Angelika Reitzer, Wien (A)

Die Autorin wurde 1971 in Graz geboren und lebt in Wien. Reitzer wurde zum Bewerb von André Vladimir Heiz vorgeschlagen.


Download des Textes:
Word-Format (*.doc)
PDF-Format (*.pdf)

 

Info über die Autorin
Videoporträt

 

Banner TDDL 2008


Angelika Reitzer

Super-8


Sie stand unter Alberts Balkon (traute sich nicht, nach ihm zu rufen), in einem vollgeräumten Garten : irgendwann würde er herauskommen. Es blühten Sträucher und Stauden, kaum ein Wiesenfleck war frei, hohe Gräser wuchsen da und Gartenmöbel, die niemand benutzte, Fahrräder und -anhänger, ein Leiterwagen. Die Bewohner ließen dem Garten seinen Schlaf, den schien er sich verdient zu haben. Sie kam von einem Abendessen, bei dem die Leute so Sachen sagten wie : meine Kunst ist meine Arbeit ist meine Aussage zu dieser Welt. Sie hätte wirklich mit jemandem reden müssen. (Wie macht ihr das eigentlich : die Sache mit dem Arbeitsamt und dem Überleben und dann noch guter Wein?) Aber sie hatte sich davongeschlichen, bevor die anderen sehen konnten, was für eine sie jetzt war.

 

Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum sie so sehr an ihm hing, Albert redete kaum; die Möbel in seinen Zimmern wirkten wie verkleinerte Nachbildungen echter Möbel. Kein Staub fand sich auf den Regalen mit den alten Büchern, nirgends ein Haar. (Ein paar Mal badeten sie zusammen und einmal hatte sie ihm die Haare gewaschen. Seine feinen Haare, die nur aus Spitzen bestanden, waren immer sofort wieder trocken. Gerade so, als wäre er gar nie untergetaucht.) Sie ging immer wieder hin, stand unter seinem Balkon.

 

Das Holz liegt im Wasser, als wären manche Boote noch gar nicht fertiggebaut oder als wären sie schon wieder auseinandergenommen. Albert redete über Boote, sie schauten in den dunklen Garten hinunter/Gestrüpp. Aber sie hatte nicht recht verstanden, von welcher Stadt er sprach, vielleicht hatte er es nicht erwähnt. Hausboote, ja sicher, und Lastschiffe gibt es auch. Und die Container liegen einfach im Wasser herum. Fakten oder Details hätte sie hören wollen, aber er sagte nur : schon länger her. In meinem letzten Leben war das. Auf einmal war Albert einer, der gereist war, immerhin. Seit sie ihn kannte, wollte er nicht aus der Stadt hinaus. So war das. Jetzt redete er von Siedlungen vor der Stadt auf dem Wasser, von dem Gewirr aus Holz und Blech und Hütten am Wasser und im Wasser und dass Kinder auf den Dächern herumkletterten. Alles wächst immer weiter, ohne dass den anderen etwas weggenommen werden muss. Raum, meine ich. Da war sie die Frau auf seinem Balkon, sie interessierten andere Facetten und er redete endlich von einer Frau, wie sehr er - da wollte sie nichts mehr hören und fragte ihn, ob er sie bezahlt habe dafür, dass sie mit ihm zusammen war. Er sagte : ja, vielleicht; und weil sie nicht weiterwusste, fragte sie ihn, ob er auch Drachenboote gesehen habe und Albert sagte : ach, Drachenboote. Ja, Drachenboote habe er auch gesehen, aber die wären doch uninteressant, und dann redete er von den Startbahnen am Wasser, wie nahe die Riesenmaschinen da in die Höhe stiegen, und da wusste sie endlich, von welcher Stadt er sprach.

 

Sie hatten nie miteinander telefoniert, Albert besaß kein Telefon und sie fragte nie nach der Nummer seiner Freunde, die unten wohnten/ihm den ersten Stock vermieteten. Einmal kam die Frau aus dem Erdgeschoß ans Geländer der Terrasse. Sagte ohne sie anzuschauen : er wohnt nicht mehr da. Das wirst du doch schon mitbekommen haben. Da war sie aus dem verwucherten Garten hinausgegangen und hatte das Gartentor hinter sich zugezogen, es fiel ihr schwer, von dem Haus wegzugehen, sie konnte das gar nicht verstehen.

Angelika Reitzer (Foto ORF/Johannes Puch)

Albert stellte Kokain auf, das sie zahlte, weil er kein Geld hatte, sie wäre gerne mit ihm zum See, wollte ins Wasser. Sie blieben in der Bar, er sagte : ist es nicht geil, dass man dann trinken kann so viel man will! Sie tanzte und zahlte an der Bar für sie beide, sie durfte ihn nachhause bringen (da bin ich jetzt untergekommen), sie küssten sich lange, gingen nicht gemeinsam nach oben. In einer Zeit, als mehrere Projekte parallel zu betreuen waren, hatte sie ihn in dem Schuppen gesehen, in dem Tequila- und Wodkagläser in einer kleinen Eisenbahn über der Bar im Kreis fuhren.

 

Sie hatte viele Ideen, und die meisten gefielen U. Er hatte ihr ein Diktiergerät gegeben und sie diktierte. Sie war für die Kommunikation zuständig und erstellte auch Budgets, wenn es sein musste. Dann sollte sie einzelne Partner betreuen, was darauf hinauslief, dass sie sich wie eine Studentin an einen Infodesk zu stellen hatte. Wenn sie den zusperrte, drehte im Lokal nebenan der DJ die Regler lauter; sie blieb, sie hängte sich an die Leute von einem der Museen und an die Künstler, ging mit ihnen und der Crew noch woanders hin. Einmal landeten sie draußen in einer Wohnschlafsiedlung; inmitten klebriger Holzvertäfelung Westernmusik oder Country. Albert war wohl mit den Technikern gekommen, das machte ihr nichts. U. hatte sie irritiert, als er sagte : du solltest schon immer erreichbar sein. Zuerst schien es, als sei ihm das egal, wann sie an den Projekten arbeitete, alles ging fließend ineinander über, sie aßen miteinander, er ging gerne spazieren, sie ging mit ihm, hörte seine Monologe und versuchte sich an der Umsetzung. Er zahlte ja nicht ihre Stunden, er bezahlte das Potenzial und den Erfolg. Sie übernahm mehr und mehr auch persönliche Aufgaben, und als die Buchhalterin zu ihr sagte : du bist die Assistenz, da wusste sie nicht, ob das anerkennend gemeint war.

 

Sie setzte sich neben Albert an die Bar. Sie ging mit ihm nachhause und konnte alles sehen. Der war melancholisch, der liebte elektronische Musik, die sich über das ganze Zimmer legte, das war schön, er wollte ein bisschen mit ihr reden, aber nicht zu viel, er kochte Pfefferminztee/high waren sie schon. Jetzt ging sie zu Alberts Haus in der Stadt, manchmal hinterließ sie ein paar Zeilen an der Tür oder wartete auf den steinernen Stufen. Er würde ihr doch sagen, wenn er sie nicht mehr sehen wollte, davon war sie überzeugt.

 

Dann (wieder) kletterte sie hinter Albert die Stufen zur Beleuchtung ganz nach oben. Es gab alles in diesem Sommer : Oper, Drama, ganz unglaubliche Musik; das Licht veränderte die Töne, stellte die Redner aus, zeigte ihr die Figuren, die sie vorher nicht gekannt hatte, in ihrem gleißenden Dasein, verdunkelte einiges. Sie liebte die Stimmung der Stücke, sie mochte Alberts Kollegen, die sie manchmal nur fragend anschauten. Einmal redete einer hinter seinem Rücken über ihn wie über einen, der nicht mehr lange da sein würde. Dann fehlte er und sie sah sich die Vorstellung ohne ihn an, kam sich vor wie eine Verräterin. Sie suchte ihn die halbe Nacht. Half ihm dann die Stiegen zur Wohnung hinauf, sie wollten miteinander schlafen, er kippte vom Sofa, da, wo sie dann lag; alles war nass. Sie brauchte eine Weile, bis sie verstand. Später einmal würde alles sich klären. Sie hing an ihm, ja. Sie konnte nicht ohne ihn. Sie wollte ihn in jedem Zustand. Manchmal fühlte sie sich in dem Wollen so entgrenzt, dass sie nicht weiterwusste. Diese Sachen spürte sie immer/darum war sie von der Richtigkeit ihres Gefühls überzeugt : Sonnenstrahlen wollten ins Zimmer, die schweren dunklen Vorhänge hielten die meisten davon ab. Eine Schicht von ihm lag über allem. Das Zimmer bewohnte seine Schwester, die sie sich groß und schlank vorstellte. Gütig und schön wie Albert; war er doch. Sie konnte nur mit seiner Trauer nicht umgehen. Auf dem Boden lagen und standen Flaschen herum, aus der Abwasch schaute Geschirr heraus, es roch nicht gut. Zuerst, halb verschlafen noch, versuchte sie sich nicht zu bewegen, sie wollte die Nässe nicht am Körper spüren, es war längst zu spät. Da ist gar nichts, dachte sie, während sie die schweren Lider auf- und zumachte. Hier würde sie liegen bleiben, bis er aufwachte und dann könnte er sie wegschicken, dann würde sie oder er einen Schlussstrich ziehen, aber der Gedanke konnte ihr nicht gefallen. Albert hatte ihr nicht erzählt, warum er nicht mehr zur Arbeit ging, es schien endgültig für ihn zu sein. Sie hatte ihm gesagt, was seine Kollegen über ihn redeten, dass Geld fehlte, sie wollte ihn trösten, er hatte sie zur Seite geschoben. Als wäre sie ihm lästig. Immer noch sah sie etwas Freies in ihm oder an ihm. Er war ein Freier.

 

Sie hielt das aus. Sie hielt ihn aus. Wie sich ihre Körper gebogen hatten, er war die Kontur, die sie nachziehen wollte mit ihren Gliedern, sich so sehr strecken, dass die Klarheit wiederkam. Sie wollte, aber er half ihr nicht. Das Gewicht der letzten langen Nacht lastete auf dem Schlafenden, was unterschied ihn noch von einem Bewusstlosen, der sich an seine vergangenen Tage nicht mehr erinnern konnte, wieso sah sie immer wieder diesen hellgrauen sterilen Raum um ihn herum, als hätte sie den Dreck hereingebracht?

 

Sie sollte ihn schlafen lassen, sie sollte ihm die Ruhe lassen, die er haben möchte. Brauchte. Auch jetzt, mitten in seinen Abfällen, sie war die Last. Sie sollte in ihrer eigenen Wohnung sein, Wasser über ihre Schultern rinnen lassen, über ihren Bauch, die Beine hinab und es war immer noch warm; sie könnte sich waschen wie jeden Morgen, sie roch das Shampoo, sie seifte sich ein, wickelte sich in ein großes Handtuch und legte sich in ihr Bett oder ging hinaus in den Tag, der doch jetzt anfangen sollte. Und dann. Ihn konnte sie nicht wegwischen oder wegwaschen. Sie spürte etwas, sie fühlte den Boden, die kalte Flüssigkeit um sie herum, ihre verdorbene Haut. Ihn verlor sie nicht, wenn sie sich hinlegte zum Schlafen. Ihre Träume gehörten ihm, ihr Schlaf gehörte ihm, ihre Nächte wollte sie mit ihm verbringen, zusammen aufwachen wie einmal, nicht auf dem Boden liegend, er blieb nicht ohnmächtig, er würde wieder zu Bewusstsein kommen, dann würde auch ihres wieder da sein. Zeit brauchte sie, und Ausdauer (von allem hatte sie viel).

 Angelika Reitzer (Foto ORF/Johannes Puch)

Sie konnte ihr Telefon jetzt nicht einschalten, nachschauen, ob jemand angerufen hatte. Sie hätte Unterlagen vorbereiten sollen, war schon ein paar Tage nicht im Büro gewesen. Erst vor kurzem war die Entwicklung ins Stocken geraten, vor allem die interaktiven Komponenten machten Probleme. Dann waren Partner ausgestiegen. Sie jedenfalls hatte alles getan und mehr natürlich, als sie hätte müssen. Albert nahm ihren Einsatz nicht ernst, nannte sie Reservistin. (Wir sind alle Menschenmaterial in einer großen Reservearmee.) Wenn es einmal läuft, expandieren wir weltweit. Sie hatte geglüht für das Projekt und U., den legeren und akkuraten Teamleiter, der immer wieder durchklingen ließ, dass er schon einen Weg finden würde, sich wirklich bei ihr zu bedanken. Sie war doch schon drinnen gewesen! Genau konnte sie nicht verstehen, was sich verändert hatte. Immer noch nicht. Sie war pünktlich gewesen für das Treffen mit den Investoren, aber als sie die Treppen in den zweiten Stock hinaufstieg, wusste sie, dass pünktlich zu spät ist. Dann saßen Männer in dunklen Anzügen um U.s Wohnzimmertisch, eine absurde Situation, sie fühlte sich unsicher, rückte für sich einen Bürosessel an den niedrigen Tisch. Auf einmal war sie die Sekretärin, die den Tee servieren sollte und Notizen machen. Sie fühlte sich starr, schaute an sich hinunter, aber es war alles okay, sie hatte nirgends Zahnpastaflecken, sie hatte keinen Hundedreck am Schuh, ihre Hose war nicht so neu und glänzend schwarz wie die Anzüge der Männer, aber sauber. Sie vergaß den Tee und als sie ihn endlich brachte, war er ungenießbar. Sie wollte neuen aufsetzen, aber niemand wollte jetzt noch Tee. Sie ging noch einmal in die Küche, die sie nie mehr verlassen wollte. Sie sollte. Sie musste hier weg. Bewegung war jetzt aber nicht möglich, weinen konnte sie nicht, schreien ging nicht, nur warten. Mit Albert war alles anders.

 

Einmal hatte er ihr ein Buch geschenkt aus seiner Sammlung, ein altes.

Am Anfang hatte er gesagt : ich bin nicht gut für dich, das wirst du noch bemerken.

Einmal hatten sie die ganze Nacht auf seinem kleinen Balkon verbracht, sie hatte von ihrer Traumstadt geredet.

Sie wusste auch nicht, was sie von ihm wollte, manchmal überlegte sie, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte über ihn und sie.

Wie erleichtert war sie dann, wenn er wieder einmal verschwand.

Und jedes Mal war sie sicher, dass es nur ein versehentlicher Abschied war.

Mit Albert hatte sie gelacht. Sie sollte ihn auslachen, damit hatte es angefangen. Gelang ihr gut.

Mit Albert war alles anders.

Er brauchte nur da zu sein.

 

Sie saß in dem riesengroßen Wohnzimmer auf einem Zimmerfahrrad, sie trat in die Pedale und sah sich einen Film an. Vom kleinen Parkplatz vor dem Haus war der Motor des schweren Wagens zu hören/das große elektrische Tor schloss sich, es schob sich zwischen die Zufahrt und die Auffahrt (so wurde mit jeder Heimkehr, bei jedem Weggehen das Innere und Äußere scharf getrennt : das ist gut so, doch man könnte schon fragen, was ist jetzt besser, drinnen sich aufhalten oder hinausgehen?). Die Autotür fiel zu, jetzt würde gleich die Haustür geöffnet werden. Die Frau auf dem Zimmerfahrrad stellte sich manchmal vor, wie ihr eigener Schatten die Mädchen in der Früh aus den Betten holt, nach dem Kaffeetrinken, Zeitunglesen etc., während sie selber mit dem Rennrad den langen Weg zur glücklichen Tante fährt und deutlich den Wind spürt, das ist der Fahrtwind, das hat mit der Haut zu tun, sie lässt das Rad laufen, es geht immer bergab auf dem Weg zur glücklichen Tante. Dass die Tage für ihren Schatten ähnlich aussehen wie für sie, aber dass Schatten nichts von Erschöpfung wissen. Wie sie in der Nähe ist und weit weg gleichzeitig und wie sie der glücklichen Tante von ihrer letzten Reise erzählt. Wie sie in scheppernden Bussen das Land von Nord nach Süd abfährt, bleibt, wo es ihr gefällt, von mehrstündigen Verspätungen und dem Zorn und der Fröhlichkeit der Menschen. Dass sie sich keine Gedanken darüber machen muss, ob ein Essen zu scharf ist für die Mädchen, ob die schon zu lange in dem vollgestopften Bus sitzen, in welchem Bett sie alle schlafen werden, ob es sauber genug ist. Und als die glückliche Tante sie nach ihrem Begleiter fragt, sagt sie ausgelassen : die wechseln, es gibt genügend. Auf dem Zimmerfahrrad hätte sie die Stirn runzeln sollen über einen solchen Satz. Sie hörte sich seufzen, schaute gleich über die Schulter. Niemand ertappte sie. Die Frau auf dem Zimmerfahrrad konnte sich in der letzten Zeit nicht immer entscheiden, ob ihr Mann (Gabriel) auf den Reisen mit dabei war. Fleißig war er geworden, ehrgeizig. Wenn er da war, war er ein guter Vater, der seinen Töchtern nicht nur exotische Namen gefunden hatte; ein größerer Ernst war an ihm, wenn er mit ihnen war. Gabriel passte gut an die Seite ihres Schattens.

 

Sein Glück war durch verschiedene Koordinaten festgelegt : er hatte eine fröhliche Jugend lang auf diese erwartbare Zukunft hingelebt, in der alles möglich sein würde. Mit seinen Eltern und den Schwestern hatte er einen Baukasten bewohnt, der mit den Kindern mitgewachsen war. Über die Jahre entstanden neue Räume, innen, außen und über ihrer Wohnung. Freunde und Verstoßene kamen unter, Verwandte wohnten bei ihnen. Balkone wurden gebaut und hinter dem alten Garten ein weiterer angelegt. Im Keller des Hauses befand sich das kleine Zimmer und ein Raum mit einer runden Wand, einem großen Schreibtisch. Vertäfelte Wände, Einbauschränke, eine Leinwand (alles aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Familie). Außerdem die Abstellkammern, die waren so groß wie das kleine Zimmer, nur ohne Fenster, und die tiefen Regale waren vollgeräumt/als sie in das Haus zog, war ihr völlig unklar, wie man hier einen Überblick schaffen könnte. Sie hatte oft gesagt : mach die Türen bitte immer zu, das Chaos rinnt nämlich aus, verteilt sich über den ganzen Keller. Vor einiger Zeit war Regenwasser in das untere Stockwerk gedrungen, niemand hatte es bemerkt, sie wollte nichts sagen/sie konnte alles benutzen/nach Inventarisierung aller vorhandenen Erinnerungen und jetzt : wenn der Wasserschaden behoben war. (Der Parkettboden warf Wellen bis unter die Einbauschränke, darin lebten seit dem Regen Ameisen in großen Gruppen, sie wanderten in der ganzen Etage umher, kannten die Abstellräume, das Badezimmer und die Frau im Keller, die kannten sie auch. Manchmal wachte sie von einem Kitzeln auf Oberarmen, Schultern, Wange auf. Sie duschte immer sofort nach dem Aufstehen, aber die Ameisen waren immer schon vor ihr da. Spülte sie weg mit dem dünnen lauwarmen Strahl. Sie kamen wieder. Die Spinnen waren vor dem Regen da, die Spinnen waren vor den Menschen da, ja sicher. Jetzt marschierten zusätzlich die Soldaten. In Scharen. Sie füllten die Ritzen aus. Gingen ihre Wege, es gab so viele Stellen, an denen der Verputz ein bisschen bröckelte, da krochen sie hervor, das Erdreich unter der Wiese wird voll sein von ihnen und einmal auch diese Räume.)

 

Immer hatte sie darauf gewartet, dass irgendwer von früheren Projekten wieder anrief, dass jemand nachfragte, sie waren doch nie ohne sie ausgekommen. Sie hatte so viel gearbeitet und immer versucht, sich die fremde Materie einzuverleiben. Die wenigen Male, die sie bei Meetings nicht genau gewusst hatte, wovon geredet wurde, steckten ihr schon in den Knochen, natürlich. Aber sie hatte nicht nur aufgeholt. Sie war gut. Sie war flexibel. Sie war verfügbar. Der einzige Anruf aus dem Büro kam von einer Frau, die sie nicht kannte, und die ihr eine Liste mit Fragen mailte, manches mit Fristen, alles recht uninspiriert. Als würden die nicht erwarten, dass sie wieder für sie arbeitete. Jetzt schaute sie in den Kalender und war irritiert, dass sie sich noch keinen neuen besorgt hatte, dann wieder : macht nichts; dass sie den Wind nur hören und nicht spüren konnte, das sollte ihr zu denken geben. Sie stieg über das schmale Lichtdreieck, das auf den Boden im Vorraum fiel, als sie in dem kleinen Zimmer die Kiste holte, die sie vor Gabriels Ordnungsschub gerettet hatte/was hieß hier gerettet. Er wollte eine gute oder wenigstens alte Zeit aus Platzgründen entsorgen. Gabriel wollte verändern/ sich, und die anderen auch. Dafür bildete er sich weiter und weiter und bereits waren kleine Erfolge sichtbar, er arbeitete im Team, er sagte : gerne. Sie hatte sich einmal, zweimal von unten nach oben gearbeitet, sie wollte sich durchsetzen, sie wollte immer zeigen, was sie konnte, sich nicht auf die anderen verlassen. Das große Projekt würde sich verselbstständigen und profitieren würden sie alle davon. Zuerst Assistenz, dann Projektleitung und einmal, keine Ahnung/niemand interessierte sich für Titel, einmal würde sie Direktorin eines Bereichs, hatte sie Gabriel erzählt/weißt du : für alle Museen zuständig. Sie schloss die Tür, der Projektor ratterte.

 Angelika Reitzer (Foto ORF/Johannes Puch)

Das Licht fiel auf die Leinwand und das Objektiv ließ sich scharfstellen, in weißen Lettern auf grauem Hintergrund las sie : BANGKOK. Sie musste gleich an das Studio 14 vorne in der schäbigen Straße denken, darunter stand auch BANGKOK und dann : FERNOSTLIEBE. In einer ähnlichen Schrift, und die Buchstaben konnten sich auch da nicht gerade halten (mussten sie auch nicht). In einem anderen Leben war Albert auf Reisen gegangen und mit Menschen zusammen gewesen, die später noch das Trübe aus seinem Blick vertreiben konnten (Augenblicke lang). Was ist passiert? Waren die Bedingungen wirklich so schlecht? Die anderen arbeiteten doch unter ähnlichen Umständen. Das Bild franste aus oder das Gegenteil davon : in einzelnen dürren Fransen reichte das Schwarze über den Bildrand herein; lange Stauden, Blätter und : ausufernde, bewachsene Dächer, die sie an etwas erinnern (nur das Licht wird ein anderes gewesen sein, ja sicher). Bootstour durch die Khlongs; eine Frau stand im Wasser, sie wusch sich. Wasserspeicher auf dem Dach, Antennen; entlang des Kanals und auf dem Wasser wucherte das Grün, man mochte denken : Dschungel. Die Fahrt ging dahin in 18 Bildern pro Sekunde. Staffage oder Statisten. Die Gesichter der Mitreisenden zeigen und auslöschen zugleich/Gegenlicht. Tempel der Ruhe und Tempel der Morgenröte und Tempelwächter aus Stein, goldene und liegende Buddhastatuen und ein Tempel aus Marmor. Alles war eingerüstet. Die Dächer. Die Statuen, die Altäre. Kleine Glocken und Blättchen bewegten sich im Wind. Giebelähren. Die Bananenstauden waren eingerüstet und die Bananen, die sie trugen, auch. Die Touristen bewegten sich selbstverständlich wie Touristen auf der Straße; hatten die Hemdsärmel hochgeschoben, einige trugen kurze Hosen, alle riesige Sonnenbrillen. Sie hörte das Wasser, die Bewegung der Boote in den Kanälen, oder war das nur mehr eine Erinnerung wie der Wind, der über das Wasser zieht? Zwei junge Burschen wickelten am Markt ein Geschäft ab, das nicht für Neugierige bestimmt war, bestimmt nicht; und alle schauten gleich wieder weg (dramatisch oder dezent). Ein großer Eisblock wurde zerteilt, daneben Weidenkätzchen. Männer schlenderten über den Platz : einer dunkelhäutig und bloßfüßig und mit einem Taschentuch auf dem Kopf; ein anderer groß und schmal, auch er barfuß/das war elegant oder lässig; der lachte sie an. Sie erkannte zuerst seine großen Zähne. Das Lachen kannte sie nicht.

 

Gabriel stand im Vorraum, horchte auf Geräusche (er suchte die Geräusche, die da sein hätten können : eine Frauenstimme, die beruhigend auf ein eben erwachtes oder aufgeschrecktes Kind einredet/eine Stimme am Telefon, Musik oder Stille). Laut kam er sich vor, weil alles ruhig war; die Tür zum Kinderzimmer angelehnt, die Küche dunkel, er hörte seinen Atem, der schwer war. Er sah das Auto auf dem Vorplatz, jetzt war das elektrische Tor eingerastet. Er war zuhause. Er schaute die Kellerstiege hinab (vielleicht), hängte eine Jacke auf, griff nach dem Schlüssel, er ging gerne barfuß durch sein Haus, hier war das meiste gewiss (manchmal fühlte es sich noch neu an; dann sollte die ganze Wohnung riechen wie der Innenraum eines Wagens, mit dem man erst wenige Kilometer zurückgelegt hat, allein : ein leichter Mief lag über den alten Möbeln, kam aus den Ritzen hervor, das machte nichts), kein Licht drang nach oben, kein Laut.

 Angelika Reitzer (Foto ORF/Johannes Puch)

Mit seiner Frau und den Mädchen wollte er um die halbe Welt reisen, Fremde sollten in der Zwischenzeit in ihrem Haus leben und es gab Pläne, wie das zu finanzieren sei. Die Frau auf dem Zimmerfahrrad konnte sich diese fremde Familie gut vorstellen : die Kinder verweigern den Gemüseauflauf, schreien vor dem Einschlafen, sie streiten sich in der Sandkiste oder um Spielzeug, das im ganzen Garten verstreut ist. Sie lassen die Küche verdrecken und vergessen das Oberlicht im Esszimmer zu schließen. Bei dem Gedanken, wie sie auf der fast neuen Matratze miteinander schlafen, konnte sie lachen.

 

Sie löschte das Licht (jetzt lag der Garten endlich im Dunkeln). Sie drehte die Lampen in dem riesengroßen Wohnzimmer ab und im Vorraum. Sie kontrollierte die Haustür. Gabriel hörte auf das Atmen seiner Töchter, dann folgte er ihr ins Badezimmer. Kein Wort. Wasser floss. Handtücher, Kleidung auf den Fliesen, ähnliche Bewegungen, eine bekannte Berührung, ein Lichtstreifen lag auf dem Teppich, neben dem Bett, ihre Haut zitterte nicht, er drehte sich einmal/noch einmal, sie kamen sich nahe, zart, müde. Als würde sie flüstern : sag Sehnsucht nach dem, was da ist. Das war. Es war alles vorhanden zwischen ihnen, das Leintuch zerknittert, die Luft zwischen den Polstern, ihre Schenkel, jetzt nur noch Haut oder Handflächen. Ein Stoßen, Auffangen, jetzt er und sie, halt mich jetzt/halt.

 

Sie sah die posierenden Frauen auf den Stufen, wie der Wind in die Seidenbluse einer Frau fuhr, die auflachte. Diese schönen Gesichter sah sie, die schicken Frisuren der jungen Mädchen, die flachen Bambushüte. Dann tauchte er wieder auf, er war es! Albert stand, immer noch barfuß, in einer belebten Straße; Läden und Lokale, Garküchen, Reisebüros und Massagestudios. Saß unter Arkaden auf einer Mauer, die Füße baumelten. Sein Gesicht war nicht bleich wie zuletzt, die Sonne tat seiner Haut gut, entspannte Züge um den Mund herum, die Falten waren viel tiefer. Sie bemerkte es nicht, plötzlich war an Alberts Seite an seinem Arm eine kleine, zarte Frau zu sehen. Es war eine völlig selbstverständliche Bewegung oder Begegnung, die sie (wieder) verpasste. Einmal hatte sie ihn so lange genervt, bis er den Namen der Frau, die er beinahe geheiratet hätte, endlich nannte. Jetzt versuchte sie sich daran zu erinnern und probierte : Nung und Gung und Nuh, aber sie wusste den Namen nicht mehr und so nannte sie die Frau an Alberts Seite Malie, was Jasmin bedeutet und ihr passend erschien für sie, sie roch sicher gut.

 

Er war so elegant.

Jetzt war Malie nicht mehr zu sehen. Vielleicht lag es an ihr, dass Albert kein Vertrauen in die Zukunft mehr hatte. Nichts weiter.

Wahrscheinlich hatte das alles nichts mit seinen unsicheren Umständen und seinem Abstieg oder Absturz zu tun.

Er war ein anderer.

Es spielte jetzt keine Rolle mehr, was zuerst war : die unanständigen Verträge oder Alberts Tendenz zu fatalen Auseinandersetzungen.

Er zeigte über die Anlage oder auf einen Swimmingpool.

Das Hupen der Tuktuks und das Hupen der Autos, das Dröhnen von Motoren, Stimmen von Vögeln und Menschen, die Geräusche der Hitze, der Straße und der Gebäude, alles weit weg. Albert lachte auf.

Um sie herum wucherte das Grün, sie stand vor dem Haus.

Vielleicht war Albert wie sie.

Die Arbeiter auf den Gerüsten wuschen die Pinsel aus.

 

Banner TDDL 2008