Alina Bronsky, Frankfurt (D)

Alina Bronsky wurde 1978 in Jekaterinburg (Russland) geboren und lebt in Frankfurt. Bronsky wurde zum Bewerb von Ijoma Alexander Mangold vorgeschlagen.


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Videoporträt

 

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Alina Bronsky

Aus dem Roman „Scherbenpark"


Manchmal denke ich, ich bin die einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich habe schon einen Titel: „Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte." Vielleicht ist das auch nur ein Untertitel. Ich habe Zeit, es mir genau zu überlegen, denn ich habe noch nicht angefangen zu schreiben.
Die meisten Leute, die bei uns im Viertel wohnen, haben gar keine Träume. Ich habe extra gefragt. Und die Träume der wenigen, die welche haben, sind so kläglich, dass ich an deren Stelle lieber gar keine hätte.

Annas Traum zum Beispiel ist, reich zu heiraten. Er soll Richter sein und Mitte dreißig und, wenn es geht, nicht ganz so hässlich.

Anna ist siebzehn, genau wie ich, und sie sagt, sie würde so einen sofort heiraten, wenn er käme. Dann könnte sie endlich aus dem Solitär aus- und in das Penthouse des Richters einziehen. Keiner außer mir weiß, dass Anna manchmal mit der Straßenbahn in die Innenstadt fährt und dreizehn Runden um das Landgericht dreht, in der Erwartung, dass der Richter endlich rauskommt, sie entdeckt, ihr eine rote Rose schenkt, sie erst zum Eis und dann in seine Penthouse-Wohnung einlädt.

Sie sagt, man muss für sein Glück kämpfen, sonst zieht es an einem vorbei.

„Weißt du denn, was Solitär eigentlich heißt, du dumme Kuh," frage ich. „Das ist ein besonders edler Diamant, der einzeln in der Krone sitzt. Du wirst nie wieder in einem Solitär wohnen, wenn du hier ausziehst."

„Das hast du dir gerade ausgedacht. Sie hätten nie im Leben diesen Betonklotz nach einem Diamanten benannt", sagt Anna. „Und überhaupt, wenn man zu viel weiß, wird man schnell alt und runzlig." Das ist ein russisches Sprichwort.
 

Alina Bronsky (Foto ORF/Johannes Puch)

 
Da Annas Richter auf sich warten lässt, schläft sie gerade mit Valentin, der auch so einen Traum der Kategorie C hat. Er will einen nagelneuen schneeweißen Mercedes. Vorher muss er seinen Führerschein machen, deswegen trägt er vor der Schule Anzeigenblättchen aus. Dabei hat er meistens einen Gesichtsausdruck, als hätte ihm jemand einen Kaktus in die Hose gesteckt.

Peter aus dem fünften Stock dagegen träumt von einer echten Blondine mit dunklen Augen. Er war vorher mit Anna zusammen, sie hat braune Augen, ist aber nicht echt - jedenfalls nicht als Blondine. An mir war er noch nie interessiert. Mein Haar ist zu dunkel.

Ich heiße Sascha Naimann. Ich bin kein Kerl, auch wenn es hierzulande jeder denkt, der meinen Namen hört. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich das den Leuten schon erklärt habe. Sascha ist eine Kurzform von Alexander UND von Alexandra. Ich bin Alexandra. Mein Rufname ist Sascha, so hat mich meine Mutter immer genannt, und so will ich auch heißen. Wenn ich mit Alexandra angesprochen werde, reagiere ich nicht.

Manchmal denke ich, dass ich nie wieder neue Menschen kennen lernen will, weil ich es satt habe, jedem das Gleiche von vorn zu erklären. Warum ich Sascha heiße. Wie lange ich schon in Deutschland lebe. Wie ich es in so kurzer Zeit geschafft habe, meinen Moskauer Akzent gegen das Hochdeutsch einzutauschen, in dem ich nun erbittert die hessischen Zischlaute bekämpfe, die ich zu Beginn meines Aufenthalts von den Türken aus dem Nachbarblock übernommen habe.

Ich hab mir alles selber beigebracht, könnte ich antworten. Wenn ich antworten wollte. Schließlich ist mein Kopf voll mit grauer Substanz, die wie eine Walnuss aussieht und makroskopisch viele Windungen hat, mikroskopisch dagegen eine stolze Menge Synapsen. Ich habe vielleicht ein paar Millionen Synapsen mehr als Anna, bestimmt sogar. Wenn ich mal eine Zwei bekomme, kommt der Lehrer zu mir und entschuldigt sich.

Meine Mutter hatte darüber gelacht und gesagt, dass ich ihr unheimlich bin. Ich war ihr schon immer unheimlich, weil ich logischer dachte als sie. Sie war zwar auch nicht dumm, aber viel zu gefühlvoll. Sie hat mindestens ein dickes Buch pro Woche gelesen, spielte Klavier und Gitarre und kannte eine Million Lieder.

Aber eins und eins zusammenzählen, das konnte sie nie. Oder erkennen, wann es Zeit ist, einen Mann vor die Tür zu setzen. Das sind alles Fähigkeiten, die ich offenbar von meinem Vater habe. Ich weiß von ihm nur, dass er mehrere Doktortitel hatte und einen miesen Charakter. „Den hast du auch schon", hat meine Mutter gesagt. „Und die Titel werden bestimmt nachkommen."

Ich bin die einzige aus unserem Viertel, die auf die Alfred-Delp-Schule geht. Das ist ein privates katholisches Gymnasium, und ich weiß bis heute nicht, warum die mich damals genommen haben - noch weitgehend sprachlos, nicht getauft, im pink leuchtenden, von meiner farbenblinden Oma gestrickten Wollpullover. Da war die Zeit der pinkfarbenen Pullover noch lange nicht gekommen. An der Hand einer Mutter, die damals nur ihr blumiges Englisch mit einem furchtbaren Akzent sprach, dafür sehr laut, und ihre flammend roten Haare offen trug. Und in der Hand ein Liter Milch in der Aldi-Plastiktüte.

Außer meiner Mutter hatten noch hunderte deutsch-katholische Architekten, Ärzte und Anwälte ihre Kinder angemeldet. Alles Leute, auf deren Stirn mit großen Buchstaben „Spende gern und großzügig" geschrieben stand.

Ich weiß inzwischen, dass meine Aufnahme für meine Schule ein Projekt war: ein bisschen Integration und ganz viel Imagepflege. All die Ärzte, Anwälte und Architekten haben nämlich für ihre Kinder Absagen bekommen. Meine Mitschüler haben mich am ersten Tag angestarrt, als wäre ich gerade aus einem Ufo geklettert. Da die meisten von ihnen noch nie richtige Ausländer aus der Nähe gesehen hatten, waren sie alle nett zu mir.

Meine Mutter sagte, ich sollte meine Schulfreunde doch mal zu uns nach Hause einladen. Das sagte sie, weil sie keine Ahnung hatte. Sie lud ständig Freunde ein. Ich aber war bereits bei zwei Mädchen aus meiner Klasse zu Hause gewesen und konnte mir eine Umkehrung der Situation beim besten Willen nicht vorstellen.

Keine Ahnung, was mich damals mehr erschüttert hatte: Die Ordnung im Zimmer meiner Klassenkameradin Melanie oder die Möbel, von denen ich früher gedacht hatte, dass sie nur im Katalog oder in Annas Fantasien vorkommen, oder die Bettwäsche mit Pferden. Ich hatte nie zuvor bunte Bettwäsche gesehen. Bei uns zu Hause gab es nur weiße oder hellblau gemusterte, auf jeden Fall uralt und verwaschen. Ich fragte mich, wie man auf und unter diesen Pferden einschlafen kann, ohne Augenflimmern zu bekommen.

Meine Klassenkameradin Melanie hatte rosige Wangen, roch nach Seife und trug eine gebügelte Jeansjacke. Ihre Mama schaute mich beim Mittagessen mitleidig von der Seite an und stellte mir Fragen über meine Heimatstadt, das Wetter in Moskau, meine alte Schule und meine Mutter.

Ich erzählte, dass meine Mutter Kunstgeschichte studiert hatte und in Moskau in einer Theatergruppe aufgetreten war, die immer wieder verboten wurde, und dass sie sich hier auch ein kleines Theater zum Mitspielen suchen wollte. Melanies Mutter schluckte und ging zu der Frage über, ob das Leben in unserem Hochhaus nicht zu gefährlich sei. Ich sagte, dass es viel sauberer und gemütlicher ist als das Haus, in dem ich drüben gewohnt hatte. Zu Russland sagte ich immer „drüben".

Melanie kaute dazu stumm an ihren Quarktaschen.
 

Alina Bronsky (Foto ORF/Johannes Puch)

 
Nach dem Essen gingen wir wieder auf ihr aufgeräumtes Zimmer. Dort schaltete Melanie ihre Stereoanlage ein. Ich entdeckte daneben einen Stapel alter „Bravos" und begann zu lesen. Melanie drehte sich unterdessen auf ihrem Bürostuhl und telefonierte mit einer Freundin. Dafür, dass wir uns nichts zu sagen hatten, fand ich die Zeit gut verbracht. Abends fuhr mich Melanies Mutter nach Hause, sah sich aufgeregt um und bestand darauf, mich zur Wohnungstür zu bringen und eine Übergabe an meine Mutter durchzuführen.

Meine Mutter war allerdings nicht zu Hause. Ich hatte einen Schlüssel.

„Besuch uns mal wieder", sagte Melanies Mutter und tätschelte meine Wange.

„Gut", sagte ich und dachte mir: Nur, wenn es neue „Bravos" gibt.

Danach sah ich unsere Wohnung mit anderen Augen.

Unsere Sperrmüll-Couch mit dem kleinen Tisch davor, dessen drittes Bein abbricht, wenn man es schief anguckt. Den kleinen Fernseher und den Stapel Videokassetten davor. Schon damals hatte kein Mensch mehr Videokassetten! Den Schrank ohne Tür. Die Socken meines Stiefvaters auf der Heizung. Die Strumpfhose meines Bruders über dem Stuhl. Unsere fünf Stühle kamen vom Sperrmüll, unser Geschirr vom Flohmarkt.

Unser Küchentisch stand voll mit Marmeladengläsern, Briefen, Postkarten, angebrochenen Flaschen und alten Zeitungen. Wir besaßen damals noch keine Spülmaschine, und meist türmten sich alle unsere Teller in der Spüle, bis meine Mutter abends heimkam und aufräumte. Manchmal tat ich das, aber eher selten. Vor allem dann nicht, wenn Vadim mich dazu aufforderte. Nur wenn er den Namen meiner Mutter drohend in seinen dreckigen Mund nahm, räumte ich ganz schnell auf.

Ich hasse Männer.

Anna sagt, dass es auch gute Männer gibt. Nette, freundliche, die kochen und saubermachen und Geld verdienen und Kinder wollen und Geschenke machen und einen Flug auf die Kanaren buchen und saubere Kleidung tragen und nicht saufen und vielleicht sogar gut aussehen. Wo gibt es die, frage ich da, auf dem Mond? Anna behauptet, dass es solche Männer gibt, wenn nicht in unserer Stadt, dann vielleicht in Frankfurt. Aber sie selber kennt persönlich auch keinen, höchstens aus dem Fernsehen.

Deswegen wiederhole ich gern das, was meine Mutter immer gesagt hat: Ich bin mir selber ein Mann.

Wobei sie das zwar gesagt, sich aber nie dran gehalten hat.

Seit ich weiß, dass ich Vadim umbringen werde, geht es mir viel besser. Ich habe es auch meinem kleinen Bruder Anton versprochen, der neun Jahre alt ist. Ich glaube, seitdem geht es ihm auch besser. Als ich ihm davon erzählt habe, hat er die Augen aufgerissen und atemlos gefragt: „Und wie willst du das machen?"

Ich habe so getan, als hätte ich alles im Griff. „Es gibt tausend Möglichkeiten", habe ich gesagt. „Ich kann ihn vergiften, erwürgen, erdrosseln, erstechen, vom Balkon werfen, mit einem Auto überfahren."

„Du hast doch kein Auto", sagte mein Bruder Anton, und natürlich hatte er Recht.

„Ich komme im Moment auch nicht an den Vadim ran", sagte ich. „Du weißt doch, er sitzt im Gefängnis. Er bleibt noch viele Jahre drin."

„Dann dauert es noch so lange?" fragte Anton.

„Schon", sagte ich. „Aber das ist auch gut so. Ich kann mich besser vorbereiten. Weißt du, es ist gar nicht so einfach, jemanden umzubringen, wenn man es noch nie gemacht hat."

„Beim nächsten Mal geht es bestimmt besser", sagte Anton fachmännisch.

„Ich will erstmal dieses eine Mal über die Bühne bringen", sagte ich. „Es soll kein Hobby werden."

Ich war erleichtert, dass Anton die Idee gut findet. Schließlich ist Vadim sein Vater. Aber der Kleine hasst ihn genauso wie ich. Wenn nicht noch mehr. Seine Nerven waren bereits vorher im Eimer, weil er im Gegensatz zu mir schon immer Angst vor Vadim hatte.

Jetzt ist Anton immer noch völlig fertig, und es wird nicht besser, und ich frage mich, ob diese ganzen Therapien auch was bringen. Anton stottert, kann in der Schule nicht still sitzen, pisst nachts ins Bett und beginnt zu zittern, wenn jemand mal etwas lauter wird. Dabei behauptet er, dass er sich an nichts erinnern kann. Ich sage dann immer: Sei froh. Ich bin auch froh, dass ich mich an nichts erinnern kann, obwohl ich dabei war.

Über meinen ersten Traum kann ich mit Anton reden. Über den anderen nicht. Denn immer, wenn jemand in seiner Gegenwart das Wort „Mama" ausspricht, erstarrt Anton und ist erstmal nicht ansprechbar. Andere Kinder aus dem Solitär finden es spannend, regelmäßig zu testen, ob diese Reaktion immer noch gilt.

Daher haue ich jedem Kind, das in Antons Gegenwart absichtlich das Wort „Mama" sagt, eine runter. Das ist das Wenigste, was ich für meinen Bruder tun kann. Außer, dass ich ihn nachts nicht verjage, wenn er heulend in mein Bett kommt, sich an mich drückt und irgendwann, wenn der Wecker klingelt, vor Schreck auf meine Beine pinkelt.

Früher wollte ich natürlich berühmt sein, wie jeder andere Mensch auch. Ich hatte auch nichts dagegen gehabt, eine prominente Mutter zu haben, über die jeder spricht. Als wir dann tatsächlich alle berühmt waren, hätte ich sie am liebsten erwürgt: Die Fotografen und die Kameramänner, die Männer und die Frauen mit Mikrofonen und kleinen Blöcken, die unseren Hauseingang filmten und bei unseren Nachbarn klingelten, um zu fragen, wie laut es denn nun war an jenem Abend. Wer hat geschrien, und wer hat geweint, und wer ist gerannt und hat Vadim tatsächlich gesagt: „Hier ist Blut, tritt da nicht rein"? Und auch: „Es ist vorbei, hau ab"?

Am Tag darauf war meine Mutter in allen Zeitungen. Ihr Vorname, der erste Buchstabe des Nachnamens, Geburtsjahr und ein Foto. Es war das Bild, das sie von ihrer Theatergruppe hatten, ein schönes Bild, die langen roten Haare, das Gesicht nicht ganz so bemalt wie sonst, der Pullover schwarz. In diesen Tagen wurde sie ein Star.

Schau, freust du dich jetzt, habe ich sie gefragt. Hatte ich dich nicht gewarnt? Warum hast du diesen Arsch geheiratet? Warum hast du ihn an diesem verdammten Abend in die Wohnung gelassen? Du bist schon immer eine unwahrscheinlich dumme Frau gewesen, habe ich zu ihr gesagt. Wie konntest du mir das nur antun, so blöd gewesen zu sein?

Später habe ich mich bei ihr entschuldigt. Sie war eben, wie sie war, und sie konnte nichts dafür. Sie war von der Sorte, die heute nicht mehr hergestellt wird - von allem ein bisschen mehr und ein bisschen besser und ein bisschen feiner. Und das werde ich in meinem Buch schreiben, damit es jeder erfährt. Ich will nicht, dass sie nur berühmt wird, weil sie so elend gestorben ist.

Diese ganzen Zeitungsberichte habe ich von Anfang an gelesen. Ich bin immer zum Kiosk runter und habe alles gekauft, was es dort gab. Die ersten Tage waren wir nicht zu Hause, weil das Jugendamt uns in einer Wohnung untergebracht hatte, die der Stadt gehört. Aber nach zwei Tagen habe ich gesagt, dass wir das nicht aushalten. Die Wohnung war völlig frei von Staub und von Büchern und von Leben. Außerdem stand dort ein Gummibaum aus Plastik. Ich habe gesagt, die Kleinen wollen heim.

Wir durften nach Hause, wo alles schon komisch aufgeräumt war wie früher nie. Wir wurden rund um die Uhr betreut von mehreren kurzhaarigen Frauen, die alle gleich aussahen und Doppelnamen trugen, und von einem Mann mit langen Haaren und ebenfalls einem Doppelnamen.

Ich kann mich kaum an diese Tage erinnern. Ich weiß nur, dass ich fast ununterbrochen gesprochen und ihnen erklärt habe, wie unser Leben früher organisiert war und dass es jetzt genauso bleiben muss. Dass sie auf keinen Fall anderes Essen einkaufen sollten als das, welches wir gewohnt waren. Aber einmal stand Bio-Butter auf dem Tisch, und da habe ich einen Anfall bekommen.

Ich erinnere mich noch an den Blick, den mir eine der Frauen zuwarf, als ich schreiend auf den Boden fiel, direkt auf die zertretene Butter. In diesem Blick lag Erleichterung. Sie hatten mich tagelang vollgebrummt, ich bräuchte jetzt nicht zu funktionieren. Ich könnte meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Ich müsste es sogar.

Ich hatte ihnen aber nicht zugehört.

Und dann war Maria da. Cousine zweiten Grades, mit drei berstenden Koffern importiert aus Nowosibrisk. Eine Chance für die traumatisierten Kinder, wieder eine Familie zu werden.

Vadims Cousine übrigens.
   

Alina Bronsky (Foto ORF/Johannes Puch)

 

Ich hatte zugestimmt, dass sie kommt, denn nach der Erfahrung mit der städtischen Wohnung reagierte ich allergisch auf das Wort Heim, und es standen auch keine Pflegeeltern Schlange, die drei verstörte russischstämmige Bälger auf einmal aufnehmen wollten. Und schon gar nicht in die Wohnung ziehen, deren Tür abfotografiert wurde wie Heidi Klum.

Also Maria.

Maria ist Mitte dreißig, sieht aus wie fünfzig. Sie hat in Nowosibirsk in einer Fabrik-Kantine gearbeitet. Maria, das sind schwielige Hände groß wie Spaten, dafür mit blutrot lackierten Nägeln, kurze Haare, blondiert und dauergewellt, dicke Beine mit Krampfadern, die man aber unter Wollstrumpfhosen nicht sieht, ein Dutzend geblümte Kleider, ein Hintern so breit, dass darauf ein Hubschrauber landen könnte, süßliches Parfüm, von dem man niesen muss, rot angemalter großer Mund, dicke Backen, kleine Augen.

Liebe Augen. Überhaupt ist sie lieb, die Maria.

Alissa erlag ihr sofort, wie erschossen. Maria dies, Maria das, Mascha, meine, Ma-Ma-Ma-MAMA! Ich war deswegen nicht etwa sauer auf sie. Sie war einfach noch verdammt klein.

Sie hat Marias unermesslichen Schoß sofort besetzt. Ich glaube, sie wollte tagelang nicht runter, und Maria war sehr nervös, weil sie mit Alissa auf dem Schoß so schlecht kochen konnte. Als ob irgendjemand von uns essen wollte.

Sie hat gut gekocht, die Maria. Sie kocht immer noch gut. Viel besser als meine Mutter. Maria kann Borschtsch und andere komplizierte Suppen. In der Wohnung riecht es immer nach Essen. Sie kocht richtige Brühen, aus Huhn oder Rindfleisch, mit Gemüse und Bündeln von Grünzeug. Sie brät formvollendete Frikadellen und Pfannkuchen so dünn wie Spitze. Im russischen Supermarkt um die Ecke hat sie gezuckerte Kondensmilch entdeckt, eine zu Sowjetzeiten mehr als Kaviar begehrte Süßpampe, und da tunkt sie die zusammengelegten Pfannkuchen hinein. Sie legt Gurken ein und kocht Marmelade aus schwarzen Johannisbeeren.

In den Zeitungsartikeln war Maria „die einzige lebende Verwandte, die bereit war, sich um die drei zurückgebliebenen Geschwister zu kümmern."

Wir sind nicht „zurückgeblieben", habe ich da gemurmelt. Und Maria ist nicht gekommen, um uns ihr wertes Leben vor die Füße zu werfen. Wenn man in einer Kantine in Nowosibirsk arbeitet und plötzlich gefragt wird, ob man nach Deutschland kommt, um Suppe für ein paar Kinder zu kochen, dann ist es zwar ein bisschen weniger als ein halbes Königreich, aber viel mehr als ein Sechser im Lotto.

Zumal Maria nur irgendwann in ihrer Jugend verheiratet und schnell wieder geschieden war. Vielleicht auch zweimal. Kinder und Haustiere hat sie nicht, und so hat sie gedacht, dass sie nichts an ihre Einzimmerwohnung und ihre Kantine bindet. Das hat sich inzwischen als falsch herausgestellt, und das hätte ich ihr auch gleich sagen können. Denn in Nowosibirsk fand sie immer Zuhörer für ihre Ansichten, die sie mit Berichten aus ihrem verkorksten Leben untermauerte. Hier dagegen will sich niemand dafür interessieren. Also ist sie meist zum Stummsein verdammt.

Maria kann nach fast zwei Jahren ungefähr zwanzig deutsche Wörter, solche wie Bus, Kartoffel, Butter, Müll, kochen, waschen, fick dich (für die schwarzgelockten Heranwachsenden, die ihr manchmal auf der Straße hinterher pfeifen und beängstigende Gesten machen). Diese Vokabeln gruppiert sie gelegentlich zu Sätzen. Meistens geht das schief.

Wenn sie nicht gerade im russischen Supermarkt einkauft, muss sie mit dem Finger zeigen und die Zahlen aufschreiben. Zu diesem Zweck trägt sie immer einen Notizblock bei sich. Nach jedem Einkauf beim Aldi ist sie schweißgebadet. Wenn sie auf der Straße angesprochen wird, wimmert sie und kriegt rote Flecken im Gesicht. Den Satz „Ich spreche nur Russisch" habe ich zwei Wochen mit ihr geübt. Den trägt sie auf einem Papierchen in ihrem Portemonnaie, transkribiert in kyrillische Buchstaben.
 

Alina Bronsky (Foto ORF/Johannes Puch)

  
Kommen die Doppelnamen vom Jugendamt zu Besuch, so gerät Maria jedes Mal in Panik, und ich muss sie vorher und hinterher lange trösten, dass sie ihre Sache gut macht und nicht zurück an ihre Kantinentöpfe muss.

Denn, so kreuzunglücklich sie sich im Solitär fühlt, zurück nach Nowosibirsk will sie auf keinen Fall, jedenfalls jetzt noch nicht. Sie träumt zwar davon, irgendwann zurückzukehren, später, mit einer Taille, dezent geschminkt, mit einem Koffer voller schicker Klamotten und idealerweise untergehakt bei einem Deutschen mit akkuratem Schnurrbart. Nett und reich soll er sein und vor allem Russisch können, denn dieses Deutsch, sagt Maria, ist schlimmer als Chinesisch, das ich gerade in einer schulischen Arbeitsgemeinschaft dienstagnachmittags lerne.

Wenn ich Hausaufgaben mache, seufzt sie manchmal hinter meinem Rücken und kommentiert: „Lernen ist wichtig, lernen ist gut. Ich habe früher nie gelernt und immer gearbeitet. Schon als Kind. Und jetzt guck mich mal an. Hat sich die Plackerei gelohnt?"

„Lies was, Spätzchen", sage ich. „Muss ja nicht gleich ‚Krieg und Frieden‘ sein. Versuch‘s doch mal mit einem Krimi."

„Ich bin abends immer so müde, meine Sonne", sagt sie. „Wenn ich ein bisschen gelesen habe, vergesse ich sofort, was drin steht, und muss von vorn anfangen. Das strengt mich so an."

Deswegen liest sie jeden Tag ein Blatt vom Abreißkalender „Für die orthodoxe Hausfrau", wo mal ein Rezept drauf steht und mal ein Tipp zum schnelleren Abnehmen und gelegentlich ein Witz, und das genügt ihr. Da verdrehe ich die Augen, aber so, dass sie das nicht sieht. Denn sie kann wirklich nichts dafür, dass sie von Anfang an zu wenig Synapsen abgekriegt hat und zwei Drittel davon noch in ihrer Fabrikkantine verloren gingen.

Ich mache mir nur ein bisschen Sorgen wegen Alissa. Zwar ist Maria meiner knapp vierjährigen Schwester intellektuell noch etwas überlegen, aber das wird sich in absehbarer Zeit ändern. Ich habe Vorlesestunden als Pflichttermin in Marias Tagesplan eingeführt. „Ich hab ja gar nicht gewusst," hat Maria nach dem ersten Bilderbuch gestaunt, „dass es so interessante Bücher gibt."

Sie liebt Alissa aufs Zärtlichste. So sehr, dass sie dagegen war, die Kleine mit drei Jahren in den Kindergarten zu geben, wo es Kinderkrankheiten und Tiefkühlessen gibt, und ich mit dem Jugendamt drohen musste, um ihren Widerstand zu brechen. Ständig knutscht und streichelt Maria meine Schwester und verkneift sich nur unter vielen runtergeschluckten Tränen das von mir streng verbotene jämmerliche: „Mein armes Waisenkindchen."

Müsste Maria zurück nach Nowosibirsk, so würde dies nicht nur ihr, sondern auch meiner Schwester das Herz brechen. „Wenn Alilein mal groß ist, dann fühle ich mich wieder frei", sagt Maria. „Ich will sie großziehen, dass sie glücklich und gesund wird (meinarmesWaisenkindchen)."

An anderen Tagen sagt Maria, dass sie sich erst frei fühlen wird, wenn Alissa einen anständigen Mann zum Heiraten gefunden hat.

„Du bist keine Leibeigene", sage ich. „Und es kann sein, dass Alissa erst mit Ende dreißig einen anständigen Mann findet. Wenn sie Glück hat."

Maria seufzt. „Wenn Alilein ein Diplom hat", sagt sie schließlich, „dann bin ich auch schon mal ganz glücklich."

„Diplom" ist für sie ein magisches Wort - wie Kapitalertragssteuer oder Paracetamol.

Für Alissa würde sie sterben. Das bedeutet nicht, dass sie etwas gegen Anton hat. Sie versucht regelmäßig, auch dieses Waisenkindchen zu kosen, aber Anton lässt keine Berührungen zu. Er geht dann einfach einen Schritt zurück, so lange, bis er die Wand im Rücken hat. Dann kapiert auch Maria, dass sie die Hände von ihm lassen soll.

Vor mir hat Maria Angst, und das hat seine Vorteile.

Maria sieht viele Gründe, mich zu verehren. Ich beherrsche die Sprache dieses verflixten Landes. Ich erkläre ihr die hiesige Welt und begleite sie zu Einkäufen, bei denen ein Dolmetscher notwendig ist. Ich weiß, wie man Sozialhilfe beantragt und wie Kindergeld. Meistens bin ich dabei, wenn das Jugendamt auf Visite geht. Wenn ich eine Frage an sie übersetzen muss, überlege ich mir auch gleich die Antwort dazu.

Maria hat panische Angst vor allem, was mit Behörden zu tun hat. Vor jedem, der staatliche Autorität ausstrahlt, fühlt sie sich klein wie eine Ameise. Selbst den Fahrkartenautomaten siezt sie, und wenn im Bus tatsächlich kontrolliert wird, zerrt sie die Karte mit einem demütigen Lächeln so hastig aus ihrer Handtasche, dass ihr Lippenstift und ihre Tampons wie Geschosse durch die Gegend fliegen.

„Immer mit der Ruhe, Maria", zische ich, wenn ich zufällig dabei bin, und krieche auf dem Fußboden herum, um die Utensilien einzusammeln, während die gelähmte Maria dem Kontrolleur in den Rücken strahlt.

„Ich hätte nie gedacht, dass das einer ist", flüstert sie ehrfürchtig. „Mit langen Haaren und einem Ohrring wie so ein Beatles. Wie sie hier rumlaufen dürfen. Was hat er da aus dem Ohr hängen?"

„Einen mp3-Player", erkläre ich.

„Was?"

„Musik."

„Ich glaube, du wirst mal wie deine Mutter", sagt Maria einmal in einem solchen Moment.

„Was?!"

Sie schlägt sich die Hände vor den Mund.

„Was hast du gesagt?!"

„Nichts, nichts", flüstert sie. „Nichts, nichts."

Danach steigen wir in der Stadtmitte aus und tauschen die Armbanduhr um, die Maria vor zwei Tagen für 4,95 Euro gekauft hat und die seit gestern nicht mehr geht.


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