Anne Richter, D

Geboren 1973 in Jena, lebt in Heidelberg. Studium der Romanistik und Anglistik in Jena, Oxford und Bologna. Zahlreiche Veröffentlichungen und Auszeichnungen. Hildegard E. Keller hat Anne Richter für die TDDL 2011 vorgeschlagen.

 

Download Text:

PDF-Format (*.pdf)

Informationen zum Autor

Videoporträt

 

Anne Richter

Geschwister

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

© 2011 Anne Richter


 

„Kümmere dich um unseren Vater“, flüsterte Ruth, „ich wohne zu weit weg und kann es nicht tun.“

Sie stieß mit der Fußspitze einige Male gegen die Erde, als wollte sie etwas davon fortschippen. Unschlüssig, ob sie neben ihrem Bruder stehenbleiben sollte, betrachtete sie sein Gesicht im Profil, es wirkte wie das eines gutaussehenden, fremden Mannes, an dem ihr, hätte er gelächelt, vielleicht etwas Vertrautes aufgefallen wäre. Fred nickte mit abgewandtem Blick. Er schien gealtert in den vergangenen Jahren.

Es war ein sehr heller Tag mit beinahe sommerlichem Himmel, in der Ferne zeichneten sich dunkle Nadelbäume ab, Wälder, die im Winter einen märchenhaften Eindruck machten, jetzt im Frühling sah Ruth Spitzen dicht nebeneinander, kleine Pfeile gen Himmel. Unten, hinter der Umzäunung des Friedhofs, wuchsen Gräser und wilde Blumen, gelb, violett, hellrosa.

Die Gäste hatten die flache Trauerhalle inzwischen verlassen und versammelten sich in Grüppchen zu beiden Seiten des ungepflasterten Weges, der vom Halleneingang zum Friedhofstor führte. Vor dem Tor öffnete einer der Angestellten des Bestattungsinstituts die hintere Wagentür, er war stämmig und blass und wischte sich mit dem Ärmel des Jacketts über Stirn und Hals. Der andere stellte die Urne im Wagen ab, danach ging er zum Beifahrersitz, der erste schlug die Tür zu, keiner der Gäste wandte den Kopf.

 

Seit Ruth vor Jahren aus Thüringen weggezogen war, hatte sie Fred nur hin und wieder zu Weihnachten gesehen und beim Essen am Heiligabend seltsam verlegen wenige Worte mit ihm gewechselt.

Zuletzt waren sie sich am selben Ort wie heute begegnet, vor einem halben Jahr, zum Begräbnis ihrer Großmutter. Und so wie heute war ihnen nach der Trauerfeier der Bestattungswagen, der nun vor dem Tor gestartet wurde, in Richtung des anderen Friedhofs am Ortsausgang der Kleinstadt vorausgefahren, wo die Urne versenkt werden sollte.

Ruth lief an Fred, an ihrem Vater und an der Frau ihres Onkels vorbei zum Tor und langsam dem Wagen nach. In den Balkonkästen der Wohnblöcke blühten rote Geranien und gelbe Stiefmütterchen, die grell vor der Fassade leuchteten. Rechts bemerkte sie eine kleine Tankstelle, die ihr im November, als Schnee gelegen hatte, nicht aufgefallen war, obwohl sie auf derselben Straße entlanggegangen war, der einzigen größeren des Ortes, einer Straße, die nicht nur in die nächste Ortschaft führte, sondern alle Ortschaften dieser Mittelgebirgslandschaft miteinander verband. Hier war die Gegend ihrer Großmutter, ihres Vaters und ihres Onkels, der Vater war fortgegangen, der jüngere Bruder Uwe geblieben. Er wohnte zunächst weiter im Dorf, suchte dann Arbeit in der Kleinstadt, in die man mit dem Bus in weniger als einer halben Stunde gelangte, und heiratete rasch; seine Frau bekam einen Sohn, Steffen, und verließ Uwe bald darauf, um nach Westdeutschland zu ziehen.

Später heiratete er Luise, die aus einem anderen Dorf der Gegend stammte. Ungefähr zu dieser Zeit ließ die Mutter sich vom Vater scheiden.

In den Jahren, in denen Uwe allein mit seinem Sohn lebte, besuchte er gelegentlich seinen Bruder, und bei diesen Besuchen wurde er im Kinderzimmer einquartiert, schlief in Freds oder Ruths Bett, was Ruth im nachhinein als eine Ungeheuerlichkeit erschien. Ihr Nachthemd noch ein Kindernachthemd, verblichen, ungebügelt , seine Alkoholausdünstungen, ihre Übelkeit und ihre Überzeugung, dass es unmöglich war, in der Dunkelheit an seinem Bett vorbei zum Fenster zu schleichen und es zu öffnen, ihre Furcht und sein Schnarchen, dem sie oft minutenlang zuhörte, während sie auf einen ausreichend langen Moment der Unterbrechung wartete, um wieder einzuschlafen all das fiel ihr ein, während sie hinüber zum anderen Friedhof lief.

Am Eingang angekommen durchquerte sie das Tor und schritt zügig auf das Grab ihrer Großmutter zu, in dessen Stein der Name ihres Onkels bereits eingraviert worden war.

 

                                                      *

 

Der Abend im November musste etwa zwanzig Jahre her sein. Bevor Ruth schlafen gegangen war, hatte sie einen Blick auf die beiden Männer am Wohnzimmertisch geworfen. Vor ihrem Vater, der sonst selten Bier trank, standen zwei leere Flaschen, auf Uwes Seite fünf. Ihr Vater saß vornübergebeugt und lachte, von Uwe erkannte Ruth nur den Hinterkopf, einzelne graue Haare, Schweiß im fleischigen Nacken, Strähnen, die wie angeklebt aussahen. Der Vater berührte Uwe am Unterarm und erzählte etwas von einer gestohlenen Tafel Schokolade, die er mit ihm geteilt hatte, an einem Grashang im Frühjahr, ob er sich erinnere? Uwe lachte: schlecht sei ihm geworden, als er die Mutter übers Feld auf sich zukommen sah, er habe ängstlich auf ihre Finger geblickt, die feste, derbe Haut. Eine solche Mutter, die reinste Hölle. Der Vater zog seine Hand zurück und entgegnete heftig: „So etwas sagt man nicht.“

Ruth hatte schon geschlafen, als sie ein Brüllen hörte, die ihr bekannten Laute väterlichen Zorns, vermischt mit ihr unbekannten kurzen, heftigen Sätzen. Freds Bett war leer, aber sie wusste, dass er diese Nacht im Zimmer der Eltern schlief. Sie lauschte auf die Stimmen und versuchte die Worte zu verstehen. Hellere, klirrende Geräusche ertönten, ein Schrei, ein zweiter. Sie verließ das Bett und drückte sich gegen den Türrahmen. Sah Schaum auf der Tischdecke, sich ausbreitende Flecken, einen scharfkantigen Flaschenhals, braune Scherben, eine lange schlitzförmige Wunde auf der Wange ihres Onkels, der in ruhiger, abwesender Haltung in der Mitte des Zimmers stand und unter die linke Kinnseite ein Taschentuch presste, das sich mehr und mehr vollsog, bis das Blut schließlich auf den Teppich tropfte. Uwe bemühte sich, das Blut mit der Handfläche aufzufangen. Als er einmal unwillkürlich über seine Wange strich, verschmierte er es auf der Haut, und da erst fragte sich Ruth, wieso er sich nicht rührte, nicht ins Bad ging, wieso er stumm blieb, anstatt einen Arzt zu rufen. Biergeruch hing im Raum, der Vater saß reglos am Tisch.

Dann packte sie jemand am Arm und wollte sie fortreißen. Mutti, dachte sie, doch es war Fred. Er legte ihr beide Hände wie eine Binde vor die Augen und zog sie langsam nach hinten aus der Tür. Als er die Hände wegnahm, drückte der Vater sein Gesicht in die Scherben.

 

                                                      *

 

Der stämmige Angestellte des Bestattungsinstituts ging in die Hocke und stellte die Urne hinunter in die kleine quadratische Aushöhlung. Seine bleichen Hände hatten im Winter eine blaurote Tönung gehabt. Während er sich aufrichtete und die Unterarme hinter dem Rücken kreuzte, blieb sein Blick an den beiden Urnen haften.

Die Trauergäste, im lockeren Halbkreis um das Grab versammelt, begannen sich hintereinander aufzureihen. Ruth gliederte sich am Ende der Schlange ein. Sie sah zu, wie die anderen nach und nach vor das Grab traten und einige Sekunden davor verharrten. Zwei Personen standen zwischen ihr und ihrem Vater, und als er sich nah vor das Grab stellte und hinabblickte, begannen erst seine Hände, dann sein Leib zu zittern. Die langsam heilenden Wunden, später die Narben in seinem Gesicht. Ein verzweifeltes Auflachen am Telefon Wochen nach dem Streit, als er zu seinem Bruder sagte, ich habe das Gesicht verloren, und du? Und Monate später, Monate, in denen seine Gereiztheit stetig zugenommen hatte, Uwes unvermuteter Besuch, an dessen letztem Tag der Vater ihm wieder zaghaft eine Hand auf den Unterarm gelegt hatte, eine Beobachtung, die Ruth damals irritierte.

Ruth faltete, obwohl sie nie betete, ihre Hände, presste die Ballen gegeneinander und verfolgte gleichzeitig die Bewegungen ihres Vaters. Sie fürchtete, er verlöre jeden Halt, aber nachdem er einige Augenblicke so gestanden hatte, stumm und als wisse er nicht weiter, griff er die Blechschaufel, hielt sie einen Moment in die Luft, schob sie in die Schale mit Erde, nahm wenig davon auf und ließ die Erde auf das Grab fallen.

Obwohl Ruth, wie zuvor bei Fred, sein Gesicht nur im Profil sah, lag ein Ausdruck der Vergeblichkeit so deutlich in seinen Zügen, dass sie sich fragte, wie das Gesicht ihres Vaters nach der Versöhnung wieder eben hatte werden können, schien es doch, als seien nachträgliche Gesten nutzlos. 

Eine zweite Schale hing, von einem dunklen Metallgestell gehalten, neben dem Gefäß mit Erde. Der Vater beugte sich vor, griff tief in das Bad frischer, farbiger Rosenblütenblätter und streute eine Handvoll auf das Grab. Während er mit gesenktem Kopf ans Ende der Reihe ging, löste sich Fred aus der Menge, trat auf ihn zu und umarmte ihn, ohne ihn an sich zu drücken. Ruth dachte unvermittelt, dass die beiden einmal, eine Zeitlang, die gleiche dunkle Haarfarbe gehabt hatten.

 

Viel früher, während der Zeit der Besuche ihres Onkels, war Fred blond und sie kurzhaarig, für ihr Alter groß, doch stets viel kleiner als er gewesen. Er hatte sie beim Langlauf besiegt, beim Schach und beim Tischtennis, das sie gelegentlich im Ferienlager, einmal auch zu Hause spielten, als ihre Eltern die kleine Vierzimmerwohnung renovierten und den Esstisch in die Mitte des Kinderzimmers gestellt hatten, weil das Wohnzimmer neu gestrichen wurde. Alte Zeitungen und Plastikplanen bedeckten den Fußboden, Farbeimer und Malerpinsel bildeten das neue und einzige Inventar des Raumes, dessen Glastür fast ununterbrochen offen blieb, so dass Farbgeruch die gesamte Wohnung erfüllte.

Zunächst stand der Tisch im Kinderzimmer nutzlos herum, eines Tages jedoch holte Fred zwei Tischtennisschläger aus seinem Spielschrank, malte mit weißer Kreide in der Mitte einen Strich auf und legte, die Hand waagerecht in der Luft, mit gebieterischer Stimme eine Höhe fest, die der kleine Ball auf keinen Fall unterschreiten dürfe. Einen der beiden Schläger warf er Ruth zu. Sie begannen das Spiel, und Fred bestimmte, wann der Ball sicher ins Netz gegangen wäre, indes Ruth alle Bemühungen auf kräftige und gezielte Schläge verwandte. Sie spürte ihren verkrampften Arm, den trockenen Mund und dennoch eine seltene Energie, eine Lust zu kämpfen.

Nach der dritten Runde lächelte Fred sie triumphierend an, schwang sich, auf beide Hände gestützt, am Tisch hoch und setzte sich. Er warf den Tischtennisschläger in die Luft, ließ ihn kreiseln und fing ihn wieder auf; Ruth blieb auf ihrer Seite stehen und hieb mit der Kante des Schlägers mehrmals gegen die Holzplatte. Ihre Schläge bekamen einen Rhythmus, wurden lauter.

„Lass das, es ist mein Schläger!“, sagte Fred.

Ruth blickte ihn an, diesmal triumphierte sie. Ein Lied schlagen, scheinbar fröhlich, einen Marsch zwischen Schränken, Betten und unaufgeräumtem Spielzeug, Freds Matchboxautos, seinen Puzzles und Stofftieren, ihren gemeinsamen Schachfiguren, die verstreut auf dem Teppichboden lagen, schwarze und weiße durcheinander, manche unter dem Tisch, andere zwischen ihren halb zerknitterten Malblättern. Sie wechselte den Ton, Flachseite, Schmalseite, Flachseite, wendete den Schläger und ließ den Griff gegen das Holz wippen. Blitzschnell wurde er ihr entrissen, die Musik in ihrem Kopf brach ab, und Fred hieb mit der Schmalseite gegen ihre Rippen. Sie zuckte zusammen, krümmte sich, der Schmerz ließ sie nach dem Schläger greifen, einen Augenblick lang zogen sie ihn in entgegengesetzte Richtungen, aber wie gewohnt war Fred stärker und rannte mit beiden Schlägern durch den Flur ins Wohnzimmer, schloss flink die Glastür hinter sich und presste seinen Körper von innen dagegen. Ruth stemmte sich vom Flur aus gegen die Tür, wobei sie die Klinke nach unten drückte. „Mach die Tür auf!“, rief sie, während Freds Lachen in den Flur hallte. Er hatte sich umgedreht und rieb seinen Po an der Glasscheibe, unaufhörlich lachend, so dass Ruth zornig ihren nackten Fuß hob und in die Scheibe stieß. Fred zuckte augenblicklich zurück und schrie kurz, dann riss er die Tür auf und beugte sich zu Ruth nieder, die auf den Boden gesunken war und ihren Fuß mit den Fingern umklammerte. Fred zerrte sie hoch, „Ins Bad, schnell!“, und „Ich hol einen Kanten Brot, den musst du essen, damit sich das Blut nachbildet!“

Das Blut hinterließ eine schmale, unübersehbare Spur, als Ruth auf einem Bein ins Bad hüpfte, wo sie sich auf den Wannenrand setzte. Unter ihrem Fuß bildete sich eine Lache.

Ruth blieb still sitzen, ehe Fred hereinkam und ihr die Trainingshose bis übers Knie hochkrempelte. Sie hatte ihren Fuß abgesetzt, so dass ihre Ferse gegen den Wannenboden drückte und ihre weißen Zehen zur Decke zeigten.

Ein Rinnsal sickerte Richtung Abfluss, Ruth krampfte ihre Hände um den Wannenrand und dachte an die Eltern. Sie spürte, wie Fred ihre Hand sanft vom Rand löste, ihr etwas hineinlegte und die Hand zu ihrem Mund führte, sie hörte erneut: „... damit sich das Blut nachbildet!“ und biss in das Brotstück, das hart und zäh war und desto süßlicher schmeckte, je länger sie den Brocken kaute. Und sie kaute und kaute, derweil Fred ihren Fuß mit der Brause abspülte, mit warmem Wasser streichelte, die Tropfen, die von ihrem Fuß fallen wollten, in einen rötlichen, wässrigen Fluss verwandelte, einstweilen, bis sie den Kanten aufgegessen hatte.

 

       *

 

Als Ruth vor dem Grab stand, fiel es ihr sonderbar leicht, Erde hinabzuwerfen. Die Blütenblätter der Rosen fühlten sich weich an. Sie blieb einen Moment an ihrem Platz stehen, wie die anderen es zuvor getan hatten, und blickte auf den Stein, die Namen der Großmutter und des Onkels, ehe sie sich mit schnellen Schritten entfernte und sich abseits von der Menge mit dem Rücken vor ein ihr unbekanntes Grab stellte. Die inzwischen unnütz gewordenen, selbst die höchsten Bäume überragenden Schornsteine des Porzellanwerks, die sie in der Ferne sah, schienen zur Stille des Friedhofs zu passen.

Wenige Jahre bevor die Großmutter vom Dorf ins kleinstädtische Altersheim umgezogen war, hatte Ruth bei einem ihrer Besuche auch Uwe und seinen Sohn im Haus der Großmutter angetroffen und die beiden darüber streiten hören, ob es ein Glück oder ein Unglück für die Gegend sei, dass durch diese Türme kein Rauch mehr aufstieg. Die Großmutter hatte unterdessen schweigend das Geschirr abgewaschen, und Ruth konnte nicht nur sehen, dass ihre kreisenden Bewegungen mit dem Lappen stockender als sonst waren, sondern auch, dass sie die Teller, Tassen und Untertassen so behutsam ablegte, als seien sie kleine Tiere, deren Leben man nicht gefährden möchte.

Nach dem Begräbnis der Großmutter hatte Ruth dann zum ersten Mal seit Jahren wieder mit Uwe gesprochen. Die nahen Verwandten fanden sich vor einem der nebeneinander aufgereihten blassgelben Neubaublöcke des Ortes zusammen, verharrten eine Weile im vom Schnee befreiten Eingangsbereich und stiegen schließlich die Stufen zur vierten Etage hoch. Ruth betrachtete die kleine, ordentliche Dreizimmerwohnung, in der Luise und Uwe lebten, die Porzellanfiguren hinter den Glastüren der Schrankwand, andere, die auf dem Fernseher standen und das Staubwischen sicherlich mühsam machten, hingegen gab es eine glatte Ledercouch und einen schnörkellosen Holztisch und eine unmittelbar an das Wohnzimmer grenzende Küche ohne Tür. Ein Foto der Großmutter konnte Ruth nicht entdecken. 

Die Trauergäste verteilten sich auf dem Sofa und am Tisch, Luise trug Kuchen auf, goss Kaffee ein, und während Ruth aß und trank, schaute sie hinab in das Tal, auf die schneetragenden Äste der Bäume und auf einen langgestreckten, quaderförmigen Bau mit dazugehörigen Schornsteinen, das verlassene Porzellanwerk. Die dichten Fensterreihen der Fabrik sahen unbeschädigt aus, nur der helle Verputz trug Graffitispuren, und Ruth fragte sich, wer in dieser beinahe jugendlosen Kleinstadt Wände besprühte.

Uwe und Luise hatten in dem Werk gearbeitet, wobei nur sie die Techniken – das Drehen, Gießen und Pressen, das Brennen und Glasieren – beherrscht hatte, weil Uwe in der Verwaltung tätig gewesen war.

Jemand klapperte mit seiner Kaffeetasse, es entstand ein klingender Ton von zerbrechlichem Material, ein Lebenszeichen von einem toten Ort. Ruth fuhr mit dem Zeigefinger die feine Zeichnung auf ihrem Teller nach, blaue Blüten, blass, schlicht und einander ähnlich. Auf der Tasse das gleiche Muster.

Sie hörte Uwe sagen, dass er krankgeschrieben sei und dass Luise nun seine Schicht in der neuen Firma übernehmen müsse. Er saß mit dem Rücken zur Küche, in der Luise hantierte, sein Haar war hellgrau, die Haut an den Händen rissig, und sein Gesicht hatte einen kämpferischen Ausdruck.

Die Großmutter sei stets vernünftig gewesen, selbst als man ihr vorgeschlagen habe, ins Altersheim umzuziehen. Vernünftig und stark – dennoch sei er froh, dass ihr niemand von seinem Darmkrebs erzählt habe.

Er sprach weder mit verschämtem noch mit bedeutungsschwangerem Gestus, sondern wie ein Mann, der gelernt hatte, über eigene Probleme angemessen zu reden. Ruth hörte ihm zu und nickte, und es erschien ihr plötzlich einfach, mit Blick auf Luises kräftigen Rücken nach Einzelheiten der beabsichtigten Therapie zu fragen. Neun Chemotherapien, im Abstand von jeweils zwei Wochen. Es klang so selbstverständlich, als spräche er von dem Gericht, das es morgen zum Mittagessen geben würde, oder von einem Urlaubsplan.

„Ich frage Steffen, ob er mir abends hilft“, sagte Luise.

„Was für eine Firma ist das?“, fragte Ruth.

„Computerteile“, antwortete Luise. Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Die kriegen dann die Amis. Das Gebäude steht im Nebenort. Wir bekommen winzige Teile von drüben, basteln die zusammen und verschicken sie über den Ozean. Und alle halbe Jahre kriegen wir ein Sonderangebot für eine neues Gerät.“

„Und wo wohnt dein Sohn?“, fragte Ruth ihren Onkel.

„Neben der Firma“, erwiderte Luise, „aber er hat keinen Job.“

Uwe sagte: „Die Teile hätte auch Mutter zusammenbauen können, obwohl sie fast blind war.“

Ruth erhob sich, um gemeinsam mit Luise das Geschirr abzuräumen, wobei ihr Blick auf ihren Vater fiel, der seinen Bruder schweigend musterte.

 

                                                      *

 

Das Ritual war beendet, die Angestellten des Bestattungsinstituts begannen, in gleichmäßigem Rhythmus  das Grab zuzuschaufeln. Zögernd ging Ruth zu der Gruppe zurück und hielt neben Fred und ihrem Vater inne. Vereinzelt trotteten die Trauergäste in Richtung des Tores; weil es keinen förmlichen Abschluss gab, blickten sich einige von ihnen irritiert und unschlüssig um. Luise stand nah am Grab und starrte hinab, wo schaufelweise geworfene Erde die Blütenblätter nach und nach bedeckte.

Ohne Absprache setzten sich Ruth, Fred und ihr Vater in Bewegung. Es schien Ruth, als umgebe die Landschaft sie schützend und ohne Trost, und sie bemerkte, wie dicht die Bäume noch immer wuchsen und dass die Farben ihrer Stämme, verglichen mit früher, als sie noch ein Kind gewesen war, von ferne unverändert aussahen.

Am Friedhofstor sagte der Vater, er habe in den letzten Wochen häufig mit Luise telefoniert.

Die Chemotherapie habe kurze Zeit nach dem Begräbnis der Großmutter begonnen, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. Regelmäßig chauffierte Luise Uwe in die Klinik der nächsten größeren Stadt, der ersten hinter der ehemaligen Grenze. Er kehrte nach jedem Mal erschöpfter nach Hause zurück. Kaum hatte er sich ein wenig erholt, fuhren sie erneut los, um sich seine Dosis abzuholen. Nach dem vierten dreitägigen Aufenthalt bekam er plötzlich Fieber, ihm schwindelte, er musste sich auf der Rückbank des Autos ausruhen, und als sie beinahe zu Hause angekommen waren, sagte er zu seiner Frau: „Fahr mich bitte noch einmal hin, ich muss mit der Ärztin reden.“ Sogleich kehrte Luise um, Uwe konnte nicht schlafen, weil er zu sehr fieberte; sein Kopf war rot, nur um den Mund herum war er bleich.

Taumelnd stieg er vor der Klinik aus. Wenige Minuten vor Ende der Sprechzeit führte Luise ihn zum Zimmer der Onkologin und klopfte an die Tür, woraufhin die Ärztin mit lauter Stimme „Ja, bitte?“ rief. Luise schob ihren Mann in den Raum, die Ärztin blickte kurz auf und fragte in unverändertem Tonfall: „Haben Sie etwas vergessen?“ Hätte Luise ihn nicht festgehalten, wäre Uwe auf den Boden gesackt. Wortlos zog sie ihn zur Patientenliege und half ihm, sich mit angewinkelten Beinen hinzulegen.

Sie habe zeitgleich mit der Ärztin auf Uwes Schuhe geschaut, um zu prüfen, ob sie sauber seien, sagte der Vater.

Dann sah sie die Ärztin den Blick zur Uhr heben und missbilligend nicken. Uwe atmete stoßweise. Er fühle sich sehr schlecht, bekomme kaum Luft, sie sehe es vielleicht selbst, presste er hervor. Und während Luise zum wiederholten Mal die unzähligen Auszeichnungen an den Wänden und auf dem Schrank musterte, sagte die Ärztin, dass ein solches Befinden nach einer Chemotherapie vollkommen normal sei. „Denken Sie nach vorn, lassen Sie sich nicht so hängen, Sie müssen eine positivere Einstellung entwickeln.“

Wenn Uwe in diesem Moment hätte lächeln können, meinte der Vater, hätte er es gewiss getan, denn eine solche Ausdrucksweise musste ihm, nach so vielen Jahren in der DDR, bekannt vorgekommen sein.  

Die Ärztin reichte Luise eine Überweisung zu einem Lungenfacharzt, und da das Fieber auch am nächsten Tag nicht sank, fuhren sie zu dem Spezialisten, dessen Praxis sich unweit ihres Hauses befand. Er untersuchte die Lunge gründlich und stellte fest, dass es keine Metastasen gab. „Seien Sie froh“, sagte er mit unmerklichem Lächeln, „und warten Sie einfach ein paar Tage ab.“

Der Mai hatte begonnen, und als sie am Mittag zurückkamen, flirrte die Luft über dem Gras. Obwohl er heftig zitterte, ließ Uwe seinen Blick über die weiten farbigen Wiesen und die sie begrenzenden Waldmauern schweifen und sagte überraschend: „Wenn der Spuk vorbei ist, machen wir eine Reise, ja?“

Luise erwiderte: „Nach Italien oder Marokko oder in die Alpen, wenn du gerne wandern möchtest.“

Sie erinnerte sich dabei an einen Tag, an dem sie gemeinsam mit Uwe die Großmutter in ihrem Dorf besucht hatte, um ihr einen im Sonderangebot gekauften Laptop zu präsentieren. Uwe hatte den Computer nach der Begrüßung auf dem Küchentisch abgestellt, sofort hochgefahren und rasch und geschickt Punkte angeklickt, bis Bilder über Bilder erschienen waren, schließlich ein Angebot für Reisen, mehrere Berggipfel, ein heller, klarer See, schneebedeckte Felsen, danach rötliche Türme, weißer Sand.

Mit Holzscheiten unter dem Arm, auf dem Weg zum Dachboden, hatte die Großmutter kopfschüttelnd gesagt: „Was willst du dort, Junge!“

Und als verstünde er mit einem Mal seine Mutter, deutete Uwe mit dem Kopf in Richtung der Wälder und sagte: „Aber zuerst werden wir wieder spazierengehen.“

 

Die Stimme des Vaters klang brüchig. Uwe sei dann nicht noch einmal zu der Onkologin gefahren, und so habe Luise ihn schließlich direkt ins Krankenhaus der Kleinstadt gebracht, wo man eine Lungenentzündung diagnostiziert habe.

Die Ärzte gaben ihm ein Antibiotikum. Ein zweites. Ein drittes. Ein viertes. Er röchelte und schwieg. Er öffnete immer seltener die Augen. Sein Blut floss in Röhrchen, und an den Einstichstellen bildeten sich violette Flecken. Die Ärzte suchten den Erreger. Derweil verabreichten sie ihm das fünfte Antibiotikum.

Draußen war es warm und frisch, im Krankenzimmer heiß und stickig. Luise wurde manchmal übel, wenn sie eintrat, und als Uwe ein Einzelzimmer bekam, war sie erleichtert, weil allein sein Geruch sie umgab. Die maihellen Wiesen und hohen Bäume, die Tankstelle, die Wohnblöcke mit ihren glatten Fassaden, die erdigen Wege und gepflasterten Straßen der Kleinstadt schrumpften, während sie sich neben ihm einrichtete und der zugleich säuerliche und süßliche, der menschliche, der körperliche Geruch im Zimmer allmählich zu schwinden schien. 

Uwe braucht nicht mehr auf die Intensivstation umzuziehen, habe sie wenige Tage später leise und schrill in den Apparat gerufen. Da sei er, sagte der Vater, von seinem Hocker am Telefontisch aufgesprungen, um die Lähmung, die von ihm Besitz ergreifen wollte, zu bezwingen. Er habe sich sofort auf den Weg gemacht und sei eine halbe Stunde vor Uwes Tod in der Klinik eingetroffen.

 

Sie waren die Letzten am Friedhofstor, die Bestatter streiften an ihnen vorüber, der Kräftige vorneweg, mit unregelmäßigen, plumpen Schritten, gefolgt von dem anderen, einem schmalen jungen Mann, der kurz den Kopf hob und ihnen einmal stumm zunickte. Sie erwiderten die Verabschiedung, kaum dass der Vater seine Erzählung beendet hatte.

Ruth hätte gern etwas zu Fred gesagt. Sie spürte seinen Körper neben ihrem und dachte an eine der Reisen, die sie gemeinsam unternommen hatten, an die rastlosen Tage in Marseille. Übermüdet stolperten sie durch nach Fisch riechende Gassen, aßen Couscous mit Ratatouille, mischten sich unter die Menschen, immer auf der Jagd nach neuen Eindrücken, als glaubten sie nur noch wenig Zeit zum Leben zu haben. Nachts fuhren sie ans Meer, warfen sich den Wellen entgegen und fielen später mit nassen Körpern in den Sand. Am letzten Abend sagte Ruth, nachdem sie einen langen Schluck aus der Weinflasche genommen und sich danach auf den Rücken gelegt hatte: „Wenn ich eine Weile zum Himmel schaue, habe ich das Gefühl, dass die Sterne sich bewegen.“ Und nach einem Moment des Schweigens, in dem man nur die Autos in der Ferne und das in regelmäßigen Abständen anschwellende und plötzlich abbrechende Geräusch der Wellen hören konnte, erwiderte Fred mit fester Stimme: „Das tun sie doch auch.“

 

„Ich fahre jetzt wieder zurück“, sagte Ruth.

„Ich begleite dich zum Bahnhof“, entgegnete der Vater unverzüglich.

Sie verließen den Friedhof und erreichten die Straße, die an der Tankstelle vorbei zum Bahnhof führte. Weil es keinen Gehweg gab, liefen Fred und Ruth dicht nebeneinander am Rand, die raschen Schritte ihres Vaters hinter sich. 

„Da, wo ich wohne, ist es ganz anders als in Marseille“, sagte Ruth unvermittelt und suchte einen Widerhall in Freds Augen. Ohne zu lächeln, blickten die Geschwister einander an. 

„Ich habe nie verstanden, warum du dort hingegangen bist“, sagte Fred und verzog ein wenig den Mund. „In den Westen.“ Beim letzten Wort hob er die Stimme, um sie mit der zweiten Silbe wieder zu senken. Ruth wandte sich zu Fred um und hielt ihm mit angewinkeltem Arm unentschlossen ihre schlaffe Hand hin.

„Sterben will ich dort nicht“, sagte sie.

Fred blieb stehen, fasste mit beiden Händen ihre Unterarme und hielt sie so fest, dass Ruth einen ähnlichen Schmerz wie früher verspürte, wenn er bei einem Streit ihre Arme hinter dem Rücken zusammengedrückt und festgehalten hatte, ohne dass sie sich hätte wehren können.

Er sah sie lange an. Sie erwiderte seinen Blick. Seine Hände glitten hinab zu ihren, warme, raue Hände, die ihre nicht losließen, sie aber ohne Druck umschlossen; schon damals hatte Fred oft die Nägel abgebissen. Ruth begann seine Hände zu streicheln, schließlich zu umklammern, sie spürte seine Knöchel, bohrte ihre Fingerkuppen in nachgiebige Stellen des Handtellers; dann wandte sie ihren Blick ab.

Der Vater war weitergegangen, er drehte sich nicht um, seine Gestalt wurde kleiner, am Saum der Straße.

„Ich kümmere mich um ihn“, sagte Fred.

 

 Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)Banner_TDDL2011 (Bild: ORF)