Clemens J. Setz, Graz (A)
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren und lebt in Graz. Setz wurde zum Bewerb von Daniela Strigl vorgeschlagen.
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Videoporträt
Clemens J. Setz
DIE WAAGE
1
Das Treppenhauslicht ging aus und Daniel stand in vollkommener Dunkelheit vor einer Wohnungstür im vierten Stock. Die Musik, die aus der Wohnung dröhnte, klang in dem nackten, fensterlosen Korridor hart und unveränderlich. Daniel schaltete das Licht wieder ein; er musste sich weit vorlehnen, um den Lichtschalter zu erreichen. Das Türschild, auf das Daniel zuletzt gestarrt hatte, erschien wieder und hieß genauso wie vorher, Gerd & Elfriede Kaiser.
Daniel stand eine Weile da und hörte zu, wie sich die Musik in einen weiteren epileptischen Höhepunkt hineinsteigerte - dann ließ er sich von seinen Füßen umdrehen und ging die Treppe hinunter, zurück in die Wohnung.
- Und?
- Ich hab's ihnen gesagt, sagte Daniel.
Er bückte sich tief und zog sich die Schuhe aus. Seine Frau ging sofort ins Schlafzimmer.
- Keine Spur leiser, rief sie von dort.
- Was?
Daniel legte die Kleider ab, die er über seinen Pyjama angezogen hatte.
Rita kam aus dem Schlafzimmer zurück.
- Nicht der geringste Unterschied, sagte sie.
- Mehr, als es ihnen sagen, kann ich nicht.
- Und was genau hast du gesagt?
- Dass sie die Musik leiser stellen sollen, sagte er. Weil hier Leute wohnen, die schlafen möchten.
- Und?
- Also der Mann, der aufgemacht hat, hat einfach nur genickt und die Tür wieder geschlossen. Aber nicht unfreundlich. Es hat zumindest nicht so ausgesehen, als würde er mich verarschen oder ignorieren oder ... Vielleicht will er sich nur das eine Lied noch zu Ende anhören.
- Es ist halb zwei!
- Ja, ich weiß.
- Außerdem hört der keine Lieder, sagte sie, das ist irgend so eine endlose Technoscheiße.
- Ach, das kommt uns hier unten wahrscheinlich nur so vor, sagte Daniel.
Er fragte sich, ob er rot geworden war. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Er versuchte, Rita nicht anzusehen.
- Weißt du was?, sagte sie. Der da oben schert sich einen Dreck um das, was du ihm gesagt hast!
- Kann sein. Ich hab getan, was ich konnte, sagte er und ging an Rita vorbei ins Badezimmer.
Er wusch sich die Hände und klatschte sich ein wenig kaltes Wasser auf die Wangen.
Später musste er wieder an das Türschild denken und die Namen, die darauf standen, selbst jetzt noch, während er längst im Bett lag und versuchte, die in den Wänden feststeckende Musik zu vergessen.
2
Im Postkasten fand er einen Brief, in dem etwas über Zeit stand - dieses Wort blitzte in Großbuchstaben einige Male aus dem Text hervor. Es handelte sich um Werbung für eine neue Versicherung. Er hatte Mühe, den Text zu lesen, da es im Stiegenhaus dunkel war und seine Augen in den letzten Monaten wieder schlechter geworden waren. Er hatte noch keine Zeit gefunden, sich eine neue Brille zu besorgen. Dazu kam die Schlaflosigkeit, die machte alles noch schlimmer.
Er drehte den Werbebrief unschlüssig zwischen seinen Fingern, dann legte er ihn zu den bunten Gratisbroschüren, die in den Müll wandern sollten.
Er sperrte den Postkasten zu, steckte den Schlüssel ein und ging durch die Hintertür in den Hof. Grelles Sonnenlicht empfing ihn. Er schirmte seine Augen mit einer Hand ab.
Zuerst hielt er das, was er neben den Mülltonnen stehen sah, für eine große Uhr; eines jener altertümlichen Exemplare, welche sich in adligen Landhäusern finden und in deren Bauch man melancholische Pendel und Zahnräder dabei beobachten kann, wie sie sich zu einer geheimen Trauermusik bewegen.
Er trat näher. Ein kleiner Metallkasten hockte links über dem Uhrengesicht, auf dem Kasten drei stilisierte Münzen und darunter die Zahlen 2, 1 und 50. Die Waage hatte eine metallene Trittfläche, auf der die stilisierten Abdrücke zweier nackter Füße zu sehen waren.
Jemand schien das monströse Ding entsorgen zu wollen. Andererseits, dachte Daniel, wurde Sperrmüll hier gar nicht mitgenommen.
Daniel setzte vorsichtig einen Fuß auf die Trittfläche der Waage und ließ ihn wippen. Nichts geschah. Er versuchte es mit mehr Kraft und sah, dass der kleine schwarze Zeiger ein wenig zu zittern begann. Die Münzautomatik funktionierte offenbar noch, die Waage war nicht kaputt. Seine Hand wanderte, ohne nachzudenken, in seine Hosentasche, auf der Suche nach Kleingeld, dann schüttelte er den Kopf über diese dumme Idee. Er hatte eine Waage bei sich im Badezimmer stehen, eine elektronische sogar. Außerdem wusste Daniel ganz genau, wie viel er wog.
Er riss sich von der Waage los und ging zum Auto. Erst als er die Wagentür schon geschlossen hatte und den scharfen Rand des Sicherheitsgurtes durch seine Hand gleiten ließ, bemerkte er, dass er die ganze Post mitgenommen hatte, ohne die Broschüren und Werbebriefe weggeworfen zu haben. Es ärgerte ihn und er legte den Müll auf den Beifahrersitz.
Dumme Waage, dachte er, als er das Auto sehr vorsichtig rückwärts aus der schmalen Einfahrt steuerte.
Als er im Büro ankam, warf er gleich als erstes den Brief von der Versicherung und den anderen Reklamemüll in den Papierkorb, stopfte alles tief und fest hinein und rief seine Frau zu Hause an. Sie nahm erst nach dem sechsten Klingeln ab, sie schnaufte. Im Hintergrund hörte er Radiomusik, also befand sie sich wahrscheinlich im Zimmer, wo die Stereoanlage stand. Aber warum war sie so außer Atem?
Er hätte sie danach fragen können, aber er tat es nicht. Er erklärte ihr, was er eben im Hof gesehen hatte. Sie verstand zuerst nicht, was er von ihr wollte, dann fragte sie ihn, wieso er sie deswegen anrufe.
- Ach, nur so, sagte Daniel.
- Okay.
Sie atmete einmal tief aus.
- Kannst du mir eines verraten?, sagte er. Welcher Idiot stellt so etwas in den Garten?
- Was? Keine Ahnung, meinte sie.
- Es nimmt ungeheuer viel Platz weg, sagte Daniel. Man kommt kaum zu den Fahrrädern.
- Wie groß ist es denn?, fragte sie.
- Na ja, irgendwie riesig ...
Daniel machte sitzend eine verkrampfte Schwimmbewegung, um die enorme Größe des seltsamen Relikts anzuzeigen.
- Was heißt riesig? So groß wie ein Trampolin?
- Nein, nein, nicht so wie ein ... Also höchstens so groß wie, wie ...
Er suchte nach einem passenden Vergleich, aber als er merkte, dass sich seine Frau am anderen Ende der Leitung räusperte, sagte er, was ihm gerade in den Sinn kam.
- Wie ein Kind. Höchstens so groß wie ein Kind.
- Aber das ist doch nicht riesig, sagte seine Frau. Vielleicht schau ich mir das Ding später an.
- Nein! Geh nicht hinunter, rief Daniel.
Seine Frau schwieg eine Weile. Er merkte, dass er den Hörer mit beiden Händen umklammert hielt.
- Ist ja gut, sagte sie schließlich. Was ist denn los? Hast du die Waage vielleicht erfunden? Ist das wieder eine deiner Geschichten, die mich irgendwie weiterbringen sollen? Wenn du das -
- Nein, nein, sagte Daniel, ich habe nur gemeint, es ist vielleicht fremdes Eigentum.
- Schon gut, sagte sie. Du klingst gestresst. Mach ein Kreuzworträtsel.
- Okay, mache ich, sagte er und legte auf.
3
Daniels Tochter Lena hieß eigentlich Elena, oder auch Helena, mit unbetontem H; in ihrer Geburts- und Taufurkunde fanden sich beide Versionen. Daniel und Rita hatten sie adoptiert. Sie kam aus Mexiko, ihre Herkunft hatte sie allerdings bereits weitgehend abgelegt. Sie erinnerte sich noch ganz gut an ihre Muttersprache, aber nur, wenn man sie auf Spanisch ansprach, was praktisch nie jemand tat, höchstens einmal ein Mensch im Fernsehen. Der Zufall wollte es, dass sie Rita ein wenig ähnlich sah. Daniel dachte manchmal über Lenas biologische Eltern nach. Ohne dass er damit etwas Bestimmtes ausdrücken wollte, stellte er sie sich stets an einem großen Fluss stehend vor.
Er hatte Rita bei der Arbeit kennen gelernt, aber kurz darauf hatte sie gekündigt. Sie hatte Architektur studiert und wollte sich nun als Designerin versuchen. Schon nach kurzer Zeit gewann sie einen kleinen Preis für ihre ersten Entwürfe; es war ein zweiter Preis gewesen. Die Urkunde hing einen Abend lang an der Wand und sie saßen davor und betrachteten sie, während im Zimmer eine Uhr tickte. Am nächsten Tag war die Urkunde verschwunden.
Kurz darauf hatten sie das erste Mal über das Mysterium der Adoption gesprochen.
Da er sich den ganzen Tag nur schwer konzentrieren konnte, dachte Daniel an früher, und er dachte an die Waage, die im Hof stand und auf ihn - nein, natürlich wartete sie nicht; was für ein dummer Einfall.
Bei der Begutachtung eines Plans, der das geisterhaft durchsichtige Fundament eines Krankenhauses zeigte, fiel ihm eine eindeutige Fehlberechnung erst nach der dritten Kontrolle auf. Er sprach mit einem Kollegen darüber, der ihm den Plan aus der Hand nahm und schweigend Strich für Strich untersuchte, während Daniel nutzlos danebenstand und auf den Fußballen wippte.
Er fragte, ob es sehr ungelegen wäre, wenn er heute etwas früher nach Hause ginge. Der lange Bart des Kollegen streifte über den Bauplan, dann blickte er auf und nickte.
- Natürlich nicht, sagte er.
4
Als Daniel am nächsten Tag in die Arbeit fahren wollte, sah er den Hausbesitzer, Herrn Greith, im Garten. Greith trug ein T-Shirt, auf dem eine abstrakte Wasserfläche und ein brauner Inselhügel zu sehen waren. Auf der Insel stand eine einzelne Palme, die im Begriff war, das Gleichgewicht zu verlieren. Etwas abseits stand Herr Gruber, ein Mieter aus dem vierten Stock.
- Daniel!, rief Greith. Hast du unseren Dinosaurier hier schon gesehen? Wir sind alle schon einmal darauf geritten.
Er hielt einen Zettel hoch, eine Liste von Zahlen. Daniel konnte nur die oberste Zahl erkennen: 92. Er blinzelte und dachte an seine schwächer werdenden Augen, da hielt ihm jemand eine Münze vors Gesicht und er zuckte zurück.
Greith lachte, weil er Daniel erschreckt hatte.
- Alles in Ordnung, sagte Greith. Du bist nicht der Erste. Oder?
Gruber lachte bestätigend und deutete auf seine Schuhe, als wäre das eine sinnvolle Ergänzung.
- Ich weiß, wie viel ich wiege, sagte Daniel.
- Aber es macht mehr Spaß, wenn die ganze Nachbarschaft zuschaut.
Greith klopfte ihm auf die Schulter. Er deutete auf die Galerie der Balkone, die ernst auf die drei Männer im Garten herunterblickten. Auf einem Balkon stand ein Kinderteleskop, dessen Hals in einem extremen Winkel verbogen war, als hätte ihm jemand das Genick gebrochen. Ein leichter Wind strich über die Männer, also nahm Daniel die Münze und warf sie ein. Er ärgerte sich darüber. Er stieg für eine Sekunde auf die Waage, nur mit halbem Gewicht, der Zeiger federte wild hin und her, und bevor er sich eingependelt hatte, war Daniel schon wieder heruntergestiegen und auf dem Weg zum Auto. Sein Herz schlug.
- He, rief Greith ihm nach.
Gruber wieherte vor Lachen.
Daniel wandte sich um. Greith deutete mit dem Zeigefinger auf ihn, dann ließ er den Finger zu der Waage hin wandern. Daniel winkte ab, und obwohl die beiden Männer längst nicht außer Hörweite waren, tippte er auf seine Armbanduhr und stieg ins Auto.
Er hatte Schwierigkeiten, aus der Einfahrt zu kommen. Obwohl er sich sicher war, dass die beiden ihn nicht beobachteten, fuhr er zuerst viel zu nahe an die Hauswand heran, musste den Vorwärtsgang wieder einlegen und alles noch einmal versuchen. Bestimmt war es die Müdigkeit, dachte er. Wieder waren die Wände die halbe Nacht lang voll verrückt gewordener Musik gewesen, und er war diesmal gar nicht erst hinaufgegangen, obwohl ihn Rita mehrmals darum gebeten hatte.
Bevor er um die Ecke bog, riskierte er einen letzten Blick zurück. Die Männer beachteten ihn gar nicht. Greith las mit großer Geste von dem Zettel ab.
5
Wieder kam seine Frau schnaufend an den Apparat und musste, bevor sie sprechen konnte, erst einmal Atem schöpfen.
- Ja? Was?
Daniel hatte völlig vergessen, warum er sie angerufen hatte. Also sagte er:
- Hast du danach noch schlafen können?
- Nein. Du?
- Doch. Ein bisschen.
- Schön für dich.
- Du bist wütend auf mich, oder? Weil ich diesmal nicht raufgegangen bin?
Sie schwieg.
- Ich bin ja selbst wütend auf mich, sagte er, ich war nur schon so müde ... und sich noch einmal anziehen und hinauflatschen und sich da oben aufspielen -
- Du hättest dich nicht anziehen müssen, korrigierte sie ihn. Für so etwas hat man einen Morgenmantel.
- Ich nicht. Ich mach so was nicht.
- Du machst so was nicht, wiederholte sie. Ja, hab ich gemerkt.
- Nein, das meine ich nicht, sagte er. Ich ziehe keinen Morgenmantel über meinen Pyjama und gehe dann nach oben und läute an irgendeiner Tür.
- Nicht an irgendeiner, sagte seine Frau gereizt.
- Bist du jetzt wütend?, fragte er.
- Ach ... Frag mich das am besten später noch einmal.
- Ich hab's mir schon gedacht, sagte Daniel und stand von seinem Sessel auf. Du bist immer so kurz angebunden.
- Bin ich das?
- Ja, du bist es jetzt doch auch.
- Aha.
- Da, siehst du?
- Weißt du was, lass uns das Thema wechseln, sagte sie.
Er räusperte sich, aber der kratzige Ton, den seine Stimme schon den ganzen Morgen hatte, ging davon nicht weg. Ihm fiel auf, dass das Schuhband an seinem linken Schuh aufgegangen war. Er legte den Telefonhörer zurück auf den Apparat und beugte sich unter seinen Schreibtisch. Nachdem er den Knoten festgezogen hatte, bemerkte er, dass er den Hörer aufgelegt hatte, ohne sich zu verabschieden.
Er starrte auf das schwarze Telefon. Er überlegte, ob er noch einmal anrufen sollte, um sich zu entschuldigen, aber er hatte bereits zweimal angerufen, und sie hatte etwas gereizt reagiert. Gereizt, kurz angebunden. Außer Atem. Heute wie gestern.
Daniel drehte sich in seinem Bürosessel hin und her. Er hatte seiner Frau gar nicht erzählt, dass sie ihn dazu genötigt hatten, auf die Waage zu steigen. Vielleicht nicht direkt genötigt. Ich hätte auch Nein sagen können, sagte er sich. Und außerdem, was war schon dabei? Sein Geld war es nicht gewesen. Und für mein Gewicht, dachte er, muss ich mich nicht schämen. Es war ein normales Gewicht.
Er hörte Musik aus dem Nebenraum und ging zur Tür.
- Ruhe bitte, sagte er.
Zwei Kollegen, die erst vor einer Woche in der Firma angefangen hatten, blickten verwundert auf. Aber anstatt das Radio, das in Harmlosigkeit erstarrte Volksmusik von sich gab, leiser zu stellen, warteten sie, bis Daniel sich wieder in sein Büro zurückgezogen hatte.
6
Als er mit dem Wagen auf seinen Parkplatz zusteuerte, musste Daniel stehen bleiben und warten. Greith, der neuerdings offenbar den ganzen Tag im Garten verbrachte, stand im Weg und spielte mit einer blechernen Gießkanne.
Daniel hupte, Greith blickte auf, lachte, entschuldigte sich lautlos und trat zur Seite. Er hinterließ einen nassen Rorschachfleck auf dem Asphalt, als er zur Waage ging.
Greith kniete sich mit einem kleinen Ölfläschchen in der Hand davor nieder, als wollte er beten.
Daniel stieg aus dem Wagen und sofort winkte ihn Greith zu sich. Daniel tat so, als würde gerade jetzt sein Handy läuten. Er kramte es eilig hervor, hielt es sich besorgt an die Wange und verschwand im Stiegenhaus.
Neben dem Postkasten hing ein Zettel. Er trat näher. Diese Idioten, dachte er.
Offenbar machten sie sich einen Spaß daraus, über ihre sinnlosen Wiegeresultate Buch zu führen. Der Zettel listete in einer schmucklosen Exceltabelle die Namen aller Mieter auf, auch die von Gerd und Elfriede Kaiser. Gerd wog 90 Kilo, kein Leichtgewicht. Am Seitenrand standen ein paar Ergänzungen in krakeliger Handschrift, die Daniel nicht entziffern konnte. Aber er erkannte den Zettel wieder, es war der Werbebrief von der Versicherung.
Außer Greith und Gruber wog kein Mann im Haus mehr als 100 Kilo. Er suchte nach seinem eigenen Namen und fand ihn; daneben standen zwei Fragezeichen.
Diese Spinner, dachte er.
Seine Frau fehlte. Erleichtert atmete er aus. Nachdem er mit der Hand über seine Stirn gewischt hatte, kam ihm das schon selbstverständlich vor. Es war völlig unsinnig, sich Sorgen zu machen.
Trotzdem strich er den aufgerollten Zettel glatt, dankbar und etwas zittrig, dann suchte er nach anderen Namen, die ihn interessierten. Es gab so viele Parteien in dem vierstöckigen Haus, viele davon waren erst vor ein paar Monaten eingezogen, und einige Namen sagten ihm noch überhaupt nichts. Es gab nur wenige Konstanten im Haus, er selber gehörte dazu. Greith natürlich. Gruber auch. Und ein alter Jamaikaner, den alle Eric nannten und der - Daniels Finger suchte den entsprechenden Eintrag - 75 Kilo wog. Er hätte ihn auf mehr geschätzt.
- Noch lange nicht vollständig.
Daniel taumelte zur Seite.
- Nicht alle wollen auf unserem Dinosaurier reiten, sagte Greith fröhlich und wischte sich die öligen Finger an seinem T-Shirt ab.
Dinosaurier reiten, sagte das Echo in Daniels Kopf, während er mit einem mühsam aufrechterhaltenen Lächeln die Treppen hinaufstieg.
Greith blieb stehen und sah ihm nach. Er blickte gar nicht unfreundlich.
7
Es war früher Morgen. Das Frühstücksei in dem roten Holzbecher sah aus, als würde es intensiv über etwas nachdenken. Ein stiller, runder Gegenstand. Daniel klopfte den weißen Kopf mit der Rückseite eines Teelöffels auf und brachte die Schale mit seinem Fingernagel genüsslich zum Abblättern. Der reizende Gegensatz von harter Eierschale und weichem Inneren weckte seinen Appetit. Während er das Ei auslöffelte, schaute er aus dem Fenster.
Er hatte an diesem Morgen drei Kreuzworträtsel hintereinander gelöst. Die Lösungswörter waren Schiffbruch, Karate und Sri Lanka.
Draußen blubberte schon die ganze Zeit ein Polizeihubschrauber.
Als Daniel mit dem Schneidezahn an die Kaffeetasse stieß, fiel ihm auf, dass er Angst hatte. Das Gefühl verhinderte, dass er sich frei bewegen konnte. Als stünde er bis zu den Schultern in eiskaltem Wasser. Wenn er schluckte, musste er daran denken, dass er schluckte.
Er blieb vor dem Spiegel im Vorzimmer stehen und kontrollierte seine Körperhaltung. Er richtete sich auf, drehte sich hin und her und sein Spiegelbild tat dasselbe. Dann verlor er die Geduld und wandte sich ab.
Rita kam aus dem Badezimmer.
- Gehst du schon?, fragte sie.
Daniel nickte unsicher. Ja, er ging jetzt. Aber ihm fiel ein, dass er sich noch nicht von Lena verabschiedet hatte, also ging er zurück ins Kinderzimmer und sagte:
- Tschüss dann.
Sie schaute kurz zu ihm auf.
Auf dem Weg zur Arbeit versuchte er, nur an sie zu denken. Einmal hatte sie gegen ihn im Schach gewonnen, ohne dass er sie hätte gewinnen lassen. Damals war sie erst sechs gewesen.
8
Am nächsten Abend drängte ihn Lena, mit ihr in den Garten hinunterzugehen, dort werde gegrillt. Daniel sagte Nein, da sie gar nicht eingeladen worden waren, doch Lena bestand darauf. Herr Greith hätte ihr vom Garten aus zugewinkt. Sie solle später doch herunterkommen, er reserviere ihr auch ein feines Stück Kotelett.
Jetzt war es bereits dunkel und Lena, der von dem Fleisch übel geworden war, war längst wieder nach oben gegangen. Daniel stand mit den anderen Männern aus dem Haus zusammen. Sie unterhielten sich im Licht der kleinen Lampen, die von einem Bewegungssensor aktiviert wurden. Herr Greith hatte die Anlage vor ein paar Jahren im Hof installieren lassen, damit man in der Nacht nicht stolperte. Sie mussten allerdings alle paar Minuten mit den Armen wedeln und dumm auf und ab hüpfen, damit der Sensor sie erkannte. Vermutlich wäre das Licht auch nicht immer wieder ausgegangen, wenn sie sich ein wenig bewegt hätten, aber dafür waren sie alle zu müde. Die meisten Männer hatten viel Fleisch gegessen und erzählten sich entsprechend obszöne Witze.
Herr Greith sprach von einem Kennenlern-Fest und stellte die neuen Mieter einander so oft vor, bis sie irgendwann auswendig mitsprechen konnten. Unter den Neuzugängen befanden sich auch Gerd und Elfriede Kaiser.
Daniel vermied es, mit ihnen zu sprechen.
Sooft es dunkel wurde, wedelte Greith mit den Armen, sprang auf und ab, und die Männer lachten. Mit einem verspäteten Blinzeln registrierte der Bewegungsmelder die Anwesenheit seines Herrn. Die Waage bekam ihren langen, robenartigen Schatten zurück, der an der Mauer jäh abknickte.
- Ein Hoch auf deine Leibesfülle, sagte Gruber.
- Selber hoch, sagte Greith.
- Lei-bes-fül-le, wiederholte Gruber kichernd.
Gerd Kaiser verschüttete vor Lachen sein Bier und leckte mit der Zunge über sein Handgelenk. Elfriede Kaiser war die einzige Frau, die noch geblieben war. Sie reichte ihm ein Taschentuch, aber er wies es zurück.
Nach einer Weile ging das Licht wieder aus. Greith fluchte und begann zu winken. Aber da das Licht auf seine Wiederbelebungsversuche nicht mehr reagierte, machte er schließlich zwei schwerfällige Hampelmänner.
Gruber applaudierte wild.
- Verdammte Elektronik, sagte Greith. Mir kommt vor, die wird jedes Mal unempfindlicher.
- Sie kennt dich halt schon, sagte Gerd Kaiser in überraschend familiärem Ton.
Greith zeigte ihnen allen den Mittelfinger. Sie kicherten.
Daniel fror. Er steckte die Hände in die Hosentasche und ließ sie dort zwei Fäuste bilden.
9
Die Männer standen noch bis spät in die Nacht beisammen und redeten. Daniel fühlte sich nicht mehr so verloren und ließ sich auf ein Gespräch mit Greith ein.
- Sag mal, wie alt ist eigentlich deine Tochter?
- Zehn, sagte Daniel.
- Ich seh sie immer unten vorbeigehen, sagte Greith anerkennend. Zehn. Sieht mehr aus wie zwölf.
- Ja, in dem Alter wachsen sie schnell, sagte Kaiser. Das macht die Ernährung.
- Kann sein, sagte Daniel.
- Die Fleischprodukte, ergänzte Kaiser.
- Du weißt nicht zufällig, wie viel deine Tochter wiegt?, fragte Greith.
- Ja, und die ganzen Zusatzstoffe, fügte Daniel hinzu.
- Und wenn sie dann noch so viel im Freien sind, sagte Kaiser, da schießen sie in die Höhe wie junge Bäume. Mein Sohn, der überragt mich inzwischen um zwei ganze Zentimeter, dabei ist er erst - also nächsten Monat wird er dreizehn.
- Ja, Kinder, sagte Greith zu sich selbst. So ein echtes Kind zu wiegen, das ist fast schon ein seltenes Vergnügen.
- Ja, sie wachsen sehr schnell, das ist wahr, bestätigte Daniel mit etwas ernsterer Stimme.
- Weil sie sich zieren, sagte Greith zu seinem erhobenen Zeigefinger, der ganz nahe vor seinem Auge schwebte. Wenn's um ihr Gewicht geht, sind sie empfindlich wie Nadelkissen.
Dann ging das Licht wieder aus.
- So, ich rühr mich nicht mehr, sagte Greith. Macht, was ihr wollt.
- Vierzehn, sagte Kaiser laut. Hab ich vorhin dreizehn gesagt? Er wird vierzehn, nächsten Monat.
- Von mir aus können wir auch im Finstern weiterreden, sagte Gruber.
- Was ihr wollt, sagte Greith.
- Komm, erlöse uns, sagte Gruber und schubste Daniel sanft.
Daniel bewegte beide Arme, wie ein Fluglotse, der ein über ihn hereinbrechendes Flugzeug vom Landen abhalten will. Es dauerte eine Weile, dann erbarmte sich das Licht neuerlich. Die Männer applaudierten. Greith sog die Nachtluft geräuschvoll durch die Nase ein, hielt sie dort eine Weile und atmete genüsslich aus.
- Herrlich, sagte er. Ist euch schon mal aufgefallen, dass der Sternenhimmel verschwindet, wenn das Licht im Garten angeht?
- Und so still, ergänzte Gruber und deutete auf die leeren Balkone und die Fenster, die größtenteils erloschen waren. Alle schlafen.
- Sommernacht, sagte Greith und streichelte die Palme auf seinem Hemd.
- Ich glaube, ich werde jetzt auch schlafen gehen, sagte Daniel.
In der Wohnung schaltete Daniel das Licht in den Zimmern aus, die zum Hof blickten, sodass die Männer unten nicht sehen konnten, wann er ins Bett ging. Er vermied es, Geräusche zu machen, und saß lange bewegungslos im Dunkeln, bis er endlich schläfrig wurde.
Im Traum wurde er mit einem kilometerhohen Glockenturm konfrontiert, der ihm heisere, trockene Melodien vorspielte, von denen sich seine Fingerspitzen schwarz färbten.
10
Am nächsten Morgen glaubte Daniel den Garten leer, aber Greith, zerzaust wie ein Hund nach dem Regen, war immer noch da und brachte alles durcheinander. Die Reste des gestrigen Festes, Pappteller und Bierflaschen, hatte er auf einen Haufen geräumt, in den er anschließend mit voller Wucht getreten war. Daniel grüßte ihn vorsichtig. Greith erzählte ihm sofort, dass ihn die Männer, nachdem Daniel ins Bett gegangen war, fürchterlich ausgespottet hatten, weil er immer noch allein lebte, ohne Frau.
- Na ja, sagte Daniel.
- Auch ich bin ein Mensch, sagte Greith trotzig.
- Natürlich.
- Es mag einen ja wundern, rief Greith, aber auch mich kann man kränken.
- Ach, die haben das bestimmt nicht ...
- Vor allem dieser Frischling, dieser Gerd, sagte Greith enttäuscht. Spielt sich auf, als wüsste er ...
- Bestimmt waren alle nur ein bisschen -
- ... wie viel Kinder wiegen, murmelte Greith, und sein Kinn lag fast auf seiner Brust.
Er hatte die eine Hand wieder auf sein T-Shirt gelegt. Sie blieb eine Weile dort liegen und die Finger bewegten sich unschlüssig hin und her, dann schoss die Hand plötzlich vor und nahm Daniel sanft bei der Schulter.
- Dinosaurier müssen gefüttert werden, sagte er. So wie ich, ich bin auch ein Dinosaurier, ein Relikt aus alten Zeiten. Als uralten Feinschmeckerzeiten. So, jetzt wollen wir mal sehen ... Ich hab doch Recht, oder? Es gibt eine Grenze für Sticheleien.
Er summte eine verwirrte, kleine Melodie, während Daniel auf die Waage stieg.
- Sicher ist dieser Gerd Kaiser gescheiter als ich, fuhr er fort, in einem gewissen Sinn, das bestreite ich ja gar nicht.
Daniel rührte sich nicht. Er war von Greith auf die metallene Standfläche der Waage gezogen worden, aber im Grunde hatte er den letzten Schritt selbst getan, aus eigenem Antrieb - nur um nicht zu stolpern, sagte er sich. Aber jetzt hielt Greith ihn dort oben fest, ja, er erhöhte Daniels Gewicht noch, indem er ihn mit seiner schweren Hand leicht nach unten presste. Er verfälscht das Ergebnis, dachte Daniel und korrigierte diesen Gedanken sofort wieder, weil er natürlich dumm und albern war. Was kümmerte ihn sein Gewicht - er wollte doch nur runter von der Waage. Also versuchte er es und zuckte einmal vorsichtig mit den Schultern.
- Oh, sagte Greith und ließ ihn los. Entschuldige.
Der Zeiger sank erleichtert zurück und zeigte 68 Kilogramm an, sein normales Gewicht. Daniel war unendlich froh, die vertraute Zahl zu sehen. Fast hatte er schon ein völlig unmögliches Ergebnis erwartet, ein dreistelliges Monster, dem er vielleicht nicht gewachsen gewesen wäre. Er drehte sich um und wollte schon von der Waage steigen - das dringende Bedürfnis, zu duschen -, doch Greith versperrte ihm den Weg. Nicht absichtlich, wie Daniel feststellte, denn Greith achtete gar nicht auf ihn. Greith wühlte in seinen Hosentaschen, fand schließlich, was er gesucht hatte, und hielt es in die Höhe: ein Stift. Er versuchte zu schreiben, aber es ging nicht, ohne Unterlage. Das Papier war zu weich.
- Wärst du so freundlich, sagte er heiter-ungeduldig, und seine Hand beschrieb einen liegenden Halbkreis.
Daniel hatte verstanden. Er entschuldigte sich leise, stieg von der Waage und drehte sich um, sodass Greith seinen Rücken als Schreibunterlage verwenden konnte. Er spürte den kurzen Kreiseltanz der Kugelschreiberspitze auf seiner Haut. Als die Zahl schließlich eingetragen war, rannte Daniel, ohne Licht zu machen, durch das Stiegenhaus hinauf in seine Wohnung.
Seine Tochter war gerade dabei, sich für die Schule anzuziehen. Er strich ihr über den Kopf und murmelte etwas Ermutigendes.
Als er endlich in der Wanne lag, unter einem knisternden Gebirge aus Badeschaum, hatte er das Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein. Später rief er im Büro an und entschuldigte sich viele Male, bis man ihm versicherte, er werde nicht dringend benötigt.
11
Daniel öffnete die Augen. Er hatte geträumt, er sehe, wie sein eigener Schatten über Föhrenwipfel geisterte. Er saß in einem Sessellift und steuerte einer Bergspitze zu, aus der ein riesiges Besucherzentrum wuchs.
Über das merkwürdige Traumbild grübelnd, zog er sich an, ohne daran zu denken, dass heute Sonntag war. Erst als seine linke Hand in den kühlen Ärmel seines Sakkos tauchte und seine Armbanduhr für einen Moment am Innenfutter hängen blieb, fiel ihm der träge Lichtschein auf, der aus dem Kinderzimmer drang. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Seine Tochter schlief noch - er klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn, dann streifte er mit einem entschuldigenden Lächeln das Sakko ab und hängte es auf den Kleiderbügel zurück.
Daniel ging in die Küche. Stühle, ein schwerer Küchentisch, eine Brotschneidemaschine, eine einsame Kaffeetasse - alles schien zu schlafen. Nur er war wach.
Warum war er überhaupt so früh aufgestanden? Er war sonntags sonst immer der Letzte und ärgerte sich, wenn irgendetwas ihn davon abhielt, länger im Bett zu bleiben. Unsinnigerweise klopfte sein Herz.
Draußen regnete es.
Er zog sich wieder an und ging in den Garten hinunter.
Im Schutz der alten Hoftür betrachtete er den Nieselregen, dann trat er, ohne den Schirm aufzuspannen, ins Freie und ließ sich nass werden. Die Waage stand im Regen, er prasselte auf ihr kreisrundes Haupt und weichte die Erde unter ihr auf, sodass man hoffen konnte, sie würde bald versinken.
Er sah, dass irgendetwas verändert war, und kniff die Augen zusammen. Aber wirklich scharf wurde das Bild nicht, und er musste näher rangehen. Etwas war anders, aber er erkannte nicht gleich, was es war. Die Waage stand da wie immer, das breite Uhrengesicht glotzte bedrohlich ins Nichts und der massive Körper wirkte tonnenschwer und unverrückbar, wie ein vor vielen Jahrzehnten stehen gebliebenes Pendel.
War sie über Nacht vielleicht ein wenig größer geworden? Nein, das war es nicht.
Zuerst dachte Daniel, es liege an seinen Augen, dann sah er es: An der Waage fehlte etwas. Es war ein Ohr, das linke - dem Uhrengesicht mit dem herrischen, zuckenden Zeiger in der Mitte fehlte tatsächlich das linke Ohr.
Ihm wurde heiß. Keine Schranken mehr, dachte er verwirrt.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und bemerkte, dass er zu schwitzen begonnen hatte. Er trat näher an die Waage heran, um sich die Veränderung genau anzusehen. Wo die Münzautomatik befestigt gewesen war, mit der man die Waage zum Leben erwecken konnte, befanden sich jetzt drei schwarze Löcher für drei vermutlich längst in den Müll geworfene Schrauben.
Sein rechter Fuß traute sich, trat vor und machte die Probe. Der Zeiger, sonderbar leichtfüßig und befreit, machte bei der ersten Berührung einen freudigen Sprung, als zöge ihn ein unsichtbarer Faden.
- Daniel!
Seine Frau schaute vom Fenster herunter, ihr Gesicht war unschuldige Verwunderung und Überraschung, ein unbeschwertes Sonntagsgesicht. Er konnte es nicht mehr ertragen, also sagte er:
- Mach das Fenster zu!
- Warum? Was ist denn?
Sie war wieder außer Atem, bemerkte er. Und aus irgendeinem Grund ertrug er diesen Anblick nicht mehr und rief:
- Mach zu! Mach zu!
Er wedelte mit beiden Armen, um sie zu verscheuchen. Aber sie blieb, wo sie war, nur ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung hatten sich verändert.
Daniel spürte, wie sich die Blicke der gesamten Nachbarschaft auf seiner linken Wange sammelten, wie auf einem Hohlspiegel. Seine Haut brannte. Eine Hand über seiner linken Gesichtshälfte, drehte er sich um und hob einen kleinen Stein auf, der sich griffbereit neben seine schmutzigen Hausschuhe gesellt hatte. Das Fenster mit dem Gesicht seiner Frau schloss sich gerade noch rechtzeitig, aber der Stein traf nicht einmal die Scheibe, sondern prallte mit einem trockenen Knacken von der Mauer ab. Dann suchte Daniel im Schutz der nach Farben geordneten Mülltonnen, halb kriechend, halb auf Knien, nach einem sehr viel größeren Stein.