Max Scharnigg

Max Scharnigg wurde 1980 in München geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung an der Journalistenschule und arbeitet seitdem als fester Mitarbeiter und Kolumnist in der Redaktion von jetzt.de, dem jungen Magazin der Süddeutschen Zeitung.

Max Scharnigg wurde von Hubert Winkels nach Klagenfurt geholt.

 

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Max Scharnigg

Die Besteigung der Eigernordwand unter einer Treppe

            Es war der erste Donnerstag im April, an dem ich die Wohnung nicht mehr betrat. Damals schrieb ich seit Wochen an einem Artikel über die Erstbesteigung der Eigernordwand, und auf der Stadt lag ein Föhn, der die Menschen unruhig machte und schnell. Ich verließ die Zeitungsredaktion als Letzter und fuhr mit der U-Bahn nach Hause, in Gedanken immer noch bei der Eigerbesteigung. Auf der Fahrt stand ich in Nachbarschaft zweier Männer in auf­fälligen Jacken. Sie hatten die Krägen fast bis unter das Kinn geschlossen, sprachen halb in die eigene Jacke, halb zu ihrem Gegenüber vom kommenden Wochenende, und ich hörte, wie der eine gerade „abends wird es doch sicher genial“ sagte, als sich das Geräusch der schlie­ßen­den Türen über alles legte. Auf dem mir zugewandten Rücken des anderen standen in Großbuchstaben die Worte „Mammut Extreme“ aufgestickt, und als ich sie in Gedanken leise vor mich hinsagte, kam gerade die Ansage des U-Bahn-Fahrers, so dass es wie Mammut Extreme Stiglmaierplatz klang.
            Von München aus war Anderl Heckmair mit seinem Freund Wiggerl nach Grindelwald geradelt, 1938 war das. Sie hatten direkt vor der Eigernordwand ein Zelt aufgeschlagen, sich mit Ovomaltine gestärkt und waren eingestiegen, in Wollpullovern. Unterwegs kamen sie an dem berühmten Bergsteiger Heinrich Harrer vorbei, der mit seiner Seilschaft schon länger in der Wand herumstocherte. Die Burschen hängten sich den Harrer hinten dran, und zu viert durchstiegen sie in siebzehn Stunden die Wand. Auf der Terrasse der Kleinen Scheidegg standen damals die Urlauber in Kniebundhosen und beobachteten den Aufstieg durchs Fernglas. Als Heckmair auf den Gipfel ankam, war seine größte Sorge, dass er für die kom­men­de Nacht keine Unterkunft finden würde, denn Wiggerl und er hatten kein Geld mehr. Später musste er als Soldat an die Ostfront, danach wurde er Bergführer in Oberstdorf. Vor zwei Monaten, am ersten Februar, ist Anderl Heckmair, der großartige Bezwinger des Eiger, gestorben. Das war mein achtundzwanzigster Geburtstag.

 

Ich war überarbeitet, M. hatte das gesagt und es stimmte. Vor zwei Wochen hatte ich nach Urlaub gefragt, aber keine Antwort bekommen. Vielleicht ahnten sie, dass es mir gar nicht um Urlaub ging. Mit Strandschirmen hatte ich nichts im Sinn. Was ich wollte, war eine freund­liche Stille, wie sie auf einem kleinen Stadtfriedhof herrscht. Das schwebte mir als Urlaub vor, eine freundliche Stille, in der ich mich bewegen konnte. Ich stieg am Rotkreuz­platz aus, ging nicht durch die Leonrodstraße wie sonst, sondern bog erst eine Straße später ein. Die Gehsteige waren feucht und sauber.

Vor mir ging eine junge Frau, die von hinten wie M. aussah, mit ihrem dunkelblonden Pferdeschwanz. Aber sie war etwas größer und trug braune Lederstiefel, in denen ihre Jeans verschwand. Sie ging eilig, wie ich.

Wir waren vor etwas über einem Jahr in das Haus an der Jutastraße gezogen, es hatte geschneit damals und die Heizung hatte nicht funktioniert, so dass wir die erste Woche frieren mussten und M. das Bett kaum verließ. Wenn ich aus der Redaktion zurückkam, machte mein Atem in den kahlen Zimmern Wolken.

            Die junge Frau vor mir bog ebenfalls in die Jutastraße ein, was mich beunruhigte. Die Straße war nicht lang. Tatsächlich verlangsamte sie vor meiner Haustüre den Schritt und zog mit einer kleinen Bewegung ihre Handtasche vor den Körper, um darin nach dem Schlüssel zu suchen. Ich blieb stehen, was aber nur wenige Sekunden lang vernünftig aussehen konnte. Dann wandte ich mich nach links, durchquerte eine Garageneinfahrt hin zu einem kleinen Gittertor, an dem das Schild „Türe schließen“ hing. Durch den Hinterhof des Nachbarhauses kam ich in unseren Hinterhof, der aus einer niedrigen Baracke für Mülltonnen und einem kleinen Garten bestand, in dem die Frau des Hausmeisters Hortensien pflanzte. Die Horten­sien waren im letzten Sommer so hoch gewachsen, dass Bienen, die auf dem Weg zu den obersten Blüten waren, auf unserem Balkon Rast einlegen mussten.

Durch eine schwere Eisentüre, die nur angelehnt war, betrat ich das Treppenhaus. Die Schritte der jungen Frau klangen auf den hölzernen Treppenstufen über mir, während ich still stand. Sie hatte kein Licht angemacht, das Treppenhaus lag dunkel, und das Dunkel roch ein wenig nach heißem Fleisch, denn es gibt eine Metzgerei im Haus. Ich hörte, wie der Schritt der Frau einhielt und eine Tür aufgeschlossen wurde, ich vermutete im dritten Stock. Wir wohnten im zweiten.
            Der Lichtschalter gab mir erst auf den zweiten Druck Licht, langsam stieg ich über die Treppenstufen, in der Hand die Zeitung aus unserem Briefkasten, die bedeutete, dass M. das Haus heute wieder nicht verlassen hatte. In unserer Wohnung brannte Licht, das durch das Milchglas der alten Tür warm und gleichmäßig in das Treppenhaus schien. An der Tür­schwelle stand ein Paar Schuhe. Für gewöhnlich stellte niemand Schuhe ins Treppenhaus, abgesehen von Gummistiefeln der Kinder. Es waren die Halbschuhe eines Mannes, die ordent­lich neben unserer Fußmatte abgestellt waren. Sie hatten eine sportliche, schmale Form, waren aber keine Turnschuhe, ihr blassgrünes Leder war an einigen Stellen rissig, das Innen­leder war gelb, von oben konnte ich die dunkel verfärbten Abdrücke von Fußballen sehen. Die Schnürsenkel schienen mir viel zu lang. Es waren nicht meine Schuhe.

 

Das Treppenhauslicht erlosch mit einem entfernten leisen Geräusch, ich stand im Dunkeln vor dem fremden Paar Schuhe an unserer Haustüre. Als wäre mit dem Licht auch ein Hintergrund­geräusch vergangen, wurde die Stille im Treppenhaus viel deutlicher. In einem der oberen Stockwerke mahlte eine Waschmaschine. Es gab keine Erklärung für diese Schuhe, M. hatte weder einen Bruder noch Freunde, die unangemeldet zu Besuch kommen würden. Es hatte solche Freunde gegeben, sicher, aber sie waren über die Jahre gänzlich verschwunden. Das gelbe Schuhfutter war im Dämmerlicht noch immer gut zu erkennen. Sacht berührte ich die Schuhe mit meinem Fuß und schob sie ein wenig zur Seite, bis sie leicht an die Tür stießen. Von drinnen hörte ich Stimmen. Es sprach eine Frau, gedämpft, als spräche sie hinter zwei geschlossenen Türen, es war mir unmöglich zu erkennen, ob es M. war. Die Stimme klang gelassen und sanft, als würde sie zu einem Menschen reden, der schon lange in einem warmen Raum sitzt. Die Männerstimme schien noch weiter weg, aber ich hörte deutlich die harten Silben, mit denen jedes dritte oder vierte Wort begann. Dann ging eine Tür auf, das Gespräch wurde lauter, ohne dass ich einzelne Worte verstehen konnte, weitere Türen gingen auf, beide Stimmen trugen sich nahe an mir vorbei. Ich hörte auf einmal sehr nah, wie von innen die Kette eingehängt wurde, jene Türkette, die von M. und mir jeden Abend in einer stillen Zeremonie benutzt wurde und ohne deren schützendes Klimpern wir nicht gänzlich zur Ruhe kommen konnten.

Die Stimmen wurden wieder schwächer, sie umarmten sich im Entfernen, wie mir schien, rührten sich unter Lachen ineinander, bis schließlich die Klospülung alles rauschend übertönte. Wir hatten eine sehr laute Klospülung, das Wasser stürzte dabei aus fast zwei Meter Höhe von einem Sammelbehälter an der Decke in die Schüssel. Ich ging einen Schritt von der Tür zurück, unverändert schien das Licht durch die Milchglasscheibe in das Treppenhaus, aber es hatte von seiner Wärme verloren. Von drinnen klang jetzt Geschirr, das aus dem Schrank genommen und auf den Tisch gestellt wurde, immer umgeben vom ruhigen Gespräch der beiden Stimmen. Ganz leicht ging auch ein Geruch nach warmen Zwiebeln durch den Türspalt. Ich stand etwas atemlos, den Schlüssel in der Hand.


Mit dem entfernten Klicken sprang das Licht im Treppenhaus wieder an, von unten hörte ich eine Wohnungstüre schlagen und kurz danach die Haustüre. Erschrocken wandte ich mich um, steckte den Schlüssel in die Manteltasche und ging – ganz so als würde ich das Haus gerade verlassen. Ich stieg eilig nach unten, als wäre ich in einer Filmszene, ging bis zu den Brief­kästen, die neben der Tür zum Keller an der Wand hingen. Vor unserem Briefkasten blieb ich stehen, als hätte unser kleines Namensschild dieselbe Funktion wie ein Nummernschild auf einem Firmenparkplatz, als könnte ich hier parken und den Motor abstellen.


Das Haus ist alt, es hat einen großen Eingangsbereich, über dem sich die Decke hoch wölbt. Die Wände sind bis zum Kinn mit blauen Kacheln verkleidet. Wieder ging das Licht aus, das Klicken der Zeitschaltuhr war jetzt ganz nah. Ich schloss für einen Moment die Augen, auf den Innenseiten meiner Lider blinkten die grünen Schuhe vor unserer Tür. Die Schuhe gehör­ten einem Mann, der in unserer Wohnung war und sich mit M. unterhielt, auch in diesem Moment. Sie deckten den Tisch und ließen die Klospülung rauschen. Irgendetwas war vor­gefallen. Erst vor Stunden war ich in der gleichen Wohnung aufgestanden, hatte M. geweckt und, während ich mich vor dem Schrank anzog, mit ihr geredet, wie wir es jeden Morgen machen, in einem weichen, ihrem Erwachen angemessenen Rhythmus, in dem ich sie nach ihrem Schlaf befrage, nach Traumbildern und kleinen Unsinnigkeiten, die sich vielleicht ereignet hatten. Hatte ich heute Morgen die Fenster geöffnet? Etwas über das Wetter gesagt? War die Sonne an den Rändern der Rollladen als gleißender Rahmen ins Zimmer gefallen? War M. nicht sogar aufgestanden, um ein Glas Wasser zu holen? Das alles konnte auch gestern oder gar nicht passiert sein. Ich sah durch die Treppengeländer nach oben, aber die Sicht reichte nur noch wenige Meter weit. Oben war alles von einer holzigen Finsternis. Ich hatte kein Verlangen, noch einmal hinaufzusteigen.

Unter der Treppe war Platz. Dort standen ein Kinderwagen und ein Korb für die Werbe­zeitungen, der gelegentlich vom Hausmeister geleert wurde. Wie ein halbes Dach ragte die Treppe darüber. Ich zog den Kinderwagen ein Stück zur Seite und war eingenommen von der Art, wie er sich von mir rollen ließ. Dahinter war es vollkommen finster. Als Junge hatte ich in einem Zimmer im Dach gewohnt, mein Bett hatte direkt unter der Kante gestanden, an der die Dachschräge anfing. Gelegentlich schlug ich mir beim Aufstehen den Kopf, aber ich schlief gut und konnte noch Jahre nachdem meine Eltern das Haus mit dem Dachzimmer verkauft hatten, nur einschlafen, wenn ich mir diese Dachschräge meines Kinderzimmers vorstellte.

Ich schlüpfte unter die Treppe. Der Boden war warm, unter den braunen Bodenfliesen musste ein Heizungsrohr verlaufen. Mit dem Rücken setzte ich mich gegen die Wand, genau an die Stelle, an der ich den Kopf ohne Aufwand an die Treppenschräge lehnen konnte. Mit den Füßen rangierte ich den Kinderwagen so vor mich, dass seine Flanke meinen Sitz abschirmte. Den Papierkorb trat ich ihm wie einen Wachturm rechts an die Seite. Die Zeitung legte ich mir als isolierende Schicht unter. Ich überlegte, was heute von mir darin stand, ein Zweispalter zu einem Fernsehfilm, und war zufrieden, dass es nun zu etwas nutzte.

Meine Lage war bequem, ich saß auf dem warmen Boden, die ausgestreckten Beine erreichten knapp den Kinderwagen, der mit einer Regenhülle verkleidet war und mich so nahezu vollständig abschirmte. Von der Seite schloss der Papierkorb, der etwas niedriger war als der Kinderwagen, den Winkel. Das Licht erlosch, von weit schlug die Herz-Jesu-Kirche acht Uhr, und noch vor dem letzten Schlag fiel ich, ganz gegen meine Gewohnheit, in einen zufriedenen Schlaf.

 



            Die nächsten Tage verbrachte ich unter der Treppe. Gelegentlich vertrat ich mir nachts im Hinterhof die Beine, aber selten. Ich hatte überhaupt kein Bedürfnis nach Bewegung und Abwechslung. Mir war nicht langweilig. In einer Art Wachschlaf schrieb ich in Gedanken weiter an der Eigerbesteigung, ohne natürlich wirklich daran zu schreiben. Trotzdem waren diese Überlegungen sehr detailliert und so genau, dass ich nach einigen Stunden die Sätze in meinem Kopf wie in einem Computer löschen konnte und der restliche Text einfach nach­rückte, ich konnte auch ganze Passagen verschieben und andere noch mal in Ruhe Korrektur lesen. Diese Arbeit nahm mich sehr in Anspruch, der Text war mittlerweile auf neun Seiten angeschwollen und ständig stückte ich weitere Teile an. In längeren Pausen lauschte ich den Schritten der Menschen, die über mich hinweg traten, und begann dazu gleich einen weiteren Text in meinen Kopf, eine Art Katalog, in dem ich versuchte, Schritt-Steckbriefe nieder­zu­schreiben. Ich wünschte, ich könnte heute auf diese Beschreibungen zugreifen, ich erinnere mich, dass es gewaltige und scharfsinnige Aufwürfe waren, ähnlich den Notizen, die sich ein Sommelier beim Weinkosten macht.
            Da war eine Frau, die morgens von ganz oben aus dem vierten Stock herunterkam und jede Stufe mit solch gezielter Wucht trat, dass ich schon vor ihrer Passage den Kopf zwischen die Knie beugte, als säße ich in einem abstürzenden Flugzeug. Noch Minuten nachdem die Tramplerin das Haus verlassen hatte, ächzten die Stufen, ganz so, als müssten sie sich lang­sam wieder entspannen und in ihre alten Fugen zurückkriechen. Abends, wenn die Frau nach Hause kam, konnte ich ihre Schritte von denen der anderen kaum unterscheiden. Sie donnerte nur morgens. Die Menschen gingen abends anders als am Morgen, sie schlichen in ihre Woh­nungen zurück, unmerklich oder erleichtert oder waren mit Einkaufstüten so schwer beladen, dass sie nach jedem Schritt eine winzige Pause einlegen mussten, ganz so als atmeten sie dünne Luft. Wenn einer so ging, stellte ich mir vor, es wäre Anderl Heckmair, der über mir gerade die letzten Schritte über den Nordgrat auf den Gipfel machte. Manche blieben sogar nach dem ersten Treppenabsatz stehen, um aus dem Fenster zu sehen.


Viel Zeit verbrachte ich unter der Treppe mit der Sorge, von den Treppenbenutzern entdeckt zu werden. Ich hatte mir einen Dialog für diesen Fall ausgedacht, den ich unablässig abänderte und neu durchspielte, hier ausschmückte, dort straffte. Meine Verteidigung bestand in allen Varianten vor allem darin, so zu tun, als wäre ich eher unabsichtlich unter der Treppe zum Sitzen gekommen. Als hätte ich nur für einen Moment einen Platz gesucht und der Treppenwinkel hätte sich eben angeboten. In Verbund mit einer liebenswerten Portion Zerstreutheit und einer überzeugenden Schließlich,-warum-auch-nicht?-Haltung sollte das genügen, meine Entdecker zu bannen und in den Hinterhof zu entwischen, bis sie sich verzogen hatten.


Ich hatte erst einmal nicht vor, den Platz zu verlassen. Der Eigertext, soviel war abzusehen, würde noch einige Zeit beanspruchen, und ich hätte keinen besseren Arbeitsplatz dafür gewusst als das Dunkel meines Treppenverstecks, das den Augen der Menschen niemals Anlass für einen genauen Blick zu geben schien. An die Redaktion verschwendete ich kaum Gedanken. Schließlich, die Zeitung wurde jeden Tag auch ohne mich gedruckt, jeden Morgen gegen sechs stopfte sie ein geschäftiger Albino in die Briefkastenschlitze wie Sprengladungen in einen Fels. Nicht selten drückte sich bei dieser Behandlung die Seite Eins zusammen, und so sahen mich oft den ganzen Tag die ineinander gestauchten Schlagzeilen an, seltsam verkürzte Worte, die noch dazu unsichtbar im Schlund des Briefkastens endeten. Es bereitete mir ein gewisses Vergnügen, aus den geknitterten Teilen die ganze Überschrift zu erraten. Das ging bei den großen Tageszeitungen einfach, da sie ihre Hauptüberschrift stets aus einem kleinen Feld an politischen Begriffen und gesetzten Formulierungen bestückten. Die Boulevard­zeitungen waren viel schwieriger, weil sie sich sehr bemühten, ihre Titel möglichst auffällig zu verrenken. Viele der Zeitungen steckten den ganzen Tag in den Briefkästen und nicht wenige schafften es von dort direkt in meinen Wachturm-Papierkorb. Aber ich konnte mich nicht überwinden, eine davon zu lesen. Mir reichte das Lösen der Überschriften auf der ersten Seite, auch wenn dabei nie sicher war, ob ich richtig gelöst hatte.


Ich aß nichts unter der Treppe. Von der ersten Stunde an war mein Hunger verschwunden. Anfangs erklärte ich das mit meinem Verzicht auf Bewegung, schon bald aber musste ich mir eingestehen, dass selbst bei kleinstem Energieaufwand ein Auszehren bemerkbar sein müsste. Stattdessen empfand ich aber eine Sättigung, die sich an gewissen Tagen in ein Völlegefühl steigerte. Es war darin eine Regel, die mit den Gerüchen aus der Metzgerei in Zusammenhang stehen musste, denn nur an den dort zweimal wöchentlich abgehaltenen Leberkästagen trat jenes intensive Gefühl auf. Ich hatte aber zunächst keine Zeit, das genauer zu überprüfen. Wenn ich manchmal aus einer Laune heraus versuchte, Hunger zu bekommen, fühlte ich mich wie ein Geiger, der etwas zum Vortrag bringen will, aber kein Instrument dazu hat. Es war ein beinahe fortschrittliches Gefühl, ohne Stoffwechsel zu sein, als wäre ich ein Spezialmensch. Aber ich dachte nicht sonderlich viel darüber nach.

 

 



            Eines Morgens war der Kinderwagen verschwunden. Ich hatte an diesem Tag lange geschlafen. Die Stelle in der Holzverkleidung, an der ich dabei meinen Kopf aufzulegen pflegte, hatte sich bereits dunkel und leicht glänzend verfärbt, eine Entdeckung, die mich auf schwer erklärbare Weise mit Genugtuung erfüllte.

Ich war davon ausgegangen, dass der Kinderwagen nicht mehr gebraucht würde, dass er für immer hier abgestellt war und seinem Besitzer bei jedem Vorbeigehen einen Stich versetzte, den dieser hinzunehmen gewohnt war. Die einzige Familie im Haus mit einem kleinen Kind zerrte den dazugehörigen Wagen immer die Treppe hinauf. Das gab über meinem Kopf einen Tumult, der sich wohltuend von Schritten unterschied.

Ohne den Kinderwagen füllte Nacktheit den Platz. Der neue Raum schien sich unter meinem erwachenden und tastenden Blick mehrmals zu verändern. Als ob man mit einem Fernglas die Schärfe suchte, eilten meine Augen von einer Seite zur anderen und konnten doch nach Abschluss aller Erkundungen mit der entstandenen Situation nicht zufrieden sein. Der Papierkorb stand jetzt als etwas sehr Geringes am Rand. Wenn ich meine Beine aus­streckte, fehlte ihnen das Gestelldickicht des Kinderwagens, in dem sie sich bisher lagern konnten. Sie ragten kahl und lang ins Offene. An meiner Unsichtbarkeit änderte das Fehlen des Hauptschutzes indes nichts. Die Bewohner passierten wie gewohnt mein Treppenversteck, in jener morgendlichen Reihenfolge, die sie unter der Woche in bemerkenswerter Genauigkeit einhielten. Jeder hatte seine Zeit, das Haus zu verlassen, nur selten geriet diese Ordnung durch­­einander, durch ein Stolpern, ein Zurückhasten, ein unbestimmtes Zögern auf der letzten Stufe. Traten diese Irritationen allerdings auf, so taten sie es gehäuft und griffen auf alle Treppen­benutzer über.


Gesehen wurde ich nicht, aber meine Arbeit kam an diesem Tag ins Stocken. Weite Abschnitte der Eigerbesteigung in meinem Kopf waren für mich nicht sofort abrufbar. So fand ich die ganze Überquerung der „Weißen Spinne“, bis heute die Schlüsselstelle jeder Eigerbesteigung, nach mühsamer Konzentration nur in einer älteren Version. Von grabender Sorge begleitet, flog ich über Sätze, die ganz unvollkommen waren, las Wendungen, die ich längst getilgt glaubte, fand in jeder Zeile Tippfehler und Ungenauigkeiten, angesichts derer ich mich gleichermaßen schämte und erregte. Eine eilige Begutachtung des ganzen Textes brachte die Erkenntnis, dass einige Abschnitte in derselben Makellosigkeit standen, in der ich sie gestern hinterlassen hatte. Andere schienen in ungleiche Stadien der Vollendung zurückgeworfen, und wenige Stellen, Übergänge und Randbemerkungen, konnte ich gar nicht erinnern. So oft ich es versuchte, sah ich sie kurz, aber nie lang genug, um das Vermisste klar zu erkennen. Das Feststellen der Schäden und das zunächst notdürftige Sichern nahmen den ganzen Vormittag und Teile des Nachmittags in Anspruch.

 

Ich war so darin versunken, dass ich den Schritt zu spät wahrnahm. Anders war er als alle und kam von oben. In den ersten Tagen unter der Treppe, als ich meinen Katalog der Schritte anlegte, hatte ich immer wieder versucht, mir M.’s Gang zu denken. Dazu ließ ich sie in Gedanken vor und neben mir gehen, begleitete sie noch einmal durch die Galerien und über die Märkte, über die ich sie sonst begleitet hatte, ohne jedoch zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen. Jetzt lag im Nachhall das Gesuchte vor mir. Es war Gehen, das nicht ganz dem Vorwärts zu dienen schien. Die Schritte zogen sich mit jedem Vorstoß klein wieder zurück, berührten auf diese Weise kaum den Boden und mussten alle paar Stufen einen winzig hüpfenden Zwischentritt einlegen, um dem Rhythmus der Treppe gerecht zu werden. All dies setzte ich mit Verzögerung zusammen, und bis ich es gedeutet und die offene Eigerbesteigung abgelegt hatte, ging die Haustür mit einem leichten Nachbeben des Türglases schon wieder ins Schloss. Das Hausinnere lag in Fäden aus Sonne, in denen sich Staubteilchen langsam bewegten. Auf und nieder.

Ich wollte wieder die Textarbeit aufnehmen, aber alles war nun in Unruhe. Der verschwun­dene Kinderwagen und dazu M.’s Schritte hatten mich verwirrt. Ich versuchte mich immer wieder an diese Schritte zu erinnern, akribisch, wie man sich an die letzten Worte eines Ver­storbenen noch genauer zu erinnern versucht. Sie hatte nicht nach dem Briefkasten gesehen und war ohne zu zögern gegangen.


Das letzte Mal, als wir zusammen das Haus verlassen hatten, das war vor drei oder vier Wochen, war sie wie üblich noch im Treppenhaus umgekehrt, unter dem Vorwand, ihren Schlüssel vergessen zu haben. Ich hatte damals zehn Minuten vor dem Schaufenster des Metzgers gewartet, dann war M. vorsichtig aus der Haustüre getreten. Sie hatte sich in der Wohnung umgezogen, trug statt des hellen Rocks eine dunkle Hose, sah verlegen zu Boden, nahm wie eine Bitte um Nachsicht schnell meine Hand und legte ihre kraftlos dazu. Das Kraftlose, das war die Angst.


Sie hatte die Angst nicht immer, die Angst war erst später bei uns eingezogen wie ein kranker Verwandter. Im ersten Jahr war sie noch nicht da, auch wenn M. später behauptete, ich hätte sie nur nicht gesehen. Unser Treffpunkt war damals eine Bank im Hofgarten, die genau in der Mitte zwischen ihrer Universität und meiner Redaktion lag. Einmal hatten wir uns dort ver­abredet, und fortan kamen wir jeden Tag an die Bank, immer zur Zeit des ersten Treffens, ohne dass wir uns darauf verständigten. Wir waren schüchtern und gleichzeitig nicht in der Lage, diesen Wesenszug beim anderen zu erkennen, so dass von Anfang an ein vertrautes Gleichgewicht entstand. Keiner wagte es in den ersten Wochen, eine Verabredung für den nächsten Tag einzufordern. Dem stillen Aufeinandertreffen im Hofgarten, das sich jeden Tag wiederholte, ging immer aufs Neue nur eine vage Hoffnung voran. Ich war mir jeden Tag sicher, M. würde nicht kommen, und versuchte die Qual dieser Vorstellung zu lindern, indem ich mir harmlose Gründe für ihr Nichterscheinen ausdachte. Gewissenhaft steckte ich jedes Mal ein Buch, je nach Stimmung entweder „Pan“ von Knut Hamsun oder Byrons Tagebücher, in die Tasche, denn ich ging zu diesem Zeitpunkt nicht dorthin, um M. zu treffen, sondern nur um ein wenig zu lesen. Ich habe bis heute keine Zeile dieser beiden Bücher gelesen. M. kam immer. Sie hatte in ihrem Fahrradkorb entweder Canettis „Blendung“ oder ein Buch von Françoise Sagan. Sie hat allerdings beide gelesen, später. Wir waren uns sehr ähnlich. Hatte ich Byron geladen, kam sie immer mit Sagan. So verliebten sich auch die Bücher, und heute stehen in M.’s Regal Byron und Sagan nebeneinander und Canetti und Hamsun liegen bei mir aufeinander, denn ich pflege meine Bücher zu kniehohen Türmen zu stapeln. Mit den Treffen im Hofgarten verging ein Sommer, ohne dass wir etwas anderes unternahmen, als neben­einander auf einer Bank zu sitzen. Die Rotbuchenhecke, die dabei unseren Rücken gegen die Stadt abschirmte, bekam kahle Stellen, als M. sich eines Tages nicht setzen wollte, sondern meine Hand nahm und wir, sehr vorsichtig, diesen ersten Platz verließen.




            Die Unordnung unter der Treppe ließ sich nur schwer wieder auf ein normales Maß beschränken. Gleichzeitig hatte ich damit keine Eile. Ich lastete die Vorfälle dieses Tages einem Baufehler an, einem schiefen Gerüst, in das ich eilig zu viel geschichtet hatte, so dass es schließlich zusammenbrechen musste. So etwas wollte ich fortan vermeiden und sortierte den ganzen Tag mit großer Sorgfalt meine Kopftexte, breitete sie Seite für Seite aus und kostete die entstehenden Freiräume aus wie eine Erfrischung. Während es um die Mittags­stunden im Haus ruhig war, kamen gegen vier Uhr die ersten Bewohner zurück und brachten einen Geschmack nach Getretenem und Ausgeatmetem in das Haus. Ich kümmerte mich nicht weiter um sie, hatte die Beine angezogen und gab mich ganz dem Ordnen und Neubeginn hin. Jene Textteile der Eigerbesteigung, die mir unverändert schienen, sortierte ich in eine Ecke und alles, was lückenhaft wirkte, breitete ich vorsichtig aus, voll Sorge, dass ein neuerlicher Windhauch die verstreuten Einzelteile vollständig verwirren könnte. Wie Ärzte bei einer Operation, steril und mit geraden Bewegungen, arbeitete ich im Bewusstsein, dass etwas Lebendiges geöffnet vor mir lag. Ein Teil des Textes blieb aber trotz sorgfältiger Suche unauf­findbar, und zwar jener, der die Annäherung Anderl Heckmairs an den Fuß der Eigerwand behandelte. Immer wieder suchte ich die Satzanfänge nach dem erlösenden Kontaktstück ab, wie der Wartende die Menge nach einem Gesicht. Doch zwischen der Anreise und den ersten Seillängen in der Wand gab es in meiner Erzählung eine Fehlstelle. Wieder und wieder ging ich darüber hinweg, aber es fand sich nichts mehr dazu. Noch beunruhigender war, dass ich tatsächlich nicht mehr wusste, was ich dort geschrieben hatte. Auch mein Archiv bot keinen Aufschluss. Heckmairs Annäherung an die Eigernordwand war mir verloren gegangen, kein Schritt und kein Bild waren davon übrig geblieben, und hinter meinen geschlossenen Lidern zeigte sich nichts als die Haustür, die hinter M. zugefallen war. Sie war rot und violett. Ich musste sie so lange betrachten.

Eh, was machen Sie da?


Die rote und violette Tür auf meinen Lidern zerging. Statt ihrer erschienen diese Wörter, wie die Schrift auf einer Leuchtreklame fuhren sie von links nach rechts, viel zu schnell. Nach ihrer Durchfahrt, das wusste ich, würde ich die Augen öffnen müssen, und nichts wäre mehr, wie es war.


Den Mann hatte ich im Haus noch nie gesehen. Er stand, im Gehen einhaltend und deswegen den ganzen Körper seltsam seitlich zu mir, keine drei Meter entfernt und trug eine alte Baum­wolltasche an langen Henkeln über der Schulter. Dazu Haare, die weiß und lang an seinen Kopfseiten herunterfielen, in einer Art, dass kein Mensch sie bemerken würde. Um seinen Hals hing eine Kordel, deren Aufgabe es war, eine Brille zu halten, die auf seinem ausladenden Bauch ruhte.

Noch immer lag die Frage des Mannes in der Luft. Er sah mich freundlich an.

Ich wusste, dass meine auswendigen Dialoge hier nicht recht waren. So sagte ich:

Ich arbeite.

Ohne einen Moment des Befremdens antwortete er:

Sie arbeiten unter der Treppe.

Es ist auch meine Treppe, ich wohne im zweiten Stock.

Wie lange sitzen Sie schon so?

Ich zögerte und dachte gleichzeitig genau das.

Ich kann es nicht genau sagen, eine ganze Weile jedenfalls, einige Tage, zwei Wochen, mehr wohl nicht.

Der alte Mann machte einen Schritt. In seinem Ausdruck lag nichts Besonderes, das enttäuschte mich. Er hatte jetzt seine Brille in die Hand genommen.

Möchten Sie mit rein?

Die Brille tippte auf die Tür. Ich hockte immer noch mit angezogenen Knien, mein Mund, das fiel mir jetzt auf, war durch das lange Schweigen ungelenk, es knackte im Kiefer, als ich sprach.

Zu Ihnen?

Ja, ich wohne hier, ich heiße Jahn. Es ist, ich meine, ich koche heute. Es gibt Paprikahendl.


Er sprach weich, seine Stimme ging zwischen den Worten spazieren, ganz ohne Hast. Das Paprikahendl. Ein Wort wie eine neue Sonne, die schnell über meinen Wortbergen aufging und von dort zwischen die Sätze aus Granit, Gletscher und Gipfel strahlte, es wühlte sich durch die Ausdrücke der Bergsteiger, durch all die Klemmen, Schlosserei und Haken gab das Paprikahendl seine rote Wärme. Es schmolz sich geradezu durch meine Arbeit der letzten Tage hindurch.

Ich tropfte.