Gregor Sander, Berlin (D)

Gregor Sander wurde 1968 in Schwerin geboren und lebt in Berlin. Sander wurde von Hildegard Elisabeth Keller zur Teilnahme am Bewerb vorgeschlagen.

 

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Videoporträt

 

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Winterfisch

Es  ist  Morgen,  halb  fünf  und  schon  heller  als  ein  Zwielicht,  mehr  als  eine  Dämmerung,  und  doch  noch  nicht  Tag.  Ich  habe  gut  geschlafen  auf  der  Rückbank meines Autos und es erscheint mir unglaublich, dass ich hier stehe. In  der Kanalstraße  in Kiel-Holtenau. Der Wecker meines Handys  hat  geklingelt,  ich  habe  mir  im  Halbschlaf  die  Schuhe  angezogen  und  bin  raus  in  diesen  Morgen. Völlig allein, kein Mensch zu sehen. Die Häuser stehen noch dunkel.  Vor mir  liegen  ein  paar  Segeljachten  an  einem  Steg  und weiter  hinten, wenn  man über den Kanal  hinwegsieht, glitzert  die Förde und  in Kiel brennen noch  die  Laternen  der  Nacht.  Die  Blätter  der  Ahornbäume  über  mir  dämpfen  das  frühe Licht noch einmal, aber  ich bin mir sicher, dass es ein schöner Tag wird.  Ein Sommertag mit  großer Hitze. Ein Tag wie  gestern,  als  ein Flimmern  über  den  Feldern  lag,  die  Halme  honiggelb  waren  vor  Trockenheit  und  ich  mich  wunderte,  dass  die  Autobahn  gar  nicht  bis  Kiel  reicht,  dass  man  Landstraße  fahren muss  die  letzten Kilometer.  Ich  fuhr  am Zentrum  der  Stadt  vorbei  und  dann über die Brücke auf die andere Seite über den Nord-Ostsee-Kanal, der tief  unten  liegt,  und  es  hatte  etwas  von Amerika  hier  rüber  zu  fahren,  etwas  vom  Hudson River, nur dass der Fluss dort unten eben gegraben wurde.  

Ein Auto  fährt  langsam  die Kanalstraße  entlang. Ein weinroter BMW-Kombi.  Der Mann, der aussteigt,  trägt eine blaue Latzhose. Er kommt auf mich zu und  ich denke, dass ein Fischer doch keinen BMW fährt.   

„Sind Sie der Sohn von meinem Macker?“

 „Ihrem Macker?“  

„Na, Walter eben.“  

Ich gebe ihm die Hand und sage: „Bin ich. Das heißt, nicht sein Sohn.“

 „Was denn dann?“,  fragt der Fischer und  lacht. Er wirkt  schon  sehr wach, das  Gesicht ist eben und die Haare stehen wie eine graue Bürste vom Kopf ab. Seine  Züge sind fein, und er sieht nicht aus wie  jemand, der zur See fährt. Als würde  er wissen, was  ich  denke,  und  als wollte  er  das Gegenteil  beweisen,  kramt  er  eine Pfeife aus der Tasche und eine kleine grüne Plastiktüte mit Tabak. Er stopft  die  Pfeife,  zündet  sie  an  und  sieht  immer  noch  nicht  aus,  wie  ich mir  einen  vorgestellt habe, der die Tage allein auf dem Meer verbringt. Wir stehen beide  unbeholfen  da  und  ich  deute  zum  Kanal,  wo  direkt  vor  der  Schleuse  ein  Fischkutter vertäut  ist. „Ihr Schiff?“,  frage  ich und das sieht genau aus wie ein  Fischkutter.  Weiß,  mit  einer  stählernen  Reling,  einem  Führerhaus  und  das  Steuerrad ist aus Holz. Auf so was war ich vorbereitet.  

„Ja, meins, aber das nehmen wir heute nicht. Damit  fahr  ich aufs Meer. Wenn  Heringszeit ist oder mal auf Dorsch. Heut nehmen wir den Lütten. Der liegt im  Hafen.“ Er zeigt mit dem Kopf auf die Schleuseninsel mitten im Kanal und ich  nicke und frage mich, wo wir dann fischen werden.  

„Vielleicht  hat Walter  verpennt.  Das  passiert  ihm  hin  und  wieder.  Öfters  in  letzter Zeit sogar“, sagt der Fischer und dass er Josef Neuer heißt. Ich hätte gern  einen Kaffee. Für einen kurzen Moment möchte ich in meinem Leben sitzen, in  meiner Küche, und nicht neben Josef Neuer stehen.

 Walter wollte  gestern  noch,  dass  ich  bei  ihm  übernachte.  „Hab  oft  genug  auf  dich  aufgepasst,  damals.“ Aber mir war  das  zuviel  nach  diesem  gemeinsamen  Abend  fast  zwanzig  Jahre  später,  und  so  habe  ich  etwas  von  einem  Hotel  behauptet und war froh gehen zu können. „Verschlaf nicht, mein Jung“, rief er  mir  hinterher,  an  die  Tür  gelehnt,  angetrunken  und  achtzig  Jahre  alt.  Ein  merkwürdiges Bild für mich, der ich eigentlich gar keines mehr von ihm hatte.

 „Komm, wir gehen. Walter war ja schon oft mit mir draußen“, sagt Josef Neuer  und  klopft  die  Pfeife  am  Hacken  seines  Gummistiefels  aus. Wir  fahren  mit  seinem Auto durch das Tor auf der Schleuseninsel. Er zeigt einen Ausweis hoch  und sagt ohne mich anzusehen: „Wegen 11. September“, so als würde das alles  erklären und  auch Fischer  in Kiel-Holtenau müssten  sich beim CIA  anmelden,  wenn sie einen Hafen betreten. Wir gehen auf die schmale Eisenbrücke über der   Schleuse, und das Wasser des von Metallwänden begrenzten Beckens  ist voller  Quallen.  Wie  das  Sago  in  der  kalten  Kirschensuppe,  die  meine  Mutter  an  Sommertagen kochte, drängen sie dicht an dicht. „Der Wind kommt von Osten“,  sagt  Josef  Neuer.  „Das  drückt  die  Viecher  dann  in  die  Schleuse  und  in  den  Kanal.  Da  fängt  man  kaum  Fische  bei  dem Wetter.  Das  hühnert  schon  seit  Tagen  so  rum. Alles  voll mit Algen  und Quallen.“ Auf  einer Wiese  steht  ein  kleiner  roter  Bauwagen  aus  Holz  und  durch  das  Fenster  an  seiner  Rückseite  sieht  man  Netze  und  Bojen  bis  unter  die  Decke  gestapelt.  Neuer  öffnet  das  Vorhängeschloss und reicht mir eine orange Ölhose und Gummistiefel. „Müsste  passen. Die sind von meiner Frau und groß war die nicht.“  

War  hat  er  gesagt  und was macht  seine  Frau  denn  an Bord? Das  bringt  doch  Unglück?,  denke  ich  und  dann  gehen wir  zu  einem  kleinen  flachen Boot mit  Außenbordmotor und fahren los, weg von der Schleuse, hinein in den Kanal. An  Lagerhallen  vorbei,  großen  Betonsilos  und  einer Werft.  Vor  uns  spannt  sich  hoch  die  Autobahnbrücke.  Vier  Frachter  hintereinander  kommen  uns  auf  der  anderen Kanalseite  entgegen,  langsam wie  riesige Tiere.  Fast  lautlos  sind  sie,  nur  unser  kleiner  Motor  ist  zu  hören.  Der  Himmel  ist  taubenblau  und  die  Silhouetten der Bäume am Ufer heben sich ab gegen den gelblich roten Streifen  Licht am Horizont.   

 

 „Du  bist  ja  noch  da“,  hatte Walter  gesagt,  als  er mich  vor  ein  paar  Tagen  in  Hamburg  anrief,  in  der  Kanzlei.  Es  war  früher  Abend  und  für  mich  nichts  Besonderes, noch am Schreibtisch zu sitzen und zu arbeiten. Die Sekretärin war  gegangen  und  hatte wie  immer  das Telefon  direkt  auf mich  durchgestellt. Der  Fall vor mir war einfach und die Aktenlage klar, als das Telefon klingelte und  Walter diesen Satz sagte ohne jede Begrüßung. 

 Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich jemanden erwartet hatte, ob ich mich  wunderte, dass das Telefon klingelte, oder selbstverständlich danach griff, ohne  nachzudenken. Normalerweise rief nur Sarah um diese Zeit an, und wir redeten kurz. Und wenn  es  bei mir  später wurde,  dann  gab  sie mir  noch  die Kinder,  damit  ich  ihnen Gute Nacht  sagen konnte. Aber Sarah  rief nicht mehr  an,  seit  Wochen schon.

 Ich erkannte ihn nicht an der Stimme. Vielleicht ist das auch nicht möglich nach  so  einer  langen Zeit. Walter  redete mit mir,  als müsste  ich wissen, wer  er sei,  und  hätte  eigentlich  auf  seinen Anruf  gewartet.  „Das  ist  lange  her“,  hörte  ich  mich  irgendwann  sagen,  und  ich  sah  ihn  vor mir  in  Güstrow. Wie  er  seinen  gerade erst  in Hamburg gekauften hellblauen Ford Escort belud mit Kisten und  ich daneben stand und ihm zusah. „Warum gehst du jetzt?“ hatte ich ihn damals  gefragt und er hatte geantwortet: „Das verstehst du vermutlich nicht.“   

„Es ist doch vorbei“, sagte ich. „Du kannst fahren, wohin du willst und so oft du  willst.“ Vor seiner Garage lag der Garten farblos und ohne jedes Blatt. Das Jahr  ging  zu  Ende,  und  ich  glaube, mich  verwirrte  besonders,  dass  er  so  kurz  vor  Weihnachten ging, und so, als hätte er keine Zeit mehr.

 Walter war  sechzig damals. Ein  alter Mann  für mich, der  selber dreizehn war.  Wir  hatten  uns  gerade  erst  kennen  gelernt,  ein  halbes  Jahr  vorher  in Güstrow.  Meine Mutter war mit mir dorthin gezogen, direkt nach der Zeugnisausgabe, so  wie  sie  es  jedes  Mal  gemacht  hatte.  Wir  hatten  drei  Jahre  lang  in  Leipzig  gewohnt,  und  nun wollte  sie  es mit Mecklenburg  versuchen.  „Da  ist  es  schön  ruhig.  Wir  haben  den  Inselsee  vor  der  Tür.  Das  Krankenhaus  hat  mir  eine  Anderthalb-Raum-Wohnung besorgt. Und du kannst dir gleich im Sommer neue  Freunde  suchen.“  Sie  versuchte mich  aufzumuntern,  aber  das  brauchte  sie  gar  nicht.  Ich  war  froh,  aus  Leipzig  wegzukommen.  Ich  hatte  keine  Freunde,  jedenfalls niemanden, den  ich wirklich vermissen würde, und das  einzige, was  ich ihr übel nahm, war, dass sie bei ihren hastigen Ortswechseln nie wieder nach  Berlin zog. Dorthin, wo sie mich geboren hatte.  

Sie  bekam  immer  leicht  eine  neue Arbeit  als Krankenschwester  und  ich weiß  nicht genau, wovor sie floh. Ob es eine Rastlosigkeit war, eine Langeweile, ihre  Art, mit dem Eingesperrtsein in der DDR umzugehen, oder ob es doch nur eine Flucht  vor  den  gescheiterten Liebesbeziehungen  in Leipzig  und  davor  in  Jena  war. Sie war erst 32 als wir nach Güstrow zogen, sie hatte mich mit 19 Jahren  geboren  und  keine  ihrer  Liebschaften  ging  so weit,  dass  sie  noch  ein  zweites  Kind bekam. Wir blieben allein auf eine Art. Keiner der Männer zog zu uns, sie  hielt mich da  raus,  für den Preis, dass  ich  relativ  früh  allein  zu Hause bleiben  musste, weil sie Nachtdienst hatte oder eben bei  ihrem derzeitigen Freund war.  Wenn ich aufwachte am frühen Morgen, saß sie dann aber immer in der Küche  mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette. Sie trug noch ihren Schwesternkittel  mit dem angesteckten Namensschild über der Brust, und sie sah müde aus und  irgendwie zufrieden. Wenn  ich  in die Schule ging, machte sie mein Frühstück,  und im Sommer, in den Ferien, in denen wir in Güstrow ankamen, schliefen wir  beide dann bis zum Mittag.  

Wir  gingen  zusammen  ins  Schwimmbad  am  Inselsee  und  ich  sprang  Köpper  vom Dreimeterbrett, das hatte ich mich in Leipzig noch nicht getraut. Ich wippte  leicht  auf  dem  Brett,  sah  hinunter  und  hatte  nur  Angst  davor,  dass  ich  überschlagen und mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche knallen würde. Die  Stadt  war  klein  und  wirkte  wie  ein  Dorf  gegen  Leipzig,  da  nützte  auch  das  Schloss nichts. Unsere Wohnung  lag  in  einem Plattenbau, der nur  vier Etagen  hatte, und  ich bekam  tatsächlich ein eigenes Zimmer, einen schmalen Schlauch  mit Blick auf die Straße und mit einer Laterne vor dem Fenster.  

Walter wohnte  nebenan  in  einer  heruntergekommenen Villa. Er  bewohnte  das  Erdgeschoß,  und  bei  ihm  im Garten  gab  es  alte Obstbäume, Büsche  und  eine  große Wiese.  Hinter  unserem  Haus  hatten  die  Bewohner  kleine  Parzellen,  in  denen sie Gemüse zogen.  

Walter  arbeitete  in  der  Bettenaufbereitung  des  Krankenhauses.  Das  heißt,  sie  brachten  ihm  die  benutzten  Betten  in  den  Keller,  die  Betten,  in  denen  ein  Kranker  tagelang  gelegen  hatte  oder  sogar  gestorben war,  und  er  desinfizierte  sie, bezog sie neu und stellte sie vor sein Kabuff wie Autos auf einen Parkplatz.  Sein Ausreiseantrag  lief  seit  fünf  Jahren  und  sie  hatten  ihn  hier  in  den Keller verbannt.  Jahrelang  war  er  Leiter  der  Sterilisationsabteilung  gewesen,  dann  hatten sie ihm das Amt genommen und ihn an den entferntesten Ort gesetzt, den  es  in  seiner Abteilung  gab. Er  hätte  ausweichen,  sich  entziehen  und  irgendwo  eine  andere Arbeit  suchen können. Aber das wollte  er nicht. Dieses Aushalten  im Keller gehörte für  ihn wohl dazu. Meine Mutter kam mit  ihm  ins Gespräch,  nachdem  eine  andere  Schwester  dort  in  diesem  fensterlosen  neonhellen  Schlauch  zu  ihm  gesagt  hatte:  „Du  bist  ja  immer  noch  hier.“  Und  er  hatte  zurückgebrüllt: „An mir liegt es nicht.“    

 

Der Fischer drosselt den Motor und macht ihn dann ganz aus. Mit einem langen  metallenen Haken sucht er den Grund ab. Wir sind dicht am Ufer, das nur aus  etwas aufgeschüttetem Sand besteht und ein paar kargen Büschen.  

„Fahren  Sie  denn  sonst  mit  Ihrer  Frau  hier  raus?“,  frage  ich  in  diese  Morgenstille, die nach dem Ausschalten des Motors plötzlich entstanden ist. Sie  lebt nicht mehr, da bin  ich sicher.  Ich will, dass er das erzählt, und kann nicht  sagen, warum. Er hat „Die war nicht groß“ gesagt. War.  

Josef  Neuer  hat  das  Netz  gefunden  und  beginnt  es  raufzuziehen.  „Wir  sind  immer zusammen gefahren. Zwanzig Jahre lang. Als unser Lütter aus dem Haus  war, ist sie mitgekommen. ‚Was soll ich zu Hause?’, hat sie gesagt. Mir war das  gar nicht recht, erst. Und dann hatte die auch Ahnung. Setz mal die Netze hier  und am nächsten Tag waren die voll. Mensch du, hab ich gedacht“, sagt er und  beendet  den Satz  nicht  und  zieht  auch  das Netz  nicht weiter  ein.  „Und  letztes  Jahr ist sie einmal nicht mitgekommen, weil ihr nicht gut war, und wie ich nach  Hause komm, sitzt sie da. Ganz kalt.“

 Ich  sehe  ihn  an  und  bereue  meine  Frage  nicht.  Eine  Autofähre  zieht  an  uns  vorbei mit einem knallroten Rumpf und „Danube Highway“ steht darauf. Neuer  sieht  ihr  nach  und  holt  dann  das  Netz  weiter  ein.  Er  trägt  blaue  Gummihandschuhe  und  die  zerrissenen  Körper  der  Quallen  in  den  Maschen  glitzern in der Sonne wie Eisbrocken. Endlich ein Fisch, einer mit dunkelgrünen Streifen  auf  dem  Rücken.  Er  zappelt  nicht,  sondern  scheint  sich  eher  zu  strecken.  Neuer  dreht  ihn  langsam  heraus  und  sagt:  „Erster  Fang  ’n  Barsch,  Fang in’ Arsch.“ Und dann lachen wir beide.  

„Was sind Sie denn nun, wenn Sie nicht Walters Sohn sind? Mein Jung kommt,  hat er zu mir gesagt, und dass du oder Sie früher ganz heiß waren aufs Angeln.“  

„Wir waren Nachbarn in Güstrow, vielleicht auch mehr. Freunde meine ich.“  

„Vielleicht Freunde?“ Neuer legt das leere Netz zusammen wie ein Wäschestück  und wirft es vor sich auf den Boden. Er stopft noch einmal seine Pfeife und sieht  mich an.

„Walter hat nicht viel erzählt über Güstrow und drüben. Aber wenn er mal was  geredet hat, dann über  euch. Nie über Stasi und  so’n Kram.  Immer über deine  Mutter und was das  für  ein Glück  für  ihn war. So eine  schöne  junge Frau  am  Ende  des  Lebens,  und  dass  er  wie  ein  Vater  sein  konnte  für  ihren  Jungen.  Prachtkerl  hat  er  Sie  genannt.  Nur  dass  ihre Mutter  nicht mit  in  den Westen  wollte, selbst als die Mauer fiel. Dass sie zu feige war.“  

„Er war zu feige zu bleiben“, sage ich, und dann ist es mir unangenehm so wie  damals, als ich das nur dachte, während Walter seine Sachen in das Auto packte  und wenig später für immer verschwand. Ich wollte nicht, dass er geht, aber wie  hätte ich das sagen sollen?  

„Wie haben Sie das vorhin gemeint: Mein Macker?“, frage ich Neuer schnell.  „Das sagt man doch so. Walter hilft mir ab und zu. Wenn ich den Fisch verkauf  in Holtenau. Oder er besorgt mir mal Köder oder so.“    

 

„Mein bester Freund ist hier Fischer“, hatte Walter hingegen gesagt, als er mich  in Hamburg  in  der Kanzlei  anrief,  und  dass  ich  kommen  sollte  und mit  ihnen  rausfahren und fischen. Ich sagte zu. Ich war gierig auf alles, was mich aus dem  Trott  brachte,  aus  diesem Büroalltag  und meinem Leben  zu Hause. Seit Sarah  ausgezogen war, konnte ich dort nicht gut sein. Ein halbes Jahr vorher hätte ich  ihn abgewimmelt.   

 An dem Tag,  an dem Sarah mich verließ, ging  ich  aus dem Büro nach Hause.  Wie  immer.  Nur  später.  Wir  hatten  das  so  besprochen,  so  wie  wir  vieles  besprochen  hatten  im  letzten  halben  Jahr.  Den  anderen  ausreden  lassen,  nachfragen,  von  sich  erzählen. Die Familientherapeutin,  zu  der wir  auf Sarahs  Wunsch  gingen,  fragte  sie  irgendwann:  „Lieben  Sie  Ihren Mann?  Sie müssen  wollen,  sonst  können wir  uns  das  hier  sparen.“ Darauf wusste  sie  tatsächlich  keine  Antwort  und  ein  paar Wochen  später  war  sie  ausgezogen.  Die  Kinder  wohnten im Wechsel bei ihr und bei mir, und wenn sie bei mir waren, kam ich  mir  selber  fremd  vor.  So  als  wäre  ich  gar  nicht  ihr  Vater,  sondern  eher  ein  Onkel. Wenigstens hatten sie noch ihr Kinderzimmer, das sah aus wie immer.   

Das Schlimmste  in der Wohnung an diesem Auszugstag waren die Ränder auf  dem  Teppichboden.  Ein  Kreis  für  einen  Teller,  auf  dem  ein  Blumentopf  gestanden  hatte,  ein  Rechteck  für  die  Biedermeierkommode,  die  kleinen  Eindrücke  der  Stühle  des  Esstisches,  die  aussahen  wie  die  Abdrücke  von  Hundepfoten.  Ich  musste  immer  wieder  hinsehen.  Es  schien,  als  wäre  meine  Familie  einkaufen  oder  beim  Sport,  was  weiß  ich  wo.  Nur  diese  Abdrücke  waren neu.

 

Walter wollte gestern nur über meine Mutter reden. Das wurde mir schnell klar,  als ich in seiner Mansardenwohnung in Kiel-Holtenau saß. Der Weg hatte mich  von  der  Kanalbrücke  Richtung  Wasser  geführt.  Die  Straße  schlängelte  sich  abwärts durch ein Viertel mit Backsteinhäusern. Einige hatten zwei Giebel und  sahen  so  aus wie  zwei Häuser,  die miteinander  verbunden waren.  Ich  fuhr  bis  ganz hinunter, bis an den Kanal, und parkte vor der Schleuseninsel. Dort, wo die  Kieler  Förde  in  den  Nord-Ostsee-Kanal  mündet,  stand  ein  kleines  Café,  ein  einzelnes Haus, ebenfalls aus Backstein und vollgemölt mit Schiffsutensilien. Es  war  später  Nachmittag  und  drinnen  tanzte  ein  junges  Paar  Tango  in  einem  Raum,  an dessen Rändern Stühle  standen wie bei  einer Schuldisko. Sie waren  ganz  allein  und  der Mann  trug  einen  sandfarbenen  Anzug  und  die  Frau  ein knielanges  dunkles  Kleid.  Die  meisten  Gäste  aber  saßen  draußen  in  der  tiefstehenden  Sonne  und  tranken  Bier  und  Wein.  Sie  sahen  nicht  aus  wie  Touristen, aber auch nicht wie Leute, die hierher gehörten. Vielleicht waren sie  einfach aus Kiel und über die Förde gekommen, nur um ein Feierabendbier zu  trinken. Ich setzte mich dazu und wollte bald nicht wieder gehen. Ein russisches  Schiff legte direkt vor uns an. Die übereinandergestapelten Container sahen aus  wie zu groß geratenes Spielzeug. Ein Matrose sprang von Bord, um das Schiff  zu  vertäuen.  Es  wurde  von  einem  kleinen  Boot  aus  betankt  und  war  nach  wenigen Minuten schon wieder verschwunden.  

Ich kam mir vor wie in Holland oder in England oder in Dänemark. Ich wusste  es  nicht  genau,  aber  es  war  so,  als  ob  sich meine  Realität  leicht  verschoben  hätte,  als wäre  ich  neben  der Spur. Mir  gefiel  das,  das war  alles, was  ich  von  diesem Tag gewollt und eigentlich gar nicht erhofft hatte.

 Ich machte mich dann aber auf den Weg und suchte nach Walters Adresse. Er  freute sich sehr, als er mir die Tür öffnete. Seine blassblauen Augen lagen unter  buschigen  grauen  Brauen,  es  standen  Tränen  darin  und  seine  Stimme  zitterte  leicht, als er mich umarmte und sagte: „Wie schön, dass du da bist.“  

Wenig später  in seiner Küche zog er dann einen Tintenfisch aus dem Topf. Ich  hatte mich  gerade  erst  gesetzt  und  er  hob  dieses  Riesenvieh mit  einer  Gabel  heraus  und  legte  es wie  eine Trophäe  auf  ein Brett.  Ich  sah  die  kleinen  roten  Saugnäpfe  an  den  Armen  des  Kraken  und  den  massigen  hautweißen  Körper.  „Man muss  ihn mit  drei Rotweinkorken  kochen, wegen  der Gerbsäure“,  sagte  Walter, als würde er mir ein Familienrezept verraten.   

Er  zerschnitt  den  Tintenfisch  und  übergoss  die  kleinen  Stücke  mit  einem  Gemisch  aus  Olivenöl,  Knoblauch  und  Petersilie.  Es  schmeckte  phantastisch,  fast  nicht wie  Fisch,  und  die Konsistenz war  ungleich weicher,  als  der Krake  ausgesehen hatte.

 „Das ist das Beste, was ich in letzter Zeit an Fisch gegessen habe“, sagte Walter  und  ich fragte: „Und den fangt  ihr  in der Ostsee?“, nur um überhaupt etwas zu   sagen.  „Aber  nein“,  sagte Walter  und  ging  darüber  hinweg  und  redete  dann  ununterbrochen  von meiner Mutter.  Er  hat  sie  geliebt  damals  und  ich  wusste  das, konnte es mit meinen dreizehn Jahren sehen, auch weil Walter gar keinen  Hehl daraus machte. Er kam für meine Mutter nicht  in Frage und auch das war  mir klar. Ich kannte den Typ Mann, den sie bevorzugte, zur Genüge, und der sah  nicht  aus wie Walter. Sie mochte  ihn,  aber  sie  hielt  ihn  auf Abstand. Doch  er  ließ sich nicht stören, brachte ihr Blumen und stand am Abend mit einer Flasche  Wein vor der Tür. Wir waren nie bei  ihm  in der Villa, und  ich glaube, Walter  brachte sich auch bei uns in Sicherheit. Er floh nicht nur vor seiner Einsamkeit.  Im  ersten  Stock  der  Villa  wohnte  sein  Nachfolger,  der  neue  Chef  der  Sterilisationsabteilung des Krankenhauses, und der  ließ keine Möglichkeit aus,  Walter  zu  schikanieren. Mal  war  das  Schloss  der  Haustür  ausgetauscht,  mal  spielte er Militärmärsche nachts um zwei und hin und wieder brannte sogar das  Licht  in  Walters  Wohnung,  auch  wenn  er  wusste,  dass  er  es  beim  Gehen  gelöscht hatte.   

„Und deine Mutter? Was macht  sie denn  nun?“,  fragte Walter und  räumte die  Reste des Tintenfisches vom Tisch. Es war  immer noch sehr warm und er  trug  ein  weißes  kurzärmliges  Hemd  über  einer  etwas  ausgebeulten  schwarzen  Stoffhose. Er hatte es weit aufgeknöpft und man konnte seine weiche alte Haut  sehen mit den vielen Leberflecken.

Ich drehte mein Weinglas in der Hand und sah auf den Rand, der das Licht der  Kerze  brach.  „Es  geht  ihr  gut.  Sie  lebt  in  München.  Hat  einen  privaten  Pflegedienst  aufgemacht  und  verdient  gutes  Geld.  Sie  hat  noch  einmal  geheiratet,  einen Österreicher, der  auch mit  ihr  zusammenarbeitet. Und  sie  hat  noch  ein Kind  bekommen mit  38  Jahren.  ‚So war  ich  im Osten  eine  normale  Mutter und  im Westen bin  ich es  jetzt auch’, meint sie  immer.“  Ich sah  ihn an  und wusste, das wollte er nicht hören, aber  ich wollte keine Rücksicht nehmen  auf Walter.

 

Wir  redeten weiter  über  die  alten  Zeiten. Wie  er mir  das Angeln  beigebracht  hatte, das Blinkern auf Barsche und Hechte, und wie ich in die Hocke ging und  ganz  nah  ran,  als  er  mir  das  erste  Mal  den  Kehlenschnitt  zeigte,  bei  einer  silbernen  Plötze,  deren  fein  geschuppter  Leib  aussah,  als  trüge  sie  ein  Kettenhemd. 

 Ich erinnere mich besonders gut an einen Tag  in diesem Sommer. Lange bevor  sie  in  Leipzig  auf  die  Straße  gingen  und  auch Wochen  bevor  die Ungarn  die  Grenzen öffneten. Es war sehr warm, es war Wochenende. An den Zaun unseres  Plattenbaus  hinter  den  kleinen  Gärten  grenzte  ein  Park  und  auf  einer Wiese  spielten Männer Fußball. Dicke unförmige Männer in weiten knielangen Hosen.  Vor dem Zaun saß ich auf dem Dach des Kaninchenstalls, der einem Mieter des  Hauses gehörte. Ich hatte eines der Kaninchen im Arm, ein grau-weißes für das  ich  eine Art  Patenschaft  übernommen  hatte,  vom Tag  unserer Ankunft  bis  zu  seiner Schlachtung kurz vor Weihnachten. Die Dachpappe unter mir war warm  und  ich  saß  im Schneidersitz und meine Mutter und Walter  standen hinter mir  und wir johlten und schrien und feuerten die Männer an. Dann sah ich, wie der  Mann, der in Walters Haus über ihm wohnte und der diese unglaublichen Dinge  tat,  durch  den Garten  ging. Er  trug  eine Turnhose  und  ein weißes Unterhemd  und hatte eine Gartenschere in der Hand. Ich hatte ihn noch nie so nah gesehen  und  als  sich  unsere  Blicke  trafen,  stockte  er  kurz  in  der  Bewegung.  Meine  Mutter legte in diesem Moment den Arm um Walter und sah ebenfalls hinüber,  und  das  war  die  einzige  zärtliche  Berührung,  die  es  zwischen  ihnen  gegeben  hatte in diesem halben Jahr.  

 

Josef Neuer startet den Außenbordmotor mit einem Knopfdruck. „Jetzt machen  wir uns hier mal vom Acker“, sagt er. In der letzten von zwanzig Reusen waren  auch nur ein paar Taschenkrebse und Wollhandkrabben und keine Aale, so wie  vorher kaum Schollen und Barsche  in den Netzen gewesen  sind.  „Die  Japaner  und Spanier fangen die schon als Glasaale und wenn du die Lütten wegnimmst,  wie sollen denn hier Alte bei mir in der Reuse sein?“ Ich sitze vorne und er im  Heck und in der Bank zwischen uns schwimmt der Fang. Man kann den Deckel  anheben und Neuer hat die Fische da  reingeworfen. Er  trägt  jetzt nur noch die  beiden Hosen übereinander und die orangen Träger  seines Ölzeugs heben  sich  hell ab von seinen tiefbraunen Schultern.   

Neuer hat sich jetzt endgültig entschieden mich zu duzen und streift das „Sie“ ab  wie eine zu enge Krawatte. „Ich freu mich schon auf den Winter. Dann  ist das  vorbei mit den Quallen und den Algen. Bei dem Wetter fängst du nichts“, sagt  er mit kräftiger Stimme gegen den Motor. „Weißt du, dann ist das zwar wieder  kalt, aber das macht nix. Denn fängst du wieder was und die Fische werden dir  nicht weiß, nur von einer Nacht  im Netz, und das Fleisch  ist ganz weich. Und  dann gibt es Dorsch. Dorsch ist Winterfisch, der beste überhaupt.“  

Wir  fahren  nach Kiel  und  auf  dem Kanal  ist  jetzt  reger Betrieb. Ein Dutzend  Segelboote kommt uns entgegen. Gesammelt in der Schleuse von Holtenau, und  nun  fahren  sie  für  eine  Weile  hintereinander  her,  aufgefädelt  wie  auf  einer  Perlenkette, Richtung Nordsee.  

Seine  Steuerunterlagen  stapelten  sich  auf  dem Küchentisch,  hat Neuer  vorhin  gesagt. Das habe immer die Frau gemacht. Und er müsse nun bei diesem Wetter  allein  eine  Stunde  ihre  Pflanzen  im  Garten  gießen.  Zum  Teil  wisse  er  nicht  einmal, was er da gieße. Er würde sich wünschen, dass das mal stehen bleibt für  einen  Tag. Und  die  eine Katze  sei  abgehauen,  nachdem  seine  Frau  gestorben  war,  und  die  andere,  der Kater,  der  graue,  der  ihn  nie  leiden  konnte, mit  dem  lebe er jetzt in dem leeren Haus und sie gewöhnten sich langsam aneinander. Er  hat nicht  einmal gesagt, dass  er  sie geliebt hat, und nicht  einmal, dass  sie  ihm  fehlt, aber mir ist, als würde er über nichts anderes reden heute Morgen.  

Und  jetzt  sind wir  auf  dem  großen  Fischkutter  an  der Kanalstraße  und Neuer  verkauft seinen Fisch. Ich sitze an die Reling gelehnt und rauche eine Zigarette.  Walter  hat  sie  mir  wortlos  gegeben,  und  ebenso  wortlos  ging  er  über  sein Nichterscheinen  am  frühen Morgen  hinweg.  „Na Walting,  häst  utschloapen“,  hatte Neuer gesagt.  

Die Leute  kommen  tröpfchenweise. Sie wissen, wann  der Fischer  hier  ist  und  verkauft. Bleiben  ein wenig  und  reden mit  den Männern  über  das Wetter  und  den Fisch, der ausbleibt zurzeit. Neuer trägt einen Wollhandschuh an der Hand,  mit der er die Fische  festhält, und  in der anderen hat er ein Messer und nimmt  die Tiere aus. Die Innereien fliegen über die Reling, wo sich Möwen kreischend  darum  streiten.  Er  packt  den  Fisch  in  die  Tüte,  reicht  ihn Walter  weiter  und  nennt einen Preis. Walter kassiert das Geld und legt es in die kleine Metallkasse.  „Meine Frau hat mir beigebracht, freundlich zu den Kunden zu sein“, hat Neuer  vorhin  gesagt,  und  ich  kann  nicht  sagen,  dass  er  unfreundlich  ist. Aber  er  ist  offensichtlich froh, dass Walter zwischen ihm und den Kunden steht. Eine Frau  kauft ein paar Schollen und sie will noch mit den Männern  reden. Sie hat sich  zurechtgemacht  für den Einkauf, das sieht man. Die kastanienroten Haare sind  frisch gewaschen,  sie  ist dezent geschminkt und  trägt  einen  Jeansrock und  ein  weißes  T-Shirt.  Fünfzig  vielleicht,  Lehrerin  vielleicht  oder  irgendeine  andere  Beamtin. Sie erhält den Fisch und bleibt stehen. Hinter ihr ist niemand mehr in  der Reihe und Neuer  filetiert die Barsche, die wir gefangen haben. Zieht  ihnen  die Haut ab und legt die rosaweiß glänzenden Stücke zu einem Haufen.  

„Haben Sie was von dem Mord gehört“, fragt die Frau. Auch ich habe davon in  der  Zeitung  gelesen,  gestern  in  dem  kleinen  Café.  Ein Mann  hat  seine  Frau  erschlagen, hier  in Kiel-Holtenau, und die Polizei war  sich nicht klar über die  Motive. Der Mann  ließ  sich  abführen und die Nachbarn  sagten, was Nachbarn  so häufig sagen: „Das waren freundliche, unauffällige Leute.“  

Die Frau  lässt nicht  locker. „Herr Neuer, Sie kennen doch hier alle? Haben Sie  nichts gehört? Warum hat er sie erschlagen? Kannten Sie den denn?“   

„Was heißt schon kennen“, sagt Neuer.  „Sie  reden doch  hier mit Hinz und Kunz.“ Sie kreuzt die Schienbeine und die  Fischtüte baumelt daneben.

„Und Sie?“ Die Frau sieht Walter an und der schüttelt den Kopf und sieht nicht zurück.

„Kommen Sie, Herr Neuer, Herr Walter, Sie wissen doch mehr, als Sie mir sagen.“ Sie spielt mit der Hand an dem Kettenanhänger vor ihrem Hals. Walter sagt ohne hochzugucken: „Vielleicht hat sie zu viel gefragt“, und die Frau lässt den Anhänger los, ihr Lächeln gefriert und sie geht grußlos den kleinen Steg bis zur Straße und dann ihrer Wege.

Neuer filetiert weiter seine Barsche und sieht nach einer Weile rüber zu Walter, der am Führerhäuschen lehnt. „Wat denn?“, sagt der und Neuer nur „Mann, Mann“ und dann lachen sie beide, eher ein Jungenslachen als ein Männerlachen. Ich schmeiße meine Kippe in den Kanal und mir kommen die Tränen ganz einfach und zum ersten Mal, seit Sarah mich verlassen hat.

 

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