Gunther Geltinger, D

Geboren 1974 in Erlenbach, lebt in Köln. Studierte Drehbuch und Dramaturgie an der
Universität für Musik und Darstellende Kunst
in Wien und als Postgraduierter an der Kunsthochschule für Medien in Köln.

Für den Klagenfurter Bewerb vorgeschlagen wurde Gunther Geltinger von Juror Alain Claude Sulzer.

 

 

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Videoporträt

 

 

 

Gunther Geltinger

Auszug aus einem Roman    

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

© 2011 Gunther Geltinger

       

Wenn der Schnee kommt, wird die Stille zur Bewegung. Der Himmel löst die Wolken auf, löscht den Horizont, nur die Krähen auf dem Feld stecken noch im Weiß, letzte Striche, bald verschluckt. Darüber bildet der Dunst eine zweite Schicht, in Raureif gehüllt ragen die Birken hinein, flüchtige filigrane Gebilde aus Kälte und Licht. Dann legt sich der Wind. Hier dringt noch ein Rascheln aus dem Bruchwald, dort das Knacken eines toten Zweigs von jenseits des Grabens, hinter dem alles aufzuhören scheint, die Kinderspiele, die Sommerversprechen, der Herbst mit seinen hinfälligen Geräuschen, hüben wie drüben das Verstummen aller Echos unter der dünnen Eisschicht, die sich über Nacht auf dem Wasser gebildet hat, ein leises Glucksen darin, aufsteigende Blasen, ein winziger Hohlraum unterm Eis, die Augen des Winters. Schließlich das Starren der Blasen in den blinden Himmel, das Klagen der Krähe, die mit einem Stück Aas im Schnabel aus den Binsen stößt, ihr Flügelschlag, die schwarze Spur in den Schneewolken, und dann nichts mehr, nur noch Stille, die langsam, ganz langsam zu fallen beginnt.  

So erinnere ich es heute: das Moor nach den ersten Frostnächten, die Ruhe vor dem Schneesturm, als sie Marga abholten, unter einem kreiselnden Licht, das noch lange in der Dunkelheit flackerte, blau und stumm. Es schien nicht nötig gewesen, das Martinshorn wieder einzuschalten, kein Wagen stellte sich auf der nächtlichen Landstraße in den Weg, niemand fuhr in Fenndorf nach zehn Uhr abends noch irgendwohin. Sie haben sie weggeschafft, still, diskret, fast heimlich, als würden sich selbst noch die Sanitäter ihrer schämen. Einer von ihnen zog ihr die graue Wolldecke bis zum Hals. Ich erinnere mich genau an die roten Schutzanzüge mit den silbernen Reflektorstreifen darauf, die in den Lichtsalven aufblitzten, über den Augenblick hinweg, und durch alle darauf folgenden Tage und Nächte meine Träume befeuern sollten, in denen Marga wieder in der Scheune sitzt, malt oder wenigstens zu malen versucht, oder doch nur hockt, starrt und säuft, bis die letzte Flasche in die Ecke rollt, zusammen mit einer verlorenen Tablette, und die weiße Leinwand sich vor ihren Augen zu krümmen beginnt und in Flocken zerfällt, Schnee, der den Sturm entfesselt. Doch zerrt nicht der Wind, der in jener Nacht wieder aufgekommen war, heute viel stärker an mir, als ich es damals empfand?

Irgendwann war das Blaulicht in der Ferne verzuckt. Die herumstehenden Dörfler kehrten in die Häuser zurück, ihre von den Kapuzen vermummten Gesichter wandten sich noch einmal nach mir um, so dass ich zu Boden blickte, auf meine nackten Füße unterm Schlafanzugsaum, die bereits die Farbe und ein Gefühl wie von Eis angenommen hatten. Nur Doris Felber stand noch neben mir. Heute sehe ich die Tante kleiner und gebeugter als damals der Junge sie gesehen hat: Ich war ein verängstigtes Kind, dem sie riesenhaft und bedrohlich erschien, obwohl kaum vierzig, doch bereits aus der Form gegangen wie ein altes Weib, in ihrem speckigen Morgenrock und den Filzpantoffeln, in denen sie aus dem Haus gestürzt war, als ich gegen die Tür getrommelt hatte.

Sie kam noch näher, packte meinen Kopf und presste ihn in ihre nach Sauerteig riechende Achselhöhle, als sollte ich im harschigen Laub die Reifenspuren nicht sehen, die abtransportierte Trage, Margas von Erbrochenem verklebten Mund mit dem Beatmungsschlauch darin, ein Bild wie der Splitter eines zerschlagenen Glücks, der sich bereits tief in meinen Körper gebohrt hatte und dort alles abzutöten begann, denn spätestens diese Nacht war der Beginn einer langen, vielleicht lebenslänglichen Kälte, wenn Kälte überhaupt eine Beschreibung für den Zustand ist, in dem ich seither erstarrt bin.

Der Frost jedenfalls war früh hereingebrochen, nach den Stürmen, die meist um den Reformationstag herum das letzte Laub von den Bäumen fegten, Blätter, so porös, dass sie am Boden zerbrachen, und ich hörte das Geräusch, zog den Kopf aus der Umarmung der Tante und sah ihr vor Schreck oder heimlicher Genugtuung verzerrtes Gesicht vor dem bläulichen Schein am Horizont, der nicht verlöschen wollte und vielleicht schon das erste Morgenlicht war, verfangen im Gezweig der Weide, die eben noch im Wind gewippt und letzte Blätter abgeschüttelt hatte, nun aber die Äste nackt in die Höhe streckte, als zerrte der Baum die Stille herab, um sich zu bekleiden; und tatsächlich: Es begann zu schneien.

All das sind heute unscharfe Konturen, zögerliche Striche auf der Skizze zu einem Bild, das ich nun zu Ende bringen muss, von dem ich aber nicht weiß, wohin es führen und warum gerade ich es fertigstellen soll. Marga könnte es gemalt haben, in der ihr eigenen Technik, die nie eine konkrete Form und selten eindeutige Farben zuließ. Sobald sich etwas auf der Leinwand abzeichnete oder eines ihrer selbst angerührten Pigmente sich mit einem anderen zu einer Farbe vermischte, die ein Kind dieser Gegend wiedererkennen könnte – ein Dotterblumengelb oder das Purpur der Heidelibelle - wischte sie mit dem Schwamm darüber oder trug schnell eine neue Schicht auf, die das soeben Erkannte wieder tilgte.

Ich erinnere mich, wie ich manchmal ungeduldig und sogar wütend wurde, wenn ich ihr beim Malen zuschaute, während ich so tat, als spielte ich im Gerümpel: Sie war wie eine Zauberin, die mir Spielzeug hinhielt, das sie, sobald ich danach griff, mit einem Zwinkern in ihrem Ärmel verschwinden ließ. So wie mit ihren Bildern ist sie auch mit mir umgegangen, mit all meinen Überzeugungen: Noch an einem der Abende zuvor hatte sie trotz Kälte im Negligé und rauchend auf der Veranda gestanden, ich vor ihr mit Wollgrasbüscheln in Haar und Mund, denn die Alter-Mann-Pantomime, also mein Herumhinken mit Schirmstock und weißen Bartflocken auf der Lippe, hatte sie bisher noch immer wieder zum Lächeln gebracht. Wenn du nicht wärst, sagte sie, würde ich Schluss machen mit allem, und ich hatte ärgerlich die Schultern gezuckt; alles war genauso wenig eine Farbe wie schwarz oder weiß, alles war nichts, leer wie ihre Bilder oft blieben oder zugeschlammt von Gemischen, in denen sie am Ende versackten.

Vielleicht hatte sie ja genau das gemeint: ihren Kampf mit dem Malen, das für sie tatsächlich alles zu bedeuten schien, oder ihre Arbeit in der Hamburger Galerie, wo sie nicht mehr hinging, weil sie, wie sie behauptete, krank gemeldet war, obwohl sie mir gar nicht krank erschien, nicht wie von einer Grippe. Was diese Krankheit in Wirklichkeit war, sollte ich erst viel später begreifen, auch dass man sich wegen so etwas gar nicht krank melden konnte, damals jedenfalls noch nicht. Damals dachte ich noch, sie hätte vielleicht endlich das Rauchen drangeben wollen, denn sie starrte in diesem Moment angewidert auf die Zigarette und drückte sie aus, doch solche Sprüche kannte ich schon: ab morgen ist Schluss damit, und dann zack die nächste Fluppe. Vielleicht ödete sie auch die Hausarbeit an, die ewigen Zahnpastaspuren im Waschbecken und das Kochen für mich, dabei hatte es in den letzten Wochen kein Kartoffelgulasch mehr, nicht einmal Pellkartoffeln, nur Butterbrote gegeben, mit viel Zimt. Darauf hatte sie noch immer Lust. Alles Mögliche zog ich in Erwägung, nur das nicht: Blaulicht, Sanitäter, die Kotze in meinem Bett, die noch wochenlang aus der Matratze stank und meine Nächte in Wüsten verwandelte, sauer, voll abgestorbenem Leben, wie das Moor.

An jenem Abend hatte sie mir doch noch die Grasbüschel von der Oberlippe geblasen, gelangweilt; ihr Atem hatte schlecht gerochen, auch das dauernde Zähneputzen war sie wohl leid. Sie spitzte den Mund, stieß schwere Luft aus, oder war es schon ihr letzter Seufzer gewesen, ein Todesröcheln, an dem ich hätte merken müssen, wie lästig ihr alles geworden war: das Malen, die Maloche in Hamburg, und dass beides nichts abwarf, die scheeläugigen Dorfweiber mit ihrem Geschwätz, das baufällige Haus, ein ewig unfertiges Kind darin, dieser Rockzipfelzerrer und Sprechkrüppel, den sie nun am Arm packte und dabei sagte: Aber du bist eben da, ein Satz, der gleichermaßen Trost wie Anklage war, und weil ich wieder nicht genau wusste, wie sie das meinte, habe ich eben den Alten Mann weitergespielt, also den Opa ohne Gebiss mimend die Lippen eingesaugt und: Mit achtzig biste mich los, genuschelt, wobei ich gar nicht gestottert und für einen Moment sogar gedacht habe, dass das ganze Dilemma mit dem Sprechen auch an meinen Zähnen liegen könnte, die damals ziemlich wüst in der Mundhöhle standen.

Sie hat dann doch gelächelt, am nächsten Tag einen neuen Rahmen mit Leinwand bespannt, ein Kartoffelgulasch gekocht, sogar mit Würstchen, ist wie immer rauchend hin und her über den Hof, doch dann, zwei Tage später, mit einer Schachtel Vesparax und was weiß ich noch allem intus zu mir ins Bett. Ihr Torkeln, die seltsame Blässe, ihr Ausdruck im Halblicht wie irr, der Klammergriff mit den nach Kippen und Terpentin stinkenden Fingern, das hingespeichelte, fast schon ausgewürgte Ich lieb dich doch so!, bevor sie wegkippte, was ich schon nicht mehr mitbekam, weil ich im nächsten Moment eingeschlafen sein musste. Irgendwann dann ein Stoß unter der Bettdecke, ihr Körper, der sich verkrampfte, ein Stöhnen, das ich im Traum zu hören glaubte, mehr ein Blubbern, als tauchte sie ein letztes Mal durch den Teich, wo sie früher so gern geschwommen war. Plötzlich der Kotzeschwall auf dem Kopfkissen, meine Panik, Hände überall, ihre Arme jetzt labberig, wie ohne Knochen, die Augen geschlossen, auch beim Rütteln und Schütteln, selbst nach der Ohrfeige, die durchs Zimmer knallte, blieb der Augapfel im Lidbett ganz weiß; es war das erste Mal, dass ich meine Mutter schlug, und dann gleich ins Gesicht.

Sekunden, in denen ich nicht wusste, was tun. Eine unbeschreibliche Angst, die wie Feuer aus dem Bauch durch die Kehle stieg und an den Schläfen zu Eis wurde, ein Zitterkrampf oder Schüttelfrost, bis ich nichts mehr anderes wollte als schlafen. Dann doch runter zum Telefon. Das Freizeichen in der Stille ein schwarzes Loch, das alles verschlang, also den Hörer wieder eingehängt, hätte eh kein Wort rausgebracht. Stattdessen rüber zum Felberhof, barfuß, Steine, die sich in die Fußsohlen bohrten, die Stiche fast außerhalb des Körpers, schon damals eine Art Phantomschmerz. Stolpern, noch mehr Steine, die irgendwie tröstliche Vorstellung von einer Blutspur auf dem Heidedamm, aber auch das ist vielleicht erst später, mit den Jahren, hinzugekommen. Die Dunkelheit zwischen den Treckern war fast flüssig, ein Klumpen darin, der Kettenhund, der nicht kläffte, nur müde mit den Eisen rasselte, weil er schon damals taub gewesen war oder mich erkannte. Eine Ewigkeit, bis jemand öffnete. Es war Andreas, der Älteste der Felber-Söhne, mit vom Kopfkissen zerdrücktem Haar. Gestotter, Stampfen, Stille. Er schaute mich genervt an, dreht sich um und rief: Mudder!

Auch bei Doris brachte ich kein Wort heraus, doch in meinen Augen musste sie etwas gesehen haben; trotz ihres Gewichts und der Schlaftrunkenheit war sie auf einmal sehr flink. Sie warf den Morgenmantel über, kramte in einer Schublade, nach einem Schlüssel, einer Taschenlampe vielleicht, aber wozu die Taschenlampe, zwar war der Heidedamm finster, aber doch ihr eigener so oft begangener Grund. Plötzlich fuhr sie herum, schüttelte mich und rief: Junge!, nur dieses Wort, das haltlos durch die Diele schallte; auf der Treppe erschien Onkel Karl.

Die Nacht jetzt kälter als noch Minuten zuvor. Wieder rüber zum Haus, das Flappen von Doris’ Pantoffeln, ein leises Fluchen, vielleicht ein Kiesel im Schuh. Sie blieb stehen, bückte sich, holte wieder auf, jetzt doch die Taschenlampe in der Hand. Der Lichtstrahl kroch über den Schotter, funzelig, verdrossen, als wollte er den Weg nicht weisen. Als etwas im Gebüsch raschelte, zuckte er weg, über den Graben, verlor sich im Moor. Ich begann zu schlottern. In der Diele baumelte der Telefonhörer an der Schnur, ich war mir sicher, ihn aufgelegt zu haben, hoffte, sie wäre wieder zu sich gekommen, hätte selbst den Notruf gewählt. Doch sie lag noch immer bäuchlings in meinem Bett, das Gesicht auf dem Kissen mir zugewandt, schlafend, schön wie eh und je. Davor, wie eine Glaswand zwischen ihr und dem Jungen, der Geruch von Kotze, Kinderschlaf, Tod. Doris prallte zurück und rief: Herrgott, Marga!, verärgert, als hätte sie all das bereits kommen sehen. Sie stürzte hin, hievte sie hoch, der Kopf klappte vor, Doris hielt das Kinn, strich ihr das Haar aus der Stirn. Ihre Hände auf Margas Herz, am Handgelenk, Sekunden atemloser Stille, dann rief sie: Puls!

Ich weiß nicht mehr, wo ich in diesem Moment stand - noch auf dem Flur, im Türrahmen oder schon am Bett? Eine Weile kommt der Junge auf diesen Bildern überhaupt nicht vor, als wäre er in ein Zeitloch gerutscht, durch seine aufgefächerten Blicke hindurch in den eigenen Kopf: dort das Haus, vom Moor aus gesehen jetzt hell erleuchtet, zackig der Giebel, rußige Klinker, Lichtsprengsel darüber, fast wie ein Feuer in der mondlosen Nacht, niedergewalzt von schneeschweren Wolken. An den Rändern des Bildes, wo es ausfranst und in das nächste übergeht, beginnt es zu grießeln. Doris’ Stimme dringt aus der offenen Haustür, sie ruft, als Schattenriss in der Diele stehend, mehrmals  die Adresse in den Telefonhörer; drei, vier Mal wiederholt sie die Wegbeschreibung zu einem Haus in Fenndorf, das sie schließlich als das letzte Gebäude hinter den Ställen bezeichnet; offiziell gab es nämlich am Heidedamm nur die Nummer zwei, den Schweinehof, und dahinter nichts mehr als das Moor.

Als sie nach oben kam, schien sie ruhiger. Sie blieb im Türrahmen stehen, reglos, fast ehrfürchtig, so, wie man für einen Moment von einem Gipfel oder Turm aus in eine unverhoffte Aussicht versinkt. Nur ihr Busen schwoll und schwoll; sie schien nur noch ein-, doch nicht mehr auszuatmen. Plötzlich ist auch der Junge wieder im Bild, er steht vor der Tür zu Margas Schlafzimmer, die er zugezogen hat, weil auf dem Bett die aufgerissene Vesparax-Schachtel liegt. Doris schiebt ihn zur Seite, stößt die Tür auf, sagt: Herrje! Zwischen ihren Fingern knistert ein Blister, der Beipackzettel, lies vor, ich habe die Brille nich’ hier, sagt sie und drückt ihm das Papier in die Hand. Ich starrte auf die winzige Schrift, die vor meinen Augen tanzte, riss den Mund auf, der Geruch daraus süßlich wie morgens um sieben, wenn Marga mich weckte und mir den Stirnkuss gab mit dem Hauch letzter Träume.

In meiner Kehle aber jetzt kein Wortstau, nicht einmal ein Stammeln, nur die Zunge stocherte in der Zahnlücke, als ich unter Anwendungsgebiete die Gründe las, warum Marga mit allem hatte Schluss machen wollen, und fast erleichtert war, dass dort nicht mein Name oder etwas wie eine akute Kartoffelgulaschallergie stand, doch auch das eher eine Idee von heute als der tatsächliche Gedanke des Kindes, der hilflose Versuch eines Schlaglichts in einem Tunnel aus Stummheit und Angst. Nun sag schon! rief Doris und riss mir den Zettel aus der Hand. Sie starrte ihn an, presste mich dann in ihr Fett und seufzte: Mein armer Junge, ein Satz, den nur Marga hätte sagen dürfen. Kaum war die weg, hatte die Tante ihr den schon abgeluchst.

Sie eilte ins Zimmer zurück und zerrte Marga auf die Seite. Das Kissen tauschte sie aus, deckte sie zu und ging ins Bad. Ich hörte das Wasser rauschen und im Rauschen noch einmal das Herrje!, dachte an die Zahnpastaspuren und dass Doris bei sich zu Hause so etwas nie geduldet hätte. Sie kam mit dem Putzeimer zurück und begann zu feudeln. Wieder ist der Junge eine Zeit lang nicht im Bild. In meiner Erinnerung sehe ich an der Wand nur die von Marga mit dem Kopf einer Heidelibelle bemalte Holzuhr, die halb acht anzeigte, sieben Uhr achtundzwanzig, um genau zu sein, seit irgendeinem Tag im Herbst, an dem die Zeiger auf den blasenartigen Facettenaugen stehen geblieben sein mussten. Marga wollte Batterien aus der Stadt mitbringen, war aber seitdem nicht mehr hingefahren. Seit in meinem Zimmer die Zeit stillstand, war alles anders geworden: die Tage kürzer, die Sonne rar, endlose Nächte, weil wir morgens nicht mehr zum Teich gingen und den Vormittag verpennten. Sie schlief nicht mehr in meinem Bett, sondern drüben in ihrem Zimmer, hinter verschlossener Tür, wo es zu müffeln begann. Ich stürzte mit dem Pausenklingeln ins Klassenzimmer. Strafarbeiten, meine erste Fünf im Hausaufsatz, weil kein Mitschüler mir das Blatt mit der Aufgabe gegeben hatte, Thema verfehlt. Grumbach, der Deutschlehrer, schrieb wegen der Trödelei einen Tadel nach dem anderen, die Marga nicht abzeichnete, auch die Klassenarbeiten nicht, einmal ranzte sie nur: Ich hatte keine Mutter für jeden Scheiß. Dann die Vorladung des Direktors, der sie nicht folgte. In einer Schublade fand ich einen alten Wecker zum Aufziehen, sein Morgenruf war kalt und schrill. Ich sehnte mich nach Margas Lippen auf meiner Stirn, ihrem Flüstern, dem Haar, das mir über die Wangen fiel und mich hochkitzelte in den Tag. Doch wenn ich aufschreckte, glotzte nur die Libelle mit blutrotem Kopf.  

Weil auch das Moor sich von seiner abweisendsten Seite zeigte, bin ich damals, in diesem späten Oktober, viel in der Ritze gewesen, dem geheimen Ort zwischen Bett und Wand. Vorm Einschlafen quetschte ich meinen Schwanz hinein und rieselte mich mit zusammengebissenen Zähnen aus. Doch auch die Ritze war jetzt anders geworden, weiter, langweiliger, kein enger Schlund mehr in unbegreifliche Tiefen, nur ein Spalt, der sich langsam zum Fußende hin öffnete, ein Grab für Staub, Spinnen, vertrocknete Popel, Kindheitsrätsel. Oft verschwand das Geriesel nicht mehr, staute sich an den Buckeln der Raufasertapete und zerfloss auf der Bettkante, noch bevor ich mich ganz ausgeschüttelt hatte. Ob das Moor schon von unten dagegenhielt?

Draußen stieg mit dem anhaltenden Regen das Wasser, drückte aus den Gräben auf die Felder, gluckste bei jedem Schritt unter den Schuhen, lauerte überall. Der Teich war angeschwollen, eine metallisch schimmernde Beule zwischen den Bulten, das Wollgras platt, die Erlen abgesoffen bis zum ersten Rindengesicht. Bald wurde der davonschwimmende Heidedamm mit Brettern ans Dorf geklammert, provisorischen Stegen aus Bauholz, die Karl Felber auslegte, damit der Trecker nicht zu tief in den Schlamm sackt. Der Schulweg wand sich als Pfützenband ins Dorf, war plötzlich ein trüber See, der sich langsam ans Haus heranfraß. Irgendwann stand die Brühe im Keller, dann war sogar das Klo verstopft, meine Kacke ging nicht mehr runter, die aufgequollenen Bröckchen schwammen in der Schüssel. Ich schämte mich dafür und erledigte fortan das große Geschäft in der Schule und den Rest hinter der Scheune, wo der Regen spülte und spülte. Wann Marga schiss, weiß ich nicht, vielleicht gar nicht mehr bei den paar Happen, die sie noch aß. Sie qualmte jetzt auch beim Essen, in einer Hand den Löffel, in der anderen die Fluppe, aber das hatte sie auch früher schon getan, wenn sie vom stundenlangen Starren und Stricheln wie weggeschossen war oder es eilig hatte, in die Scheune, nach Hamburg, wieder in ihre Welt zu kommen. Manchmal verwechselte sie Besteck und Zigarette; es sah komisch aus, wie sie die Lippen spitzte, dann aber statt des Filters den Löffel an den Mund führte oder sich die Kippe zwischen die Zähne schob; ich grinste sie an, bohrte den Messergriff ins Nasenloch und sagte: h-hlecker. Deine Mutter wird debil, lallte sie und machte auf Idiot. Wir lachten und futterten weiter.

Eigentlich ist alles wie immer gewesen, doch gerade dieses Immer schien sich nun auf eine mir unbegreifliche Art verändert zu haben. In jeder von Margas altbekannten Gesten, in all ihren so oft gehörten Witzen, über die ich lachte, weil ich schon immer darüber gelacht hatte, lauerte bereits das letzte Mal. Doch das wusste ich damals noch nicht und kann es heute nur behaupten. Längst sind die Gefühle des Jungen im Moor versunken, das Ende meiner Kindheit ein Schlamassel aus zerlaufenen Ölfarben und Schnee. Doch was tun mit all diesen Bildern, meiner Erinnerungssucht? Wohin mit der Mutter, ihrem Kotzmund, dem eisigen Kuss, den sie mir im Traum auf die Lider drückt? Vielleicht habe ich sie ja im Nachhinein selbst aus meinem Leben weggeschafft, wegschaffen müssen, um irgendwie weiterzumachen. Oder war es doch Karl Felber gewesen, der sie abholen und in die Anstalt bringen ließ? Sie vielleicht sogar vergiftet hat, um den ollen Schuppen, die verrückte Schwägerin darin, den verseuchten Abhub der gemeinsamen Vergangenheit endlich aus dem Weg zu schaffen? Heute reihen sich auf dem Heidedamm die röhrenförmigen Masthallen aus Holland, von denen er damals dauernd sprach.

Tatsächlich stand er plötzlich auf dem Flur. Er trug eine Schirmmütze, einen Pullover mit Norwegermuster, darüber den Overall, als wollte er in den Stall. Nur die dreckigen Schlappen an seinen Füßen störten das Bild des bösen Nachbarn, der dem Nebenbuhler heimlich Rattengift in den Brunnen kippt. Auch er schien von den Ereignissen aus dem Schlaf gerissen. Er stellte sich Doris in den Weg, die den Putzeimer zum Bad zurückschleppte. Was hat sie? Er deutete ins Zimmer. Das Zeug hat sie geschluckt, sagte Doris und schmiss ihm die Tablettenschachtel hin. Der Onkel warf einen Blick darauf und zeigte zu mir: Ich hab seinem Vater damals gleich gesagt, dass die nichts taugt. Doris baute sich vor ihm auf, ein Schwall Wasser spritzte aus dem Eimer auf den Boden. Beide nun bildfüllend, fast überlebensgroß, die fahlen, von Müdigkeit und Fragen entstellten Gesichter, talgige, auf Karls Wangen pockennarbige Haut, die Haare wirr, an Doris’ Schläfen bereits ergraut. Dass sie zur Hölle fahren soll, hast du gesagt, zischt sie, und dein Bruder gleich mit!, und sie macht eine fahrige Bewegung zum Bildrand, halb nach vorn, halb in die Höhe, in einen imaginären Himmel. Dann ist sie plötzlich weg und Karl allein. Der lehnt sich gegen den Türrahmen und sinkt ein Stück in die Knie. Im Bad jetzt das Gurgeln der Klospülung, einmal, dann, nach ein paar Sekunden, ein zweites Mal; die Kotze der Mutter, die verseuchte Verwandtschaft das Rohr runter und raus ins Moor. Aber das Klo, denkt der Junge in der Ecke, ist doch verstopft, und er sieht in Gedanken das Erbrochene über die Schüssel schwappen und das schwarze Wasser der Gräben hinein in das Haus.

Seltsamerweise ist mir von all den Bildern, die ich hier heraufbeschwöre, am deutlichsten diese Kotze in Erinnerung geblieben. Sie passt am wenigsten in das Bild meiner Mutter, an das ich mich noch immer klammere. Selbst auf der Bahre lag sie noch in einem dieser Seidenfetzen, die nie etwas verbargen. Bestimmt hätte sie die Wolldecke als Beleidigung empfunden. Beim Toilettengang hat sie stets Streichhölzer abgeflammt, sich jeden Tag gebadet und gepudert, ist immer um jeden Kuhfladen naserümpfend herum, und dann das. Welches Kind hat schon seine Mutter je kotzen gesehen? Mütter übergeben sich, wenn überhaupt, heimlich. Keine Mutter will sich in den Erinnerungen ihres Kindes in ihrem Mageninhalt schwimmen sehen, und Doris, als vorbildliche Hausfrau, hat es ja dann auch ganz schnell weggeputzt.

Als sie mit einem Handtuch wiederkam, ging sie wortlos an Karl vorbei. Mall im Kopf ist sie gewesen, rief der ihr hinterher, von Anfang an! Doris wischte den Bettpfosten ab, dann Margas Mund, schlug das Handtuch auf, es peitschte durch die Luft: Halt endlich die Schnauze, du alter Arsch! Karl schnellte vor, wirbelte sie herum, du! rief er, du nennst mich so nich’! Doris hob den Lappen gegen ihn wie eine Waffe. Nee? höhnte sie, aber ihr’n Arsch – und sie deutete zum Bett – den find’ste doch nich’ übel! Sie riss sich los, taumelte kurz, und ab.

Auftritt des Jungen. Er stolpert aus irgendeinem Winkel zum Bett, direkt in Karls Hände. Mama! ruft er und windet sich in den Armen des Onkels. Der kräftige Leib schwankt unter den Schlägen, die der Bauch abfedert, Fußtritten, die ins Leere gehen, einem Schrei, der in der großen Hand erstickt. Am Ende die Ohrfeige, der ein kurzes Schwarzbild folgt, als hätte jemand versucht, hier aus dem Film etwas herauszuschneiden oder einzufügen. Ihn schlägst du nich’ auch noch! rief Doris, zog mich von Karl weg und drückte mich an ihren Kittel. Der Sauerteiggeruch, das schwarze, flimmernde Bild, Karls Schnauben darin für mehrere Sekunden, eine Viertelminute vielleicht, in der ich daran dachte, dass ich am anderen Tag die strenge Galeristin würde anrufen müssen, um ihr zu sagen, dass Marga länger krank sei, wieder, immer noch krank, eine Vorstellung, die mir die Kehle zuschnürte; ob es der Gedanke war, telefonieren zu müssen, der mich so würgte, denn am Telefon stotterte ich schlimm, oder die Tatsache, dass ich entweder lügen oder die Wahrheit sagen musste? Dazwischen schien es nun nichts mehr zu geben, keine Möglichkeit, etwas ungeschehen zu machen; nur noch das Schwarzbild im Busen der Tante, die mich nun in ihr Haus holen würde, wo ich Sülzfleisch kauen und dem Martin, Thorsten und Andreas ein neuer Bruder sein müsste, der beim Cowboyspiel von hinten erschossen wird, und je länger Doris meinen Kopf streichelte, desto unerträglicher wurde mein Verlangen nach Margas Rührkuchen, der Zimtkruste, nach Zimt überhaupt, ich hätte Zimt fressen wollen bis ans Ende meiner Tage, wie Marga den Quark, das Butterbrot, den Zeigefinger damit bestäuben, ja, selbst die Pellkartoffeln hätte ich in Zimt gewälzt und, wenn uns irgendwann auch noch das Geld für die Kartoffeln ausgegangen wäre, das Zimtfässchen selbst noch genüsslich zwischen den Zähnen zerknackt, alles getan, damit sie wieder die Augen aufschlägt, mir zuzwinkert und sagt: Guten Morgen, Liebling, gehen wir zum Teich?

Doch stattdessen, als Doris den Jungen endlich entlässt, das Tatütata in der Ferne, oder auch keine Sirene, gar kein Geräusch, nur draußen vorm Fenster der Schneesturm und die roten Männer, die plötzlich im Zimmer stehen. Vielleicht waren sie schon auf dem Hinweg ohne Martinshorn, nur mit Blaulicht gekommen, aus Rücksicht auf die Träume der schlafenden Kinder.

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