Martin von Arndt, Stuttgart (D)

Martin von Arndt wurde 1968 in Ludwigsburg geboren. Der Autor lebt in Stuttgart und Pécs. Arndt wurde zum Bewerb von Alain Claude Sulzer vorgeschlagen.


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Martin von Arndt

Der Tod ist ein Postmann mit Hut (Romanauszug)


Der Tod ist ein Postmann mit Hut. Jeden ersten Mittwoch im Monat bringt er mir ein Einschreiben. Er hält mir sein tragbares Terminal hin und einen Stift, der aussieht wie ein krumm geschlagener Zimmermannsnagel, und ich krakle einen großen Kreis, dazu inmitten des Kreises einen Haken von rechts nach links und einen von oben nach unten, etwas, das aussieht wie eine gewagte, eine gewogene und doch für zu leicht befundene Unterschrift. Dann deutet er, der mich längst duzt, ein Lächeln an und fährt mit dem Zeigefinger flüchtig an seine Kopfbedeckung, einen Tirolerhut. Ich biete ihm Wacholderschnaps in einem Stamperl an. Er stürzt das Destillat, indem er den Kopf in den Nacken wirft und dabei die Augen zukneift, bleckt die Zähne, schnalzt einen vollendeten Knacklaut mit der Zunge, lächelt, führt den Zeigefinger abermals flüchtig an den Hut und dreht sich auf der Schwelle. Ich sehe ihm noch einen Moment nach, seinem hatschenden Gang, den die scherenförmigen Beine verursachen, und ziehe mich mit dem leeren Glas und dem Einschreiben zurück in meine Wohnung. Dann setze ich mich damit an den Tisch. Ich rücke mit dem Stuhl ein wenig ab, um ein Bein übers andere zu schlagen. Ich warte. Warte und betrachte die mal volle, mal halbvolle oder leere Wacholderflasche, oder das Schnapsglas. Ich zähle die Fliegen unter der Zimmerdecke. Insektensütterlin. Ein stilles Mobile. Ich warte. Eine Stunde oder auch zwei. Das Einschreiben sehe ich nicht an.

Wenn es soweit ist, dem Außenstehenden mag es vorkommen wie ein Bereitgewordensein, rücke ich mit dem Stuhl an den Tisch heran und öffne das Kuvert. Vielleicht diesmal, jubelt etwas in mir noch immer einem neuen Ausgang des Spiels entgegen. Aber nein. Wieder nur das einmal gefaltete leere Blatt. Das Monat für Monat wiederkehrende weiße Papier, ein anonymes Schreiben in einem Standard-Umschlag, mit Automaten-Marke versehen. Heute wie letzten Monat. Wie vorletzten Monat. Heute wie immer.

Das erste Einschreiben erhielt ich vor fast zwei Jahren, an meinem vierzigsten Geburtstag. Mein Postmann verglich damals noch den Namen auf dem Kuvert mit dem in meinem Personalausweis, in den er Einsicht nehmen wollte. Er stutzte, als er sah, daß ich Deutscher bin, zuckte mit den Schultern, murmelte umständlich etwas auf Tirolerisch, vielleicht ein Wort des Verzeihens, ich sei deswegen ja noch kein schlechter Mensch, und griff sich an die Kopfbedeckung. Dann händigte er mir gegen meine Unterschrift einen Umschlag aus, der keinen Absender trug, ich sah den Hut im Treppenhaus untertauchen und glaubte, als er endgültig verschwunden war, an einen dieser österreichischen Sonderwege. Tragen sie hier eben Hut, die Einschreibeboten, keine Mütze, keine Kappe, sondern Tirolerhut. Hier ist eben alles ein wenig Folklore, dachte ich.

Martin von Arndt (Foto ORF/Johannes Puch)

Das leere Papier entnahm ich dem Kuvert, während ich mir die Zähne putzte. Ich studierte es von beiden Seiten und durchsuchte den Umschlag so lange, bis ich sicher sein konnte, daß er nichts weiter enthielt. Bestimmt ein Versehen, der Absender würde sich gehörig ärgern, wenn er zuhause feststellte, daß die wichtigen Unterlagen noch immer auf seinem Schreibtisch lagen und er nichts oder so gut wie nichts für sein Geld verschickt hatte. Er würde sich vornehmen, künftig konzentrierter ans Werk zu gehen und einen neuen Umschlag bereitlegen.
Trotz des ersten Impulses warf ich das Einschreiben nicht weg. Es stand doch so zweifelsfrei mein Name auf dem Adressatenfeld und keiner auf dem, das dem Absender vorbehalten bleibt, daß ich mich anmaßend, ja, pietätlos gefühlt hätte, dieses Dokument einfach zu vernichten.

Ich war vierzig Jahre alt. Vor genau einem Jahr hatte Ines ein letztes Mal bulgarisches Rosenwasser auf die überall in unserer gemeinsamen Wohnung aufgestellten Blumensträuße gesprüht (weil die Rosen, wie sie betonte, sonst heutzutage gar nicht mehr richtig dufteten), sie hatte die Schlüssel zurückgegeben und mir drei beglaubigte Kopien unserer Scheidungsurkunde auf den Küchentisch gelegt.

"Ich hab für dich gleich ein paar mitgemacht, die braucht man doch immer."
Ines trank ihren Kaffee wie üblich nicht ganz aus und stellte die Tasse in die Spüle (mit dem verbliebenen Rest der Flüssigkeit bekleckerte ich Tage später, wie üblich und als wäre inzwischen nichts geschehen, den Boden vor der Spülmaschine). Dann lehnte sie ihre Stirn flüchtig an meine - ich roch das Rosenwasser - und sagte: "Den Gummibaum und die Blumen behältst du."
Ich nickte. Ich habe nicht nur den Gummibaum behalten.
Wenn sich Ines fortan zu Besuchen ankündigte, tätigte ich zuvor Inspektionsgänge durch die Wohnung, um auch wirklich alle Erinnerungsstücke an unsere gemeinsame Zeit zu verbergen. Ich mochte ihr keine Gelegenheit geben, den Kopf zu senken, ihn sachte einmal nach hier, einmal nach dort zu schütteln, und mit leiser Enttäuschung in der Stimme zu murmeln: "Ach, Jo, vorbei ist vorbei."

Vorbei ist vorbei. Ich dachte an Selbstmord. Oder dachte nicht daran. Und wenn ich nicht daran dachte, dann allein deswegen, weil ich kein Verlangen danach hatte, tatsächlich meinem Vater nachzueifern. Ihm, der mir alles eingebrockt hatte. Meine Tage gingen in einem Gleichmaß dahin, und ich verstand es nicht, ihnen Persönlichkeit abzutrotzen. Ich stand auf (zu früh), ich kochte Kaffee (der mir nicht schmeckte), ich legte mich wieder ins Bett, obwohl ich wußte, daß mir das moralisch ganz und gar nicht gut tun würde. Ich stand wieder auf (zu spät), ging in einen Schnellimbiss und aß übermäßig oder nur einen Bruchteil meiner Bestellung; den Weg zur Trafik konnte ich mir gerade noch verbieten, ich wollte wenigstens hierin stark bleiben vor mir, schließlich hatte ich mir das Rauchen abgewöhnt; wenn ich es auch nur getan hatte, weil ich vor Ines wieder einmal als ein neuer Mann dastehen wollte.

Mutters Beerdigung war das letzte Mal, daß ich mit Ines in Deutschland war, das letzte Mal, daß wir überhaupt zusammen weggefahren waren.
Schon während wir im Nachtzug nach Norden saßen, wußte sie, daß sie mich verlassen würde, nur noch die Beerdigung wollte sie abwarten und mir zwei Trauermonate zugestehen. Ines war mit mir gekommen, weil sie mich nicht allein lassen wollte, mich nicht allein lassen konnte mit meinen widerstreitenden Gefühlen zu einem Zeitpunkt, da mir ansonsten nicht einmal mehr das Nikotin beistehen würde.

Der Kontakt zu meiner Mutter war eher sporadisch gewesen. Von einem Moment auf den nächsten war ich für keine Nachfolgetournee in Frage gekommen, die europäische Musicalindustrie lag in Trümmern, glaubte man den Musikagenturen. Zwischen Mutter und mir blieb am Telefon nichts, auch nicht ihr halbstundenlanges Schelten, ich hätte meine Jugend, ihr Geld für meine musikalische Ausbildung, ja, mein Leben vergeudet, und sollte jetzt wenigstens nicht werden wie mein Vater. Und auf Nachwuchs spekulieren könne sie wohl auch nicht mehr, meine Ines und ich, wir sollten die Welt ruhig dem Rucola und den Ameisen überlassen, Kinder seien heute wohl einfach nicht mehr in Mode.

All dies war einmal, war das Verbindende, das unsere Telefonate wie von selbst bestritten hatte.
Jetzt, nachdem wir Begrüßungsworte ausgetauscht und uns wechselseitig über unsere Gesundheit, das Deutschland- und Österreichwetter informiert hatten, schwiegen wir. Einen Vierteleuro lang schwiegen wir. Dann sagte sie: "Kippelst du wieder mit dem Stuhl?"
"Nein."
"Ich hör doch, wie er knarzt."
Ich atmete aus, stellte die vorderen Stuhlbeine unendlich leise auf dem Boden ab.
"Wirklich nicht?"
"Aber nein."
"Du sollst nicht mit dem Stuhl kippeln. Du schlägst dir noch den Schädel ein."
Noch ein Vierteleuro verschwand in der Stille. Schließlich sagte ich:
"Mutter, ich leg jetzt auf."
"Ja", antwortete sie, "das tu."
Dann legte sie vor mir auf.
Ines wollte mich nicht allein lassen mit einer toten Mutter, mit dem Nachlaß einer toten Mutter, mit dem Nachlaß einer toten Mutter in meinem Kopf, bevor sie, Ines, mich allein ließ. Ich hatte ernsthaft damit gerechnet, mich an ihrer Brust ausweinen zu können, eine sanfte, eine stille Reinigung zu erfahren, die sich einigend auf unsere Beziehung auswirken würde. Doch in den drei Tagen, in denen wir uns auf Mutters Nachlaß warfen, waren wir weiter voneinander entfernt denn je. Meine Frau leistete die Hauptarbeit, sie suchte, alles Unangenehme, alles, was nach Problemen aussah, von mir fernzuhalten. Sie entmüllte die Wohnung meiner Mutter, die kurz vor der Verwahrlosung gestanden hatte. Sie sortierte, ordnete, gab den Entrümplern Anweisungen, sie bestach die Friedhofsgärtner wegen der Grabpflege, sie sprach mit dem greisenhaften Notar, der nur zu vermelden hatte, daß von meinem Erbe nichts geblieben sei, Mutter lebte ein kostspieliges Leben, das dem ersten Anschein trotzte. Ines rückte mir in all dem übriggebliebenen Kindheitsplunder näher als mir je ein Mensch gekommen war. Und das trieb sie endgültig fort von mir. Diese Nähe schien an ihr, an uns zu kleben. Ines fürchtete, floh meine Berührung, sie versagte sich mir. Vielleicht, weil ich noch immer ein Teil dieser Mutter war, deren schmutzige Inkontinenzeinlagen sie aus der verstopften Toilette zog, und immer ein Teil von ihr bleiben würde, das wäre, was überhaupt von dieser Mutter bleiben würde.

 Martin von Arndt (Foto ORF/Johannes Puch)

Während dieser Zeit schliefen wir in einem Instanthotel. Ines hatte darauf gedrängt, sie wollte wenigstens die Nächte nicht in Mutters Wohnung verbringen. Am Abend vor unserer Abreise war sie noch schweigsamer. Alles war geregelt. Endgültig. Wir würden nur den Gummibaum mitnehmen, der ihr leid tat. Sie kam aus der Dusche, warf sich mit nassen Haaren, die sie sich mittlerweile auf Schulterlänge hatte wachsen lassen, auf das Bett und rieb sich die Schläfen. Sie schien Kopfschmerzen zu bekommen. Mit ihrer dunklen, heiseren Stimme, die mich von Beginn unserer Beziehung an bezaubert hatte, stöhnte Ines:
"Geh mir doch bitte ein Wasser holen, Jo."
Das Kreisen der Finger an ihrer Schläfe wurde nachdrücklicher, ich eilte die Treppen hinab. Ich wollte Ines das beste Wasser holen, das sie je getrunken hatte. Ein Wasser, das ihr nicht nur die Kopfschmerzen nähme, nein, eines, das meine Wertschätzung für die Anstrengungen der letzten Tage enthielte, eines, das diese Tage komplett vergessen machte, das unsere Beziehung auf eine völlig neue Basis stellte.
Der Getränkeautomat stand verwaist im halbdunklen Eingangsbereich. Ich warf eine Münze ein, eine LED zeigte den aktuellen Kontostand an: +01,00 €. Daneben warnte ein Aufkleber davor, leere Fächer anzuwählen. Ich suchte die Nummer meines Getränks aus, es gab überhaupt nur noch Wasser, in vier aufeinanderfolgenden Fächern, die übrigen Hotelbesucher schienen sich mit Bier am Leben zu halten. Vorsichtig überprüfte ich die Nummer und wählte aus. Nichts geschah. Dann bewegte sich eines der Fächer müde, quietschte wie zur Versicherung, daß sich überhaupt etwas tat, doch die Flasche fiel nicht, das Entnahmefach blieb leer. Für einen Moment flimmerte die Zahl, die die LED anzeigte, -01,00 € leuchtete auf, dann sprang sie zurück auf 00,00. Ich stand da, hatte kein Kleingeld mehr. Wieder einmal alles falsch gemacht, dachte ich, als ich nach oben schlich.
›Gekauft wie gesehen‹, schien ihr Blick sagen zu wollen. Ines hatte sich längst mit Leitungswasser beholfen.
Auf der Rückfahrt nach Innsbruck saßen wir im Speisewagen, der Zug war überfüllt, ich hatte vergessen, Platzkarten zu reservieren. Bald beobachtete Ines mein Gesicht in der Fensterscheibe (ich tat, als bemerkte ich es nicht), bald senkte sie den Kopf, schüttelte ihn sachte einmal nach hier, einmal nach dort. Ihre Finger zeichneten im verschütteten Kaffee auf der Tischoberfläche. Punkt Punkt Komma Strich, fertig ist das Mondgesicht, langer Käse, runde Butter, fertig ist die Schwiegermutter. Ich ahnte wohl, daß sie Mutter aus meinen Gesichtszügen ausradieren wollte, aber es gelang ihr nicht.

Zwei Trauermonate gestand sie mir zu.

Wer, begann ich mich zu fragen, würde so weit gehen, mir Monat für Monat ein leeres Einschreiben zu schicken? Und wozu? Waren diese Briefe nichts als ein schlechter Scherz?

Das leere Blatt hätte ich Ines wohl zugetraut, zumindest solange wir noch ein Paar waren. Es hätte zu ihren Vorwürfen gepaßt, die sie Morgen für Morgen aussprach, bevor sie zur Arbeit ging. Seit ich mal wieder keine Aufträge bekam, seit ich meine Zeit zuhause und nicht mehr im Studio verbrachte.

Daß sie nicht mit jemandem zusammensein könne, der so anspruchslos sein eigenes Leben verwalte und vor allem, was auch nur entfernt nach Karriere aussah, zurückschrecke. Daß sie keine Achtung vor jemandem haben könne, der ihr keine Achtung abfordere, weil er sich selbst keine Achtung entgegenbringe. Daß sie nicht wisse, wie es weitergehen werde.

Daß ich es doch wenigstens einmal versuchen solle.
Ich versuchte es. Ich nahm mir fest vor, es wenigstens einmal zu versuchen, damit Ines endlich wüßte, wie es weitergehen würde. Wenn ich auch kaum ahnte, was ich eigentlich versuchen könnte.

Martin von Arndt (Foto ORF/Johannes Puch)

Jede Geschichte einer Beziehung ist eine Geschichte von Beziehungskämpfen. Ich war Ines nach Innsbruck gefolgt, weil ich in ihrer Nähe sein wollte. Ein ehemaliger Studienfreund, der als Jugendlicher an Orchesterwettbewerben dort teilgenommen hatte, schwadronierte, Innsbruck sei eine Perle, nur daß noch keiner die dazugehörige Auster gefunden, geschweige denn geöffnet habe. Außerdem gebe es auffallend viele Logopädiepraxen, die regionale Mundart sei vielleicht auf Krankenschein zu behandeln.

Warum nicht? dachte ich. Ich könnte mit Ines nach Innsbruck ziehen und es wenigstens einmal versuchen.

So kam ich zu einem Musicalzirkus, der mich auf Tournee durch halb Europa schickte. Ich spielte im Halbdunkel des Bühnenhintergrundes naive Melodien. Es fühlte sich an, als würde man mich allabendlich die korrekte Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet abhören und mir dafür auch noch begeistert applaudieren.

Ich hatte einen Job, der mir Monat für Monat vierstellige Zahlen auf das von Ines sachkundig geprüfte Girokonto spülte. Was ich noch immer nicht hatte, war die Befriedigung über das Gefühl, ›es‹ versucht zu haben, ›es‹ gefunden zu haben.

Doch liebte ich es, wenn ich in den frühen Morgenstunden zurückkam, hoffnungslos übernächtigt, nach wochenlangem Aufenthalt in einem Nightliner riechend, mich ungeduscht neben Ines auf das Bett streckte und den Sonnenstrahlen hinterherwitterte, die sich untertags im blonden Flaum auf ihren Armen verfangen hatten. Den Sonnenstrahlen und dem Kakaogeruch. Ines war verrückt nach Schokolade. Von jeder Tour brachte ich ihr eine süße Spezialität mit. Sie aß sie, wie andere Wein trinken, oder eben nicht, denn guter Wein wird gekaut, sie jedoch zerkrümelte die Schokolade und ließ die Bruchstücke in ihrem Mund schmelzen. Sie trank sie regelrecht. Ich erinnere mich, daß die Flüssigkeit, die ich ihr anderntags zwischen Schambein und Oberschenkel von der Haut leckte und in mich aufnahm, stets ein wenig nach Noisette schmeckte. Nach dem Sex legte Ines ein Bein über mich, schlang es um mich, wie um mich zu decken, zu betten, zu bergen, zu schützen vor der Welt da draußen, die mich in wenigen Tagen schon wieder um ihre Gegenwart brächte. Ich hatte ihr nie erzählt, daß ich als Kind stets vollständig in meine Decken eingehüllt lag, daß kein Lufthauch darunter kam. Weniger wegen der Kälte, sondern um die Geborgenheit und Beschirmtheit von allen Seiten zu spüren. Ines schien darum zu wissen, sie schien um so vieles zu wissen, wovon ich ihr nie erzählt hatte. Das war einer der Gründe, weshalb ich Ines geheiratet habe.

Ines war die erste Frau in meinem Leben, die mich nicht nach meinem Vater beurteilt hat. In unserem niedersächsischen Dorf wußte jeder davon: Ich war der Sohn des Selbstmörders. Jeder wußte etwas, aber niemand wußte Genaueres. Ein Zustand, den kleine Mädchen nur schwer ertragen.

Mein Vater ging eines Abends in den Wald und kam nicht mehr zurück. Man fand ihn am nächsten Morgen neben dem Vereinshaus der Sportschützen. Er hatte sich mit seinem Jagdgewehr in den Kopf geschossen. Ein aufgesetzter Schuß, zwei Tage lang war man damit beschäftigt, Blut und Hirnmasse von der Hauswand zu kratzen und sie neu zu streichen. Mein Vater hatte sich erschossen, obwohl oder weil er ein erfolgreicher Ingenieur war. Keine Schulden, keine Schuld. Und Mutter behauptete: auch keine Depressionen. Es gab keinen Grund, sich in der Lebensmitte, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, zu erschießen. Ein wunderbar erklärungsbedürftiger Tod. Nichts konnte einen sechzehnjährigen Jungen mit blutig gekratzten Händen, der wegen seiner schlaffen Magerkeit, die an Armen und Schultern spitze Knochen hervortreten ließ, von einer ans Monströse grenzenden Unsportlichkeit war, plötzlich interessanter machen für die Mädchen seiner Altersstufe.
Abendspaziergänge führten meine Klassenkameradinnen und mich in schöner Regelmäßigkeit in den Wald, wo sie, wenn sie des Schützenhauses ansichtig geworden waren, die Augen zu mir erhoben und ihre Frage lispelten: "Du, weshalb hat dein Vater das getan?"
Hätte ich es gewußt, ich hätte es wirklich gern gesagt, schon allein, um diesen leidigen Punkt zwischen uns geklärt und den Mund für Reizvolleres freigeschwatzt zu haben. Aber ich wußte es nicht. Und meine angehenden Freundinnen wollten ihre Küsse nicht ohne Gegenleistung erbringen.

Ines war anders. Sie war siebzehn, großgewachsen, und, im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen, schon eine Frau, mit straffen, steil aufragenden Brüsten. Ihre Haut war dunkelbronzen, sie besaß ein klassisch römisches Profil mit hohem Schwung der Augenbrauen, trug einen burschikosen Schnitt und färbte ihr Haar tiefschwarz. Sie wollte nicht in den Wald, hörte sich meine Geschichte an, die ich ihr von mir aus erzählte, streichelte meine Hände, sie zuckte mit den Schultern und führte ihre Lippen an meine, um mich in die Unterlippe zu beißen. Dann küßte sie mich grinsend. Als Gegenleistung mußte ich ihr lediglich versprechen, niemals ein Gewehr in die Hand zu nehmen.

Ich verweigerte den Kriegsdienst.

Und begann ein Gitarrenstudium.

Im Alter von sieben Jahren hatte mir mein Vater eine Wandergitarre geschenkt. Er selbst war in einer vollkommen heiteren Weise unmusikalisch, jede Äußerung meiner Fähigkeiten, die ich nach und nach auf diesem Instrument erwarb, bestaunte und bewunderte er wie die Leistungen eines frühreifen mathematischen Genies. Es blieb etwas jenseits seiner eigenen Vorstellungskraft. Ich spielte gern, machte aber nur wenig echte Fortschritte. Erst nach Vaters Tod stürzte ich mich auf den Unterricht. Wenn ich spielte, sei ich hundertprozentig bei mir und bei Vater, behauptete meine Mutter. Das war nicht ganz richtig. Wenn ich spielte, sah man wenigstens meine blutig gekratzten Hände nicht mehr. Oder man sah sie nicht an. Man achtete auf mein Gesicht, nicht auf meine Bewegungen. Ich sah mir elegische Mienen von den großen Jazzgitarristen ab. Und unweigerlich nicht nur die Mienen.

Mutter war gerührt und hätte mir alles finanziert, was mich davon abhielt, zu werden wie mein Vater. Und Ines, mit der ich bereits seit über drei Jahren ging, sah eine glänzende Karriere vor mir liegen. Sie war verrückt nach meinen Musikerfingern, sie liebkoste sie, nahm sie nach dem Spiel in den Mund (sie schmeckten nach Metall, die E-, die A- und die D-Saite hatte ihnen ihr Aroma verabreicht), und sie wollte, daß ich sie von Hand befriedigte. Ich träumte von meinen Fingern in Ines' Mund, von meinen Fingern zwischen ihren Schenkeln. Von einer Karriere träumte ich nie. Karriere, das war für mich ein Knall in der Nacht, den niemand gehört hatte, und Blutspritzer an einer Wand, die so rasch wie möglich geweißt werden mußte, was sollten die Schützenbrüder denken?!

 Martin von Arndt (Foto ORF/Johannes Puch)

Ich absolvierte mein Studium ohne Zwischenfälle, ich durfte Ines und meine Mutter nicht enttäuschen. Die Gitarre war ein freundliches Haustier, das mir wenig abverlangte.

Doch schon kurze Zeit nach unserer Hochzeit hatte Ines damit aufgehört, das Instrument als sexuelles Stimulans zwischen uns zu benutzen. Wenn sie vom Brötchenholen nach Hause kam und mich mit der Gitarre in der Hand antraf, suchte sie meinem Blick auszuweichen und sortierte schweigend den Einkauf auf dem Küchentisch. Ich hatte ihr angeboten, für einige Jahre den Hausmann zu spielen, aber sie verlangte mehr von mir. Mehr Initiative. Sie wollte nicht immer alle Entscheidungen allein treffen, weil aus mir nichts Eigenes, nichts Eigentliches herauszubekommen sei.
Ines nahm die Kaffeekanne von der Maschine, um uns einzuschenken.

Den Frühstückstisch hatte ich gedeckt, wie immer. Ich wollte ihr signalisieren, daß ich gern mit ihr früher als nötig aufstehe. Sie schmierte fettarmen Frischkäse auf eine Brötchenhälfte.
"Du wolltest immer nur deine Kindheit zurück. Und ich will endlich erwachsen werden."
"Wie bitte?"
Ich setzte die Kaffeetasse ab. Mein Blick fiel auf zwei Stück Würfelzucker neben meinem Teller.
"Welchen Teil hast du nicht verstanden?"
"Wieso sollte ich meine Kindheit zurück haben wollen?"
"Vielleicht weil dein Vater sie dir genommen hat?!"
"Mein Vater hat sich umgebracht, als ich sechzehn war. Bißchen spät für die Kindheit."
"Und wie würdest du ihn dann nennen, deinen Versuch, für dein eigenes Leben keine Verantwortung übernehmen zu müssen?"
Ich stutzte. Ich sagte: "Rock'n Roll?"
"Oh Gott, Jo...!"
Ines verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf sachte einmal nach hier, einmal nach dort.
"Genau das meinte ich."
Ines war mit dem zweiten Brötchen fertig und spülte mit Kaffee nach.
"Ich habe das Gefühl, du gibst dir überhaupt keine Mühe mehr", sprach sie in die Kaffeetasse hinein, sie orakelte, ich wußte beim besten Willen nicht, was sie darin gelesen haben mochte.
"Natürlich geb ich mir Mühe, natürlich ist das Mühe -"
"Also kostet es dich Mühe, mit mir zusammen zu leben?!"
"Mich?"
"Ja, dich."
"Ich glaube eher, du hast Mühe mit mir."
"Das ist einfach."
"Was?"
"Den Spieß umzudrehen. Du machst es dir einfach."
"So war das nicht gemeint, ich -"
"Weich jetzt nicht wieder aus, steh endlich mal zu deiner Meinung."
"Ich weich doch gar nicht aus, ich -"
"Ja?"
"Scheiße, ich hab den Faden verloren."
"Ich muß jetzt los."
"Du mußt jetzt los."
Sie mußte tatsächlich los.
Was wir erhoffen und was wir bekommen - zwei Paar Stiefel, beide drücken. Das mochte Ines gedacht haben, als ihr der Ekel ins Gesicht geschrieben stand, wenn sie mir einen Abschiedsblick zuwarf, während ich mit dem Messer, mit dem ich zuvor Butter aufs Brot verteilt hatte, in meinem Kaffee rührte, um keinen Löffel zusätzlich schmutzig zu machen oder mir einfach den Weg zum Besteckkasten zu sparen.
Ich war Ines nach Innsbruck gefolgt, weil ich in ihrer Nähe bleiben wollte. Und weil es nicht so enden durfte.

Ines kündigte ihren letzten Besuch nicht an, ich hatte keine Zeit, meine Wohnung von unseren Erinnerungen zu befreien. Sie schüttelte den Kopf einmal nach hier, einmal nach dort.
"Wie lang soll das denn noch gehen?" fragte sie, während sie Kaffee kochte. Sie kannte sich aus in meiner Küche. Sie hatte noch immer alle Rechte darin.
"Keine Ahnung", log ich, "keine Ahnung, wovon du sprichst."

"Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche. Wenn du mich wenigstens nicht vergessen wolltest, das wäre ja immerhin schmeichelhaft. Aber du kannst mich einfach nicht vergessen. Das ist wieder so was Unwillkürliches. Da steckt auch kein bißchen Eigenwillen drin."
Ich betrachtete sie von der Seite. Ihre Wangen schienen weicher, das Jochbein drückte sich weniger deutlich ab. Ines war fülliger geworden. Die Kaffeemaschine röchelte, Ines stellte eine volle Tasse vor mich auf den Tisch. Sie hielt den Würfelzucker griffbereit. Wir kannten uns jetzt fast 25 Jahre. Sie wußte noch immer nicht, wie ich meinen Kaffee nehme (weiß, ohne Zucker, bei ihrem neuen Freund, einem erfolgreichen Juwelier, merkte sie es sich bestimmt schon nach dem ersten Treffen.) Ich trank einen großen Schluck (schwarz, ohne Milch, ohne Zucker), nahm mir eine von ihren Zigaretten und zündete sie umständlich an.
"Du rauchst wieder?" fragte sie.
"Ja."
"Seit wann?"
"Seit eben."
Ines verzog die Lippen zu einem kleinen Oval und rümpfte die Nase. Dabei hatte ich nicht einmal gelogen. Ich rauchte jetzt nur, um meine Hände freizubekommen. Freizubekommen von ihrem Blick, um ihn nicht länger auf meinen Knöcheln zu spüren.
Ich beschloß, sie auf die Probe zu stellen, indem ich sie ins Vertrauen zog. Ich erzählte Ines von meinen Briefen. Sie gähnte und strich sich eine blondierte Haarsträhne aus der Stirn, die sich wie immer in ihrem (unserem?) Ring verfing.

"Ist das überhaupt ein - ›Brief‹?" fragte Ines, nahm sich eine Zigarette und schnippte mir mit einer raschen Bewegung des Zeigefingers über den Küchentisch hinweg die Schachtel zu.
Ich war gekränkt, schnippte die Schachtel zurück. Ines spürte meine Stimmung und lenkte mit ruhigerer Stimme ein: "Ist das ein Brief, wenn nichts drin steht, Jo? Glaubst du wirklich, daß das ein Brief ist?"
Ich wollte nicht diskutieren. Aber wir diskutierten. Nach anderthalb Stunden beharrlichem Hinundher, in dem sie mir unter anderem empfahl, mich damit lieber an die Polizei zu wenden, schloß Ines, während sie auf die Armbanduhr sah, lapidar mit den Worten:
"Verweigere die Annahme."
Ich nickte, blickte ebenfalls auf ihre Uhr und sagte: "Du mußt los."

Unsere Zusammenkunft hatte mich erschöpft. Zumal sie mir zeigte, daß Ines nichts verstanden hatte. Verweigere die Annahme - was für ein Unsinn! Als ob sich dadurch irgendetwas ändern würde. Das wäre, wie einem Ertrinkenden zuzurufen: "Frische die Glieder, mein Freund, und schwimme!"

Ich wußte, daß ich wieder mit dem Rauchen beginnen würde, daß Ines nicht aufhören würde, mich zu mögen, ohne mich je wieder zu lieben, und daß sie ergo eher zu einer mondänen Juweliersgattin mutierte, als mir diese Einschreiben zu schicken.

Beim kameradschaftlichen Verabschiedungskuß erzählte sie mir, daß ihr Freund schon wieder eine neue Filiale eröffnete, diesmal in Bregenz. Ich dachte daran, daß das letzte Einschreiben den Poststempel von Bregenz getragen hatte.
Zwei Tage darauf war der erste Mittwoch im Monat.
 

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