Und sonst?", fragt Lynn nach einer Weile.

„Ich hab gehäkelt", sagt Mutter.

„Was denn?"

„Windmühlenmuster. Ein Deckchen mit Windmühlenmuster. Vier Flügel. Die Tür. Zwei Fenster."

„Für wen denn?"

„Für Frau Klöppels."

„Zum Geburtstag?"

„Die wird neunzig dieses Jahr."

Lynn trinkt einen Schluck Wasser aus Mutters Glas.

„Ich muss jetzt gehen", sagt sie später, irgendwann. „Mein Zug."

„Kommst du noch mal?", fragt Mutter.

„Ist ne weite Reise."

Man kriegt ein Kind, denkt Lynn, man zieht es groß, man päppelt es auf, man sorgt für sein tägliches Überleben, man lässt es aus dem Haus, aus den Händen gleiten, in die Welt, und dann lebt das Kind in der Welt, zusammen mit den anderen, und man will ihm nah sein und kann es nicht, man ringt ihm ein paar Worte ab, das ist alles, ehe es untertaucht. Lynn steht auf. Sie weiß nicht, wie sie sich verabschieden soll. Die Mutter greift nach Lynns Hand, sie führt die Hand wie einen Waschlappen ans Gesicht, als wolle sie sich die Wange waschen mit der Fläche. Lynn lässt es zu. Lynn kann sich selbst nicht sehen, von außen, es fehlt ein Spiegel im Raum, und sie weiß nicht, ob ihr Mund ein Lächeln fabriziert oder einfach gerade bleibt, ein ausdrucksloser, waagerechter Strich in der Landschaft, die sie, seit sie sprechen kann, Gesicht nennt, aber nie zu Gesicht bekommen hat, außer im Spiegel, aber dann ist sie schon nicht mehr sie selbst.

Markus Orths (Foto ORF/Johannes Puch)

Als die Tür geschlossen ist und die Mutter zurückgelassen und das Krankenhaus hinter ihr verschwindet, greift Lynn nach ihren Zigaretten, aber was sie aus der Tasche zieht, sind keine Zigaretten, es ist ein Schächtelchen mit blauen und weißen Pillen, es hat drei Fächer, morgens, mittags, abends. Lynn weiß nicht, wie das Schächtelchen in ihre Jackentasche gekommen ist, sie weiß nicht, wann sie es vom Tisch genommen hat, sie sieht nur das Ergebnis, und weil sie nicht weiß, was sie tun soll, öffnet sie es und schluckt eine weiße Pille aus dem Fach für abends, denn es ist lange schon Abend, und langsam fällt die Dunkelheit her über die Welt, denkt Lynn, wenn es überhaupt möglich ist, dass etwas langsam über etwas herfallen kann, aber es fehlt ein anderes Wort, um auszudrücken, was sie fühlt.

 

Das Putzen am Montag verläuft zäh. Lynn trödelt. Müsste sich beeilen. Statt schneller zu putzen, putzt sie langsamer. Zahnputzbecher spült sie zweimal aus. Einmal fällt ihr einer auf den Boden, er zerklirrt, sie muss die Splitter aufkehren und einen neuen holen. Lynn sieht überall unsichtbare Flecken auf den Badezimmerböden. Sie kann gar nicht genug wischen. Man müsste, denkt Lynn, die Fliesen aus dem Boden brechen und unter den Fliesen putzen, man müsste alles rausreißen und neu machen, dann wäre es sauber, aber vielleicht auch nicht, vielleicht wäre es dann erst recht dreckig, vom Staub, den die Arbeiter machen. Lynn fährt mit den Putzhandschuhen tief unter die Ränder der Toilettenschüssel, dort sind Stellen, die sie nicht sehen kann, immer schon haben sie Stellen, die sie nicht sehen kann, verstört, woher weiß ich, denkt Lynn, dass Stellen, die ich nicht sehen kann, auch wirklich sauber sind, vielleicht sollte ich mir einen Zahnarztspiegel besorgen, mit dem ich auch die Innenränder einsehen kann, einen Toilettenrandspiegel, um auch die kleinsten Reste von Kot oder Urinspritzern aufzuspüren, aber was ist mit den Bakterien, die Bakterien kann man nicht sehen, man kann nur versuchen, den Bakterien mit WC-Reinigern den Garaus zu machen, man muss den Etiketten glauben, die auf den WC-Reinigern kleben, vernichtet die Bakterien und sorgt für restlose Sauberkeit, dazu das Bild eines Jungen, der vor der Toilette kniet und dessen Zähne genauso blitzen wie die weiße Emailleschüssel.

Am Dienstag um sechs schiebt sich Lynn unters Bett und wartet. Zimmer 308. Das Pärchen kommt spät. Man redet bis um eins. Es ist kein Streit, es ist ein Gespräch, das sich um Zukunft dreht, es ist ein Gespräch, in dem das Wort wenn eine Rolle spielt, es geht um ein Haus, das zu kaufen ist, es geht um Zeit, die miteinander verbracht werden soll, es geht um das Wort zusammenwohnen, wenn wir erst mal zusammenwohnen, dann werden wir, sagt der Mann, und die Frau lächelt wahrscheinlich, es geht um ein Kind, das noch nicht da ist, es geht um ein Leben, das noch nicht geführt wurde, es ist die Einbahnstraße Zukunft, die sich überm Bett ausbreitet, in der Dunkelheit, die beiden haben das Licht gelöscht, Sex bleibt aus dort oben, es geht um Geld, um Finanzierung, um Darlehen, um Beträge, die von Eltern dazugeschossen werden, es geht um Makler und überhöhte Provisionen, und Lynn fragt sich, ob die beiden Arm in Arm dort liegen, wenigstens das, oder jeder für sich, auf seiner Seite, und sich nur anschauen, ohne Berührung. Das Gespräch stockt, die beiden wissen nicht mehr, was sie sagen sollen, die Zukunft liegt wie ein durchgekauter Kaugummi in ihren Mündern, und in die Stille hinein sagt der Mann jetzt plötzlich Mimimimi, die Frau lacht kurz, der Mann spricht mit Fistelstimme, Mimimimi, sagt er, ich bin der dänische Koch, sagt er, nein, sagt die Frau, das ist der Gehilfe vom Koch, Smörrebröd-Smörrebröd-Ramtamtamtam, singt der Mann, und die Frau sagt, bitte nicht, aber der Mann kitzelt sie trotzdem, und die Frau lacht und sagt, nein, hör auf, sonst schrei ich, und der Mann hört auf und sagt wieder Mimimimi, die Frau sagt, vielleicht sollten wir versuchen zu schlafen, und dann wird es ruhig, nur noch einmal ein leises Kichern, und die Frau flüstert, gute Nacht, Liebling, bis morgen, sagt der Mann, und Lynn hört, wie sie sich leise voneinander wegdrehen, Knarren im Bett.

Von nun an jeden Dienstag. Lynn nimmt ein Tuch mit unters Bett und putzt die Lattenroste. Noch nie sind die Unterseiten der Betten so sauber gewesen. Die ersten Stunden liegt Lynn allein dort. Dann horcht sie auf das, was in ihr vorgeht. Hört aber nichts, nur ihren Pulsschlag, manchmal. Lynn wird ganz leer, die Augen geschlossen, sie fällt in einen Döszustand. Wenn die Tür sich endlich öffnet und jemand ins Zimmer tritt, zuckt sie zusammen, kommt zu sich, legt die Hände auf den Bauch. Dann ist sie wach. Dann ist sie da.

Am dritten Dienstag knistern Papiere, ein Pling, wenn eine E-Mail verschickt wird, und ein Pling, wenn eine E-Mail eintrifft. Währenddessen spricht der Mann ab und zu mit sich selbst. Nicht mit mir, sagt er, nicht mit mir. Als das Handy klingelt, hört Lynn die Hälfte eines Gesprächs, im Wesentlichen sind es Zahlen, vielleicht geht es um Börsenkurse, vielleicht um Aktenzeichen, einmal sagt der Mann einfach nur vierundzwanzig, als Antwort auf eine Frage, vierundzwanzig, sagt der Mann, dann Pause, dann 311, das könnte die Zimmernummer sein, es könnte aber auch sonst was bedeuten, dann sagt er das Wort willfährig, einfach nur dieses Wort, und Lynn weiß nicht so recht, was das Wort bedeutet, willfährig, und auf welche Frage dieses Wort eine Antwort sein könnte, die Füße des Manns sind nackt, die Waden stachelig, einmal bleibt er auf einem Bein stehen und kratzt sich mit dem rechten Spann die linke Wade, der Ballen ist von gelblicher Hornhaut überwuchert, und als der Fuß wieder auf dem Boden steht, sieht Lynn einen eingewachsenen Zehennagel. Der Mann legt auf und sagt Herbert, Herbert. Er sagt, das hast du gut gemacht, Herbert. Lynn weiß nicht, ob er damit sich selbst meint oder jemand anderen. Sie hört ein zischendes Geräusch, ein Gluckern, dann sagt der Mann das Wort Katarupp, ein Wort, dessen Bedeutung Lynn verschlossen bleibt, Katarupp, sagt er noch einmal und setzt sich aufs Bett, die Fersen sind gerötet und dünnhäutig, so ganz anders als die Ballen. Ein Flaschendeckel fällt auf den Teppich neben das Bett, der Mann langt nach unten, hebt den Deckel auf, er trägt an jedem Finger seiner Hand einen Ring, sogar am Daumen, kurz durchzuckt es Lynn, in einer schnellen Attacke die Hand des Manns zu packen, nur um den entsetzten Aufschrei zu hören, aber sie dreht sich weg, blickt hinauf zum Lattenrost, beruhigt sich, atmet langsam, atmet lautlos.

Markus Orths, Daniela Strigl, Burkhard Spinnen (Foto ORF/Johannes Puch)

Am vierten Dienstag der Fernseher. Lynn kann den Film nicht sehen, nur hören. Sie malt sich die Bilder aus, hört Stimmen und Geräusche und sieht, was sie sehen will, erfindet eigene Bilder, ob sie passen oder nicht. Schon die Eindeutigkeit der Geräusche engt sie ein. Wenn es Schritte sind oder ein Türschlagen, wenn es ein Schrei ist oder ein Motor, der angelassen wird; wenn es ein Kuss ist oder ein Schlag, wenn es ein Keuchen ist oder ein Wegrennen; dann denkt Lynn, so viel will ich gar nicht hören. Am liebsten ist ihr die Stille. In der Stille ist alles möglich. Wenn der Fernseher verstummt, wenn der Film schweigt, wenn nur noch Bilder im Raum stehen, Bilder, die sie nicht sehen kann, dann ist ihr, als fiele sie für einen Augenblick aus der Zeit; als wäre sie nicht mehr nur sie selbst. Diese Momente sind selten. Aber sie legen sich um Lynn wie ein warmes Tuch.

 

Donnerstag der Mutteranruf, Ritual.

Lynn steht da mit dem Hörer in der Hand. Sie wählt noch nicht. Telefonmuschel, sagt Lynn in den Raum. Muschel, sagt Lynn, wieso Muschel? Als Kind hat sie einmal am Strand eine Muschel gefunden, hat die Muschel der Mutter gebracht, die im Badeanzug dort lag, käseweiß unterm Sonnenschirm, mit ihrem Buch.

Eine Muschel, hat Lynn gesagt, ich hab eine Muschel gefunden.

Die Mutter hat gesagt, du musst sie ans Ohr halten.

Und Lynn hat die Muschel ans Ohr gehalten.

Was hörst du?, hat die Mutter gefragt.

Ein Rauschen, hat Lynn gesagt.

Das ist Meeresrauschen, hat die Mutter gesagt, die Wellen, die in der Muschel gefangen sind.

Das Meer?, hat Lynn gefragt.

Das Meer, hat die Mutter gesagt und weitergelesen.

Wie, hat Lynn gedacht, wie kann eine Muschel das Meer fangen, wie kann so etwas Kleines und Zerbrechliches wie eine Muschel so etwas Großes und Unzerstörbares fangen wie das Meer, die Wellen des Meers, das Rauschen des Meers? Und sie hat damals die Muschel mit aufs Zimmer genommen und auf den Nachttisch gelegt, und weil sie nicht schlafen konnte, hat sie ihr Ohr immer wieder an die Muschel gehalten, hat in die Dunkelheit gestarrt und dem Klang der Wellen gelauscht. Sie hat das Wasserglas genommen und leer getrunken, und nur weil sie das Wasserglas genommen und leer getrunken hat, hat sie das leere Wasserglas in der Hand halten können, und nur weil sie das leere Wasserglas in der Hand gehalten hat, hat sie es plötzlich übers Ohr gestülpt, und nur weil sie das Wasserglas übers Ohr gestülpt hat, hat sie das gleiche Rauschen wie aus der Muschel gehört, die gleichen Wellen, den gleichen Wind. Und Lynn hat das Wasserglas zurückgestellt und die Muschel in den Papierkorb geworfen, weil sie plötzlich geahnt hat, dass alles im Leben Betrug ist.

 

Banner TDDL 2008