Thorsten Palzhoff, Berlin (D)
Thorsten Palzhoff wurde 1974 in Wickede geboren und lebt in Berlin. Palzhoff wurde zum Bewerb von Ijoma Alexander Mangold vorgeschlagen.
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Videoporträt
Thorsten Palzhoff
Livia
Zweieinhalb Monate nach der Hinrichtung Ceauşescus filmte ein Kamerateam des Westdeutschen Rundfunks den Abriss der Lenin-Statue auf dem Platz der freien Presse in Bukarest. Man hatte für die Aufnahmen einen vollen Drehtag eingeplant, doch die Arbeiten zogen sich länger hin als erwartet. Schon bald nachdem die ersten Salven der Presslufthämmer von den Wänden des riesigen Pressehauses widergehallt hatten, vor dem die acht Meter hohe Statue seit Jahrzehnten als stumme Mahnung und Drohung stand, entdeckten die laut fluchenden Arbeiter, dass der Koloss mit ungewöhnlich dicken Bronzestreben fest im Marmorsockel verankert war. Lenins Sturz wurde zu einer Geduldsprobe. Der Wind kam kalt von Süden her durch den Boulevard Kiseleff, von dort, wo sich in weiter und vom Smog vernebelter Ferne wie ein Pariser Traumbild der Triumphbogen abzeichnete. Bei jeder stärkeren Bö wehte den Schaulustigen aufgewirbelter Sand in die Augen, der nach und nach auch die anwesenden Kameras verdreckte und sich als feiner Film auf die Objektive legte. Als es Abend wurde, bekreuzigten sich einige der Passanten beim Anblick der fahlen Lichter, die von den Schweißgeräten und Trennschleifern der Arbeiter herrührten und in deren Geflacker Lenins bronzene Beine zu zittern schienen. Am folgenden Tag, dem 6. März 1990, als man der Standfestigkeit der Statue noch immer nichts hatte anhaben können, stiegen ihr zwei Arbeiter über eine Feuerwehrleiter auf den Kopf und legten ihr ein dickes Stahlseil um den Hals. Nur eine Stunde später war es dann so weit: Mit Hilfe der stählernen Galgenschlinge und der Zugkraft eines Fahrzeugkrans gelang es, den sieben Tonnen schweren Lenin unter dem Beifall von einigen hundert Zuschauern der Erde zu entreißen und in den grauen Himmel zu ziehen.
Die Statue wurde auf ein Schiff verladen. Der Länge nach auf dem Deck aufgebahrt, trieb sie wie in Zeitlupe durch ein Spalier von schweigenden Menschen den Fluss Colentina hinauf, und die früher so visionäre Geste, mit der der riesenhafte Lenin seinen Mantelaufschlag packte, ähnelte nun, da er lag, einer flehentlich ausgestreckten Hand. Knapp zwei Wochen darauf musste auch Petru Groza Abschied nehmen von seiner Stadt. Ihn, den ersten kommunistischen Premier von Rumänien, ein Mann mit hoher, faltiger Stirn und maskenhaft starren Gesichtszügen, hatte man auf seinem Platz neben der medizinischen Fakultät mit kreischend gelber Farbe übergossen. Ein Spötter hatte ihm über die erhobene Hand einen Abfalleimer gehängt und mit einem Graffito prophezeit: Du wirst fallen wie Lenin. Als Schicksalsgenossen fanden die beiden Statuen außerhalb Bukarests im verödeten Winkel eines Schlossgartens zusammen, wo sie hinter einer niedrigen Backsteinmauer Stirn an Stirn als unbegrabene Leichen die Zeiten überdauern.
Zurück blieben die leeren Sockel. In ihrer Nähe befragte das WDR-Team vor laufender Kamera die Passanten, was ihrer Meinung nach mit den hinterlassenen Leerstellen zu machen sei. Die Antworten gaben ihnen einen Einblick in die Seelenlage des Landes: Da sprach einer mit hoffnungslos wegwerfender Geste von einem Mahnmal für die Pressefreiheit, ein anderer forderte mit geballter Faust, die politischen Symbole müssten jetzt durch literarische ersetzt werden; eine sehr nervöse Frau murmelte vor sich hin, dass ihr alles recht sei, solange es nicht von der provisorischen Regierung bestimmt werde, und zuletzt rief, bevor er wie die anderen namenlosen Gesichter für immer aus dem Bild verschwand, ein unrasierter, übernächtigt aussehender Mann ins Mikrofon, man solle die beiden Statuen einschmelzen und in einen Dacia 1300 umgießen lassen.
Die drei Mitarbeiter des WDR wussten, was ein Dacia war, aber bei vielen anderen Namen waren sie auf die Auskunft ihres Dolmetschers Anghel angewiesen. Mit gewohntem Überblick erklärte er ihnen, um wen es sich bei Mihai Viteazul, Mircea Dinescu oder Mihai Eminescu handelte. Nur in einem Fall blieb er dem Team eine Antwort schuldig: Als sie sich nach dem Namen Livia erkundigten, der bei der Befragung von einer ganzen Reihe durchweg älterer Passanten genannt worden war, meinte Anghel, dass sich das nicht in zwei Sätzen erklären lasse. Stattdessen wolle er ihnen heute Abend, am letzten Abend der Deutschen in Bukarest, beim Abschiedsessen im Restaurant des Hotel Capşa von Livia erzählen.
Sie hatten Anghel im Intercontinental kennengelernt, dem teuersten und modernsten Hotel der Stadt, das einst Ceauşescus Stolz gewesen war und seit seinem gewaltsamen Tod von Fernsehteams aus aller Welt bevölkert wurde. In der Hotelbar oben im 16. Stock, wo Zuträger, Huren und Dolmetscher den ausländischen Gästen rund um die Uhr ihre Dienste gegen Devisen anboten, waren sie kurz nach ihrer Ankunft mit ihm ins Gespräch gekommen. Er hatte sie an der Theke aus einem Kreis wild schwatzender Rumänen gezogen und sie davor gewarnt, sich von Scharlatanen Märchen erzählen zu lassen. Hier bei ihnen nehme man Gerüchte ernster als die Realität, das sei ein tief in den Rumänen verwurzeltes Übel. Ihre Sprache kenne nicht weniger als ein Dutzend Möglichkeitsformen, und vielleicht sei ihrem abergläubischen Verhältnis zum Wort sogar der Sieg über Ceauşescu zu verdanken. Denn während noch die Demonstranten auf dem Universitätsplatz Wir sind ein geeintes Volk! gerufen hätten, während noch die Soldaten unentschlossen und die Kämpfe in vollem Gang gewesen seien, hätten sich einige der Revolutionäre Zugang zum staatlichen Fernsehsender verschafft und vor den Kameras verkündet, das Land sei schon befreit. Die Rumänen hätten der Fernsehbotschaft mehr geglaubt als der Wirklichkeit auf den Straßen, und so sei es eben zur rumänischen Revolution gekommen. Die drei Deutschen schüttelten erstaunt den Kopf und folgten Anghel auf die Dachterrasse. Nachdem er ihnen mit ausgestrecktem Arm das Stadtpanorama erklärt hatte, wurden sie schnell handelseinig: Für hundert Dollar am Tag sollte er ihnen in den folgenden zwei Wochen Geschichten und Bilder für eine Serie von Fernsehbeiträgen verschaffen.
Im Vertrauen darauf, dass er ihnen das echte, dem Besucher verborgene Bukarest zeigen würde, folgten sie ihm durch die ganze Stadt. Ihnen schlug das Herz bis zum Hals, als er vor dem ZK auf ein zugemauertes Loch wies und ihnen erzählte, dass dies der Eingang zum Unbewussten des Landes, dem unterirdischen Tunnelsystem der noch immer aktiven Securitate sei; wer durch das Loch gehe, der komme am anderen Ende des Tunnels direkt im Schlafzimmer des Diktators heraus, dem Schauplatz der Albträume Rumäniens. Er führte sie zu den verwahrlosten Häusern eines alten Villenviertels, in deren verwilderten Gärten noch vor einer Woche Zigeunerfamilien das herausgerissene Holzparkett verfeuert hätten; seitdem ein neues Gerücht aus dem Clan der Ceauşescus eine Roma-Sippe gemacht habe, seien die Häuser wieder leer und die Zigeuner verschwunden. Im Haus des Volkes, dem jetzigen Parlamentspalast, führte er sie durch endlose Zimmerfluchten, durch ein Labyrinth von Gängen, Geheimtüren und königlichen Salons, deren Pomp aus Marmor und Säulen, wie er erklärte, bloß auf Beton, Rigips und Hohlblocksteinen auftapeziert sei. Sie folgten ihm auf den Siegesplatz zu einer großen Demonstration, deren Sinn und Zweck ihnen unverständlich blieb; dort zeigte er ringsum über die Köpfe der Demonstranten hinweg auf die Hochhäuser, die nichts als hohle Kulissen seien, niemals fertig gestellte Wohnblocks mit frisch gestrichener Fassade. Für ihre Souvenir-Einkäufe machte er sie mit den Regeln des allgegenwärtigen Schwarzmarkts vertraut, einer Ausgeburt der grassierenden Inflation, die jeden Winkel der Stadt in einen endlosen Basar, ein balkanisches Gestikulieren und Schreien verwandelte. Auf den beweglichen Ständen, den Bauchläden und Handkarren, hinter denen bemützte Männer und Frauen standen und von einem Fuß auf den anderen traten, lag von Fernsehröhren, Glühbirnen und Batterien bis zu Uniformen, Orden und sonstigen Devotionalien des gefallenen Regimes alles Mögliche und Unmögliche aus. An einem dieser Stände musste Anghel das alte, in blaues Kunstleder gebundene Buch aufgetrieben haben, das er an ihrem letzten gemeinsamen Abend beim Abschiedsessen im Capşa mit den Worten auf den Tisch legte, dass es sein Andenken für seine deutschen Freunde sei.
Mit höflichem Interesse reckten die drei den Hals nach dem fleckigen Buch. Erst als Fechner, der Redakteur des WDR-Teams, laut den üppig verschnörkelten Titel Livia las, hellten sich ihre Mienen auf: Über diese Livia, erinnerten sie sich, war ihnen Anghel eine Auskunft schuldig. Sie rückten mit den Stühlen näher an den Tisch heran, blätterten wahllos durch den rumänischen Text und sahen sich die schwarz-weißen Fotografien in der Buchmitte an. Einige Aufnahmen zeigten ein bleiches Mädchen mit schulterlangem Haar und einem tiefen Grübchen im Kinn; auf anderen waren eine erhabene Berglandschaft und weite Wiesen zu sehen, Ansichten eines Dorfs und eines kleinen, spitzgiebeligen Wohnhauses: Einblicke in jene Welt, von der ihnen Anghel nun erzählte.
Livia, begann er, wuchs vor einem Dreivierteljahrhundert in einem siebenbürgischen Dorf als Tochter eines Schneiders und einer Tänzerin auf. Dort oben lebten seit Urzeiten Rumänen und Ungarn friedlich zusammen, stolz auf ihr Gemeinwesen und das fette, von den morlakischen Bauern bestellte Land. Wenn es im April warm wurde und die Schwäne gen Norden zogen, lief Livia mit den anderen Kindern zum Fluss. Dort sah sie eines Tages etwas Goldenes vom Grund des Wassers heraufschimmern, und als sie mit langem Arm danach griff, zog sie eine Spielzeugtrompete heraus. Die anderen Kinder lachten und riefen, die Trompete gehöre dem Prinzen von Kagran, und wenn er sie suchen komme, werde er Livia finden und in sein Schloss heimführen.
Bald erzählte man sich im Dorf, dass ein großer Krieg vorüber sei. Im fernen Westen hätten sich die Minister aller verfeindeten Länder getroffen, mit einem Machtwort das Königreich Ungarn zu Fall gebracht und Livias Dorf für rumänisch erklärt. Es war nicht leicht zu verstehen für die kleine Livia, warum nun die ungarischen Nachbarn jeden Morgen ihre Flagge auf Halbmast zogen, warum sich ihr Vater, der sanftmütige Schneider, mit seinem besten Freund Tamás zerstritt und warum ihre Mutter den lieben langen Tag zu Hause saß und das Tanzen sein ließ. Livia durfte nicht mehr mit ihren Freunden zum Fluss, und so blieb sie allein auf dem Dachboden und blies auf der Trompete des Prinzen von Kagran.
Eines Tages ritten ungarische Husaren aus der Puszta herauf. Sie schrien, dass man nur für oder gegen sie sein könne, und wer gegen sie war, dem brachten sie Feuer und Tod. Das ganze Dorf wurde im Kampf verwüstet, und als Livia mit ihren Eltern aus dem brennenden Haus lief, wurden erst ihr Vater, dann ihre Mutter von Gewehrkugeln getroffen. Da blieb Livia bei ihren Eltern stehen, stumm vor Trauer und Angst. In ihrer Verzweiflung setzte sie die Trompete des Prinzen von Kagran an die Lippen und blies so laut, wie sie nur konnte. Aber es kam kein Prinz, um sie zu holen. Stattdessen ritten die Husaren heran, stürmten auf ihren wilden Pferden dem Signal entgegen und eröffneten das Feuer auf den vermeintlichen Gegner. Die Geschichte will es so, schloss Anghel, dass sich die Dorfleute, entsetzt über Livias Tod, im Namen des Mädchens zusammenschlossen und dem ungarischen Aufstand ein Ende machten. So ist sie mit ihrer Trompete zur Symbolfigur der Vereinigung Siebenbürgens mit Rumänien geworden.
Hört sich an wie ein Märchen, gähnte Leitner, der Tontechniker des Teams. Anghel starrte ihn finster an. Natürlich, räumte er gereizt ein, würden solche Geschichten mit der Zeit zur Legende. Aber habe ihm, Leitner, die heutige Umfrage vor den Sockeln von Lenin und Groza denn nicht gezeigt, dass Livia den Leuten im Gedächtnis geblieben sei? Eben. Ihr Mythos lasse sie wie ein Vampir den eigenen Tod überleben. Und besonders jetzt, erklärte Anghel, gehe Livia um. Jetzt nach der Wende habe man eine ähnliche Lage im Land wie damals zu Livias Zeiten. Die Siebenbürger Ungarn begehrten auf, andere Minderheiten würden ihrem Beispiel bald folgen, und der rumänische Staat drohe auseinanderzufallen. Wenn sie also wirklich nach einer Symbolfigur suchten, einem Symbol für die gegenwärtige Situation Rumäniens, dann sei es - er nahm das blaue Buch und hielt es in die Höhe - Livia.
Anghel sah reihum in die betroffenen Gesichter. Seine Zuhörer schwiegen, und es arbeitete sichtlich in ihnen. Als der Kameramann Dahl leise und ziellos kreisend zu einer Frage nach der historischen Wirklichkeit der Geschichte von Livia ansetzte, unterbrach ihn Anghel mit dem Vorschlag, die Runde in einer Kneipe fortzusetzen; inmitten der fragwürdigen Pracht des Capşa fühle er sich einfach nicht wohl. In den Kronleuchtern, flüsterte er, und unter den Tischplatten seien wie zu Ceauşescus Zeiten Wanzen verborgen. Ihr Gespräch werde aufgezeichnet und in einem fernen Büro, zu welchem Zweck auch immer, schriftlich zusammengefasst.
Als sie auf die Calea Victoriei hinaustraten, die wie ganz Bukarest ab sechs Uhr abends, wenn der Stadt das Licht abgedreht wurde, nahezu stockfinster war, stellte Leitner den Kragen seines Mantels auf und verabschiedete sich von Anghel und seinen Kollegen. Müde von den Anstrengungen der vergangenen zwei Wochen, verließ er die drei in Richtung des nahe gelegenen, turmhoch aufragenden Intercontinental. Von der anderen Straßenseite aus, gab Leitner Wochen später zu Protokoll, sah ich mich noch einmal nach ihnen um. Sie alberten noch mit dem Portier des Capşa herum und liefen dann, aufgeregt diskutierend und sich gegenseitig das blaue Buch aus den Händen reißend, die Straße hinunter. Am nächsten Morgen saß ich am Frühstückstisch lange allein. Als ich schon auf ihren Zimmern anrufen wollte, kamen sie endlich herunter, übermüdet und sichtlich mitgenommen von der vergangenen Nacht. Sie wünschten mir eine gute Heimreise, für sie selbst sei hier noch nicht Schluss. Sie wollten ihren Aufenthalt auf eigene Faust um ein, zwei Tage verlängern, um einen Beitrag über Livia zu drehen. Anghel habe sich als Führer nach Siebenbürgen angeboten, wo kurz hinter Schäßburg Livias Dorf zu finden sein müsse. Zum Glück, schloss Leitner seine Aussage ab, war keine Zeit mehr für Überredungsversuche; denn wenn ich mich mit Fechner und Dahl auf die Reise gemacht hätte, wäre ich wohl auch nicht mehr zurückgekehrt.
Einen Monat nach Leitners Rückkehr aus Rumänien hieß es in einer Meldung der dpa, er sei der Letzte gewesen, der Fechner und Dahl gesehen habe. Seitdem habe es kein Lebenszeichen mehr von ihnen gegeben. Weder die Ermittlungen der rumänischen Behörden noch die Maßnahmen der Angehörigen, Plakataktionen und Passantenbefragungen in Schäßburg und Bukarest, hätten auch nur den geringsten Hinweis auf ihren Verbleib ergeben. Die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt.
Jetzt, achtzehn Jahre nach ihrem spurlosen Verschwinden, ging beim WDR ein Filmband aus Rumänien ein. Der Sendung lag ein Schreiben des Béla Balázs-Hauses in Târgu Mureş bei, in dem um Aufklärung gebeten wurde. Bei einer Revision der Archivbestände sei man auf eine Filmkassette mit dem Logo des WDR gestoßen, und was auf dem Band zu sehen sei, gebe Rätsel auf. Die Sichtung der Kopie brachte den Kölnern ein unverhofftes Wiedersehen mit Fechner und Dahl, denn wie sich herausstellte, hatte man es mit den Aufnahmen von ihrer letzten Reise zu tun. Sie geben Aufschluss darüber, was mit den beiden Deutschen an jenem 19. März 1990 geschehen ist.
Auf dem Band ist zunächst eine Bahnhofshalle zu sehen. Ein Schild mit der Aufschrift Gara de Nord weist den Ort als den Bukarester Hauptbahnhof aus. Schon bevor er ins Bild tritt, hört man das leiernde Dimineaţa! Dimineaţa! eines Zeitungsverkäufers, der an zwei abgemagerten, in schmutzige Lumpen gekleideten Jungen vorbeiläuft. Die beiden stehen vor der großen Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge und lösen aus den untersten Schienen die Steckbuchstaben heraus. Ein uniformierter Bahnbeamter kommt auf sie zu, drohend, warnend, aber sie bemerken ihn nicht, weil sie in ihr Spiel mit den Buchstaben vertieft sind. Als er sich die Jungen greift, schließt sich vor der Kamera mit einem lauten und geradezu kreatürlichen Seufzen die Zugtür. Durch die Scheibe zieht sich ein Sprung, der die nun vorrüberrollende Welt dort draußen in ein Oben und Unten zerschneidet.
Nach einem kurzen Flackern tut sich ein weites Flusstal auf, hinter dessen langgestrecktem Wiesengrund sich steile und dunkel bewaldete Hügel erheben. Über den Wäldern hängt Nebel, so dick und so weiß, als befände man sich in Gipfelhöhen weit über der Erde. Aus dem undurchdringlichen Dunst stiebt plötzlich ein Vogelschwarm auf, ein schwarzes Gewölk riesiger Flugungetüme, die in wirrem Durcheinander mit ledern glänzenden Schwingen in den fahlen Himmel hineinflattern. In der Ferne zieht eine mittelalterliche Wehrkirche vorüber. Mit ihrem kreisförmigen Schutzwall, ihren vielen runden Türmen und wehenden Fahnen, ihrem verwinkelten Kreuz und Quer giebeliger Dächer sieht sie wie aus dem Märchenbuch aus. Dann wird die Landschaft von der Finsternis einer Tunneldurchfahrt geschluckt, und für einen Moment geistern die bleichen Schemen von Anghels und Fechners Gesicht auf der zitternden Scheibe des Zugfensters.
In der nächsten Einstellung steht Fechner auf einer bucklig gepflasterten Gasse unter einem Torbogen aus verwittertem Stein. Unser Führer Anghel hat sich aus dem Staub gemacht, spricht er ins Mikrofon. Er hat seinen Obolus erhalten und ist spurlos verschwunden. Immerhin befinden wir uns jetzt in Sighişoara, von den hier lebenden Rumäniendeutschen Schäßburg an der Kokel genannt. Livias Heimat kann nicht mehr weit von hier sein. Unsere Reise hat uns übrigens ins reinste Mittelalter geführt... Mit raumgreifender Geste dreht Fechner sich um, und die Kamera folgt ihm durch enge, menschenleere und in ein kaltes Licht getauchte Gassen, vorbei an uralten, zwei- und dreistöckigen Häusern, die vom Gewicht ihrer übergroßen Dächer in die Erde gerammt zu sein scheinen. Die Wände sind abschüssig und krumm, laufen schräg auf die Straße zu oder neigen sich drückend über den winzig erscheinenden Fechner. Als sich die Kamera um ihn dreht, huscht hinter ihm ein Schatten über die Wand, wächst riesenhaft an, dreht sich und ist gleich wieder verschwunden. Im nächsten Moment ist ein blau gestrichenes Holztor mit einer goldenen Tafel zu sehen. Es ist der Eingang zu einem langen, überdachten und in unzähligen Stufen aufwärts führenden Treppengang, der wie ein überirdischer Tunnel einen Berg hinauf zu einer Kirche führt.
Vor dem Kirchenportal steht Fechner mit einem Jungen und einem Mädchen. Wir kommen von einer Leiche, sagt der Junge im eigenartig altertümlichen Dialekt der Siebenbürger Sachsen, deshalb hat uns der Vater auch unsere guten Sachen angetan. Die Leiche hat sich aber in die Länge gedehnt, und nun ist auch noch meine Stunde stehen geblieben. Wo denn ihr Vater sei, fragt Fechner. Der Junge schaut ihn erstaunt an und ruft: Joi, er ist doch der Friedhofsbesorger hier oben! Und bevor Fechner noch ein Wort sagen kann, zeigt das Mädchen auf einen weißen Schmetterling und ruft: Schau, det Fluterchen! und läuft ihrem Bruder voran aus dem Bild.
Dunkel und drohend ragt der Stundenturm Schäßburgs über klobige Dächer mit breiten, einem spähenden Augenpaar ähnelnden Fensterschlitzen. Sein Glockenspiel tönt hohl und schwer über der Stadt. An Fechners Hinterkopf vorbei sieht man aufs große Zifferblatt, deren Zeiger auf fünf Uhr stehen. Meterhohe Figuren, die Wiedergänger des Uhrwerks, verrichten ihr jahrhundertealtes Tagewerk und schlagen die Stunde. Als Fechner bemerkt, dass er gefilmt wird, legt er lächelnd eine Hand ans Ohr und sagt in die Kamera: Hört sich an wie Livias Trompetensignal, oder? Warte, Livia, ruft er lachend zum Turm, der Prinz von Kagran ist auf dem Weg zu dir!
Dann dreht sich die Welt: Eine bunte Häuserzeile zieht langsam vorüber, eine weiße Kirche, und zuletzt endet der Kameraschwenk bei Fechner und einem gelb getünchten Haus. Über der schweren, ins Souterrain führenden Tür flackert in der einsetzenden Dämmerung eine urnenförmige Öllampe. Das ist das Haus der Draculeşti, erklärt Fechner und zeigt auf eine Gedenktafel an der Hauswand. Hier soll der berühmte Pfähler Vlad Ţepeş, genannt Dracula, geboren sein. Mehr als das interessiert uns aber die Kellerkneipe im Haus, denn wir suchen jetzt schon seit Stunden nach Menschen in dieser ausgestorbenen Stadt. Er steigt die Treppe hinab, zerrt die schwere Tür auf und hält sie einen Moment fest, bis ihm das verwackelte Kamerabild in einen düsteren, von Kerzen und einer funzligen Deckenlampe spärlich erleuchteten Gewölbekeller folgt. Man sieht fensterlose Wände, nacktes, dickes Gemäuer, aus dem hier und da eine langfingrige Hand ragt, um als Garderobenhaken zu dienen. Von der Bar hängen Knoblauchgirlanden aus Kunststoff herab. Obwohl mehrere Tische besetzt sind, ist es sehr still.
An einem der Tische schaut sich ein älteres Paar die Fotografien im Livia-Buch an. Die Frau tippt mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite und sagt mit fast bayerisch klingendem Dialekt, ja, es sei wahr, die Bilder stammten aus einem Film, den damals alle Kinder gesehen hätten. Richtig, nickt der Mann, und von der echten Livia gebe es seines Wissens gar keine Fotos. Aus dem Hintergrund hört man jemanden lachen; die Kamera dreht sich suchend im Raum und findet einen jüngeren Mann, der allein vor einem Glas Bier neben der Tür sitzt. Eine echte Livia, ruft er mit starkem ungarischen Akzent, habe es nie gegeben, es gebe nur die Livia aus dem Film. Er beugt sich nach vorn, zündet sich eine Zigarette an der Tischkerze an und beginnt zu erzählen. Der Film wurde Ende der vierziger Jahre von Morosow, einem russischen Eisenstein-Schüler, im Auftrag von Gheorghiu-Dej gedreht. Ein Propagandafilm für die rumänische Jugend, in dem das gute rumänische Mädchen von den bösen Ungarn im Land umgebracht wird. Das war für die ungarische Minderheit ein Schlag ins Gesicht. Wissen Sie, die Rumänen hatten sich Siebenbürgen gerade eben zum zweiten Mal unter den Nagel gerissen. Die Ungarn antworteten auf das Propagandawerk mit einer zweiten, synchronisierten Tonspur, auf der sie die Aussagen des Films in ihr Gegenteil kehrten. Natürlich war diese Fassung verboten, man musste Tonband und Filmband separat aufbewahren, um nicht erwischt zu werden. Der Mann bläst lachend Rauch aus der Nase und bittet mit ausgestreckter Hand um das blaue Buch. Wissen Sie, sagt er, mit Filmen kenne ich mich aus. Dieser hier ist in jeder Beziehung grauenhaft. Morosow hat nie einen Fuß in unser Land gesetzt, er hat mit dem Finger auf der Landkarte in einem russischen Studio gedreht. Und weil sich der Film durch den Erfolg seine eigene Wirklichkeit geschaffen hat, musste dieses Buch allen seinen falschen Tatsachen folgen. Hier steht was von morlakischen Bauern, aber die Morlaken finden Sie ganz woanders; und dass im April Schwäne über Schäßburg ziehen, wäre mir auch neu. Und erst diese Fotos! Solche Berglandschaften werden Sie hier bei uns wohl kaum gesehen haben, oder? Das sind alles nur Studiokulissen.
Abenddunkelheit. Im Hintergrund eine schmucklose Betonfassade. Fechner, das Mikrofon in der Hand, spricht in die Kamera. Sie seien nun ans Ziel ihrer Reise gekommen, sagt er, hinter ihm befinde sich das Béla Balázs-Haus von Târgu Mureş, ein Filmmuseum mit einem ausgezeichneten Archiv. Man habe ihnen für den heutigen Abend eine Vorführung des Films Livia zugesagt... Er bricht seine Anmoderation ab. Lautes Geschrei ist zu hören, ein sich jenseits der Kamera abspielendes Geschehen hat Fechner sichtlich irritiert. Mit einem kurzen Schwenk folgt das Bild seinem Blick und zeigt eine aufgebrachte, an der Straßenecke vorüberziehende Menge, die von einem Kamerateam mit dem Logo des rumänischen Fernsehens begleitet wird. Die Bilder, die das Team des TVR an diesem Abend noch aufzeichnen wird, werden dem ganzen Land im Gedächtnis bleiben: Bilder von Zusammenrottungen und Straßenkämpfen zwischen Rumänen und Ungarn, die niemand vorausgesehen hat; Bilder von Hetzjagden, bei denen die Meute den Fliehenden mit Holzlatten und Knüppeln verfolgt und umzingelt, um ihm die Glieder zu zerschmettern und den Schädel einzuschlagen; Bilder von Fackelumzügen, auf denen Strohpuppen in Brand gesetzt werden und Bauern die blutigen Zinken ihrer Heugabeln in die Höhe recken; Bilder von brennenden Häusern, von blutüberströmt Taumelnden, von Zusammensinkenden und Toten. Auf diesen Aufnahmen müssen am Rande auch Fechner und Dahl zu sehen sein, die in Unkenntnis der sich auf den Straßen abzeichnenden Situation die Treppe des Balázs-Hauses hinaufsteigen.
Die letzte Einstellung zeigt eine weiße Wand. Hallende Schritte und ein knarrendes Stühlerücken geben einen Eindruck vom Raum, in dem sich die Kamera befindet. Eine Frauenstimme wiederholt mehrmals igen igen, das Licht wird gelöscht, eine Tür wird leise ins Schloss gedrückt, und der Film Livia, auf Dahls Kassette als halbstündiger Mitschnitt erhalten, beginnt.
In der Eingangsszene fährt die Kamera langsam durch die Gasse eines belebten Dorfmarkts, durch dichtes Menschengewühl und an reich beladenen Obst- und Gemüseständen vorbei. Erst als die weit aufgerissenen Münder der Händler zu sehen sind, begreift man, dass der Film ohne Tonspur läuft. Lange Zeit ist nur das leise und gleichmäßige Surren des Projektors zu hören, das Ächzen eines Stuhls oder das verhaltene Räuspern eines der unsichtbar Anwesenden im Raum. Vielleicht ist es die spürbare Gegenwart von Fechner und Dahl, die das stumme Tun und Treiben der auf der Wand flimmernden Figuren so gespenstisch macht: Man sieht den Tanz einer Gruppe von Frauen, sieht, wie sich ihre falschen Trachtenröcke im Rhythmus ihrer Drehbewegungen bauschen, aber man hört keine Musik. Man sieht die morlakischen Bauern, vom Regisseur ihrer wirklichen Heimat beraubt, bei ihrer schweren Feldarbeit lachen, aber man weiß nicht, warum sie sich freuen. Erst in der Mitte des Films, nachdem ein Uniformierter auf dem Marktplatz eingeritten ist und den Kulissen ringsum eine stumme Botschaft verlesen hat, kommen zur Handlung allmählich Geräusche hinzu. Man hört das wilde Geschrei der verfeindeten Dorfbewohner, hört das Getöse der Unruhen, die sich mit dem Auftritt der kostümierten Husaren entladen. In einem Augenblick totaler Verwirrung gehen über den Krawall schwere Schritte hinweg, mit einem quietschenden Ruck wird ein Fenster geschlossen, und augenblicklich dringt der Straßenlärm nur noch gedämpft in den Vorführungsraum. Was man hört, sind die Ausschreitungen in Târgu Mureş, die inzwischen das nördlich des Stadtzentrums gelegene Béla Balázs-Haus erreicht haben. Man hört die randalierende Meute, hört sie schreien und Parolen skandieren, bis laut klirrend ein Fenster eingeworfen wird. Dann ist es still. Eine Explosion mitten im Raum macht der Vorführung von Livia ein Ende, die zuletzt das Mädchen bei ihren toten Eltern zeigt. Die Kamera zoomt ganz nah an ihr bleiches Gesicht heran; ihr Kinngrübchen, ihr Mund und ihre Augen sind in tiefe Schatten getaucht. Sie hebt den Kopf und dreht das Gesicht einer Lichtquelle zu, die Schatten auf ihrem Gesicht weichen, und ihre Trauer nimmt Züge der Entschlossenheit an. Sie führt die Trompete des Prinzen von Kagran an den Mund und bläst in ihrer stummen Welt das Signal. Für einen Moment ist es ganz still, und in der aufgehenden Sonne des Kommunismus verschmilzt Livia mit dem gleißenden Licht der übersteuerten Kamera.