Pedro Lenz, Bern (CH)

Pedro Lenz wurde 1965 in Langenthal geboren und lebt in Bern. Pedro Lenz wurde zum Bewerb vorgeschlagen von André Vladimir Heiz.


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Pedro Lenz

Inland


Bitte, ich möchte dir erzählen, will dir erzählen, muss dir erzählen, werde dir erzählen, damit all die langen Jahre endlich weg sind, weit, weit, weit weg von mir.

Lass mich im Dorf anfangen, im Dorf meiner Kindheit, genau gesagt im Schulhaus, das nur nach unserem Quartier benannt war, nicht wie andere Schulhäuser, die nach einem berühmten Pädagogen benannt sind. Im Schulhaus fängt es an. Dort oben, im zweiten Stockwerk.

Frank steht nur einfach da und haut den alten Niederberger ins Gesicht.

Ich meine, das musst du dir vorstellen. Wirklich, das muss dir erst in den Kopf rein, wie der Frank da steht, so als wäre er der Lehrer, und nicht der Niederberger, so als wäre der Frank hier der Chef, als wäre er der Mann, der das Sagen hat, unser Frank, 15 Jahre Trauer im Körper, Primarschüler Oberstufe und schlägt seinen Französischlehrer ins Gesicht. Ich sag es doch. So etwas musst du dir bildlich ausmalen, um es ein bisschen verstehen zu können.

Das ganze Klassenzimmer totenstill, vollkommen starr, die Wandtafel mit dem fehlerhaft konjugierten Verb, das Reliefbild der Schweiz von Kümmerli&Frey, die grüne Filzwand und daneben das grosse Beatles Poster, das uns so auf den Nerv ging, weil wir schon damals spürten, dass es die Beatles niemals sein konnten, mit ihrem ganzen Schönwetter-Gezwitscher und wir doch viel lieber einen wie Frank Zappa gehabt hätten, aber den durften wir nicht, war einfach Tabu, der Zappa, mit seinem Bobby-Brown-Song, in dem es, wie einer behauptet hatte, um perverses Zeug ging, das wir zwar nicht ganz verstanden, von dem wir aber wussten, dass es interessant sein musste.

Alles ruhig also an jenem Morgen, Mädchen und Buben vollkommen still. Eine Art von Stille, bei der selbst der Dümmste merkt: Bald passiert etwas, muss etwas passieren, früher oder später, aber vermutlich eher früher.

Und vorne steht der Frank, nimmt langsam die Kreide in die Linke, damit er die Rechte frei hat und hopp, putzt ihm eins, dem bösen, bösen Niederberger, dem wir immer oui Monsieur und non Monsieur und pardon Monsieur sagen mussten, hundert Mal pro Lektion, obwohl sein Französisch kaum besser klang als unseres. Folgst Du mir?

Niemand hätte geglaubt, dass so etwas geschehen kann, ich meine niemand von uns, ausser allenfalls der Frank selbst, denn der musste es ja spätestens da wissen, wo er die Kreide in die andere Hand nahm, um die Schlaghand frei zu haben. Oder sonst soll man mir irgendeinen zeigen, der es wagt, in der Schulstube seinen eigenen Französischlehrer ins Gesicht zu schlagen, ohne die bessere Hand frei zu haben.

Entschuldige, wenn ich so mittendrin zu erzählen angefangen habe. Nicht dass du jetzt vielleicht glaubst, ich sei unfähig mich auf die ganze Geschichte zu konzentrieren. Gut, gut, gut, gut, es gibt einige, die behaupten, ich könne mich schlecht konzentrieren, aber die haben keine Ahnung, haben von nichts eine Ahnung.

Mich geistig sammeln, mich zusammenreissen, das kann ich sehr wohl, kann ich sowieso, hab ich oft genug bewiesen, hab ich immer wieder bewiesen, ausser vielleicht einmal im Militär, als ich mit verbundenen Augen das Gewehr zerlegen und wieder zusammensetzen musste, fünfundzwanzig Mal nacheinander alle Teile auf ein Tuch legen, benennen und in der richtigen Reihenfolge erneut aneinanderfügen. Falsch! Noch mal von vorne! Wieder falsch! Und so weiter, bis der Leutnant sagte: So einen renitenten Sauhund, das gibt's doch gar nicht, das ist überhaupt nicht normal, dass einer so renitent ist!

Pedro Lenz (Foto ORF/Johannes Puch)

Das war nicht wahr. Ich bin alles andere als renitent. Ich kann, wenn ich will, ich kann alles in eine logische Reihe bringen. Trotzdem muss ich mit diesem Vormittag anfangen, an dem der Frank es gemacht hat, an dem er den Niederberger vor der ganzen Klasse geohrfeigt hat. Das mag unwichtig erscheinen, aber es ist halt ganz genau wichtig, denn nachher ist es nie mehr so geworden, wie es vorher gewesen ist, nie mehr.

Der Frank bekam natürlich ein Verfahren, schon klar, eine Disziplinarstrafe, war ja keine Bagatelle, Körperverletzung und alles, logisch. Ging danach in eine Spezialschule, der Frank, musste dort hin, ob er wollte oder nicht, war halt vom Jugendgericht so angeordnet worden, sozialpädagogische Massnahme oder Anpassungsklasse oder wie immer sie es nannten, ich weiss den genauen Begriff nicht mehr. Das sind diese Beschlüsse, für die sich die Gesetzgeber bedeutende Namen ausdenken. Aber für die, die es trifft, ist es einfach eine Strafe und Punkt.

Dabei hätte es, so oder so, nicht mehr lange gedauert, mit der Schule, meine ich, ein paar Monate nur noch, dann wäre er draussen gewesen, wären wir alle gemeinsam draussen gewesen. Und wahrscheinlich hätten wir sogar zusammen die Lehre gemacht, der Frank und ich.

Sag, weisst du es noch? Nein, du kannst es nicht wissen. Viele erinnern sich möglicherweise nur noch vage daran, aber er war auch interessiert an ernsten Dingen, unser Frank. Das stimmt. Er hat sogar mit mir zusammen eine Woche geschnuppert, im Herbst 80, bei W. Bösiger AG, Hoch- und Tiefbau. Frank war begabt, das sah man gleich. Und bald wusste er einiges über Mischverhältnisse von Sand und Kalk, Zement und Wasser, konnte sich die Dinge merken, die ich meistens vergass. Ich sage es, wie es wirklich ist: Vom Talent und von der Kraft her hätte Frank ein prima Maurer werden können, unbedingt. Einmal hat ihm ein alter Polier gesagt, er habe die goldene Hand. Aus dir wird ein Guter. So hat es der Polier gesagt. Ich erinnere mich, denn ich sass daneben in dieser Baracke beim Mittagessen und wir assen Sardinen und tunkten Weissbrot im Öl und ich hätte mich unheimlich gefreut, wenn mir ein Vorgesetzter einmal etwas Ähnliches gesagt hätte.

Klar, vielleicht wäre trotzdem nichts draus geworden, also auch dann nicht, wenn er sich in dieser Französischstunde zurückgehalten hätte, wenn er dem Niederberger nichts getan hätte oder wenn er, was ja ebenfalls denkbar ist, an jenem Morgen gar nicht zur Schule gekommen wäre. Denn im gleichen Winter ist dem Frank der Vater gestorben, im genau gleichen Winter, nur wenige Tage nach dem Zwischenfall.

Das war noch so eine üble Geschichte. Zuerst hiess es nur Gefässleiden. Wenig später hiess es, es sei Krebs, dann ein- oder zweimal zur Kontrolle ins Spital, ein paar von diesen Bestrahlungen, von den richtigen, das heisst von denen, die dir die Haut verbrennen, schmerzhaft verbrennen wie ein Sonnenbrand, nur sehr viel stärker und danach fertig, tschau, tot, amen. Das war schon alles, ging wahnsinnig schnell.

Dem Allmächtigen Herrn und Schöpfer des Lebens hat es gefallen, seinen Sohn zu sich zu rufen. So stand es in der Todesanzeige, die ich heute noch aufbewahre, ein furchtbar schwer zu verstehender Satz, besonders, wenn man ein wenig an Gott glaubt, so wie ich damals. Da fragt man sich doch fast zwangsläufig, warum es dem Herrn gefallen soll, wenn einem Jungen plötzlich der Vater wegstirbt. Das gefällt niemandem, selbst dann nicht, wenn der Vater selten so ein Vater war, wie man ihn sich wohl erhoffen darf. Ich weiss, ich weiss, manche Väter sind schlimm, aber man möchte trotzdem nicht unbedingt, dass es dem Herrgott plötzlich gefällt, sie sterben zu lassen.

Seine Mutter war dann sogar fast froh, dass der Frank wegen der Ohrfeige gegen den Französischlehrer in diese Spezialschule kam, wenigstens am Anfang, wenigstens wegen ihr, denn sie hatte ja noch die Kleinen und die Hunde und den Gemüsegarten und den Kirschbaum und die Putzarbeiten und das gab, alles zusammengezählt, schon genug zu tun. Und da ist es halt beinahe verständlich, wenn sich eine Mutter erleichtert fühlt, wenn ihr ältester und schwierigster Sohn weit weg ist, an einem Ort, wo für ihn gesorgt wird.

Und angenommen, jetzt nur einmal angenommen, es wäre nie zu jenem Zwischenfall in der Schule gekommen, dann hätte es sehr gut sein können, dass die Mutter dem Frank trotzdem gesagt hätte, eine Lehre liege unter diesen Umständen überhaupt nicht drin, schon vom Geld her, und weil sie nicht ständig die Arbeitskleider hätte waschen können, wo doch damals, wenn du dich noch erinnern kannst, in Mietshäusern oft eine sehr strikte Waschordnung herrschte, so dass man in manchen Wohnblocks nur alle vierzehn Tage einmal waschen konnte, was gerade für Leute, die zum Beispiel auf Baustellen arbeiten müssen und daher oft die Kleider verschmutzen, schon sehr wenig Waschzeit war, irgendwie.

Pedro Lenz (Foto ORF/Johannes Puch)

Aber es ist auch denkbar, dass sie dennoch zugelassen hätte, dass er Maurer wird und dann wäre es grossartig gewesen, wenn er das mit dem Niederberger nicht getan hätte und nichts passiert wäre, so dass er nicht in die Spezialschule hätte gehen müssen. Ich stelle mir nur vor, wie wir es lustig gehabt hätten, der Frank und ich, auf den grossen Baustellen. Da hätte mir mancher Arbeitstag viel kürzer erscheinen mögen.

Wahrscheinlich hätte er mich auf der Arbeit in Schutz nehmen können, wenigstens manchmal, gegen den Dobler zum Beispiel, weil der ein wirklicher Satan war, dieser Dobler oder vielleicht später auch, nach der Lehre, in Oberglatt, im Anschluss an dieses Firmenfest, als alle betrunken waren und mir die Hose ausgezogen haben und mich so auf den Tisch gelegt haben und ich denken musste, dass es wohl das Beste wäre, wenn ich grad sofort auf der Stelle sterben könnte, wie der Vater vom Frank. Aber ich bin nicht gestorben, nein, ich habe genau gehört, was sie gesagt haben, viel zu genau.

Also, jetzt wollen wir doch mal sehen, ob unser junger Flickmaurer schon Haare an den Eiern hat.

Und dann das Klicken eines Feuerzeugs und dieses besoffene Gelächter, von dem ich manchmal heute noch träume, bis ich schwitzend und zitternd aufwache und mich frage, warum sie es ausgerechnet mit mir gemacht haben, wo es doch ausser mir noch so viele andere junge Maurer in dieser Firma gab, die übrigens zu den grössten zählte, die es damals im Kanton Zürich gab, ich meine, bevor sie aufgekauft wurde.

Aber nein, es musste mich treffen. Sie haben es mit mir gemacht. Heiland, das war nicht nichts, wirklich nicht. War schlimm. Ja, schlimm war es, besonders deshalb, weil alle mitgemacht haben, und nicht ein Einziger da war, der wenigstens gesagt hat: Gut, also, das war lustig, aber nun hören wir besser auf, denn jetzt ist es genug. Nein, das hat damals keiner gesagt, sowieso nicht. Nur gelacht haben alle, alle ausser mir.

Wo war ich? Bei dieser Spezialschule, in die der Frank hat gehen müssen, nicht lange zwar, aber immerhin. Daraufhin hat er keine Lehrstelle finden können, klar, wegen der sozialpädagogischen Massnahme, das wussten alle, das musste er doch hinschreiben, bei den Bewerbungen. Und so einen wollte niemand. Dabei war er ja gar nicht so einer, wie sie gemeint haben, zumindest damals noch nicht. Und am Ende ist er zur Post, als Hilfsarbeiter auf der Bahnpost in Bern, weil die zu unserer Zeit auf der Post auch einen ohne Lehrabschluss genommen haben und die Arbeit war auch gar nicht so schlecht bezahlt, ich sage nicht schlecht bezahlt, denn ein Hochbauzeichner zum Beispiel, das weiss ich zufällig ziemlich genau, also ein Hochbauzeichner verdiente nach der Lehre einiges weniger als der Frank ohne eigenen Lehrabschluss.

Manchmal haben wir uns in dieser Zeit noch getroffen. Sei doch kein Weicher, hat er mir gesagt, der Frank, und dass ich mich vorher wehren müsse, also bevor die andern so viel getrunken hätten, dass sie auf die Idee kämen, mir die Hose auszuziehen und alles. Das war schon wahr, hat er bestimmt richtig gesagt, obwohl, so einfach war es trotzdem nicht, denn vorher wusste ich ja nicht, was sie mit mir im Sinn hatten. Und als ich es wusste, konnte ich nichts mehr dagegen tun, weil sie mir die Arme festhielten und meinen Oberkörper gegen die Tischplatte drückten, zu dritt oder zu viert, obwohl ich geschrieen und geheult habe. Frank hätte mir helfen können, aber der war, wie gesagt, längst bei der Bahnpost.

Vergessen wir es, habe ich dem Frank da gesagt. Und heute bin ich es, ausgerechnet ich, der doch damals gesagt hat, wir sollen es vergessen, also heute bin ich es, der sich daran erinnert, obwohl ich es doch gar nicht will. Aber das hat, wie gesagt, damit zu tun, dass ich immer mal wieder davon träume.

Pedro Lenz (Foto ORF/Johannes Puch)

Träume sind schweinisch. Träume haben das hinterhältigste Gedächtnis, das man sich vorstellen kann. Ich werde nie verstehen, weshalb manche Leute an Träumen Freude haben. Träume sind das Böse.

Kann sein, dass es nicht das Gescheiteste ist, wenn ich jetzt fast nur vom Frank erzähle, so dass du vielleicht meinen könntest, er sei mein einziger Freund gewesen, wo doch gar nicht ganz klar ist, ob er überhaupt ein richtiger Freund war. Ich meine ja nur, sage das nicht gegen ihn, will nur zu bedenken geben, wie schwierig das immer zu beurteilen ist, mit Freundschaften und all diese Fragen. Manchmal hat man einen Freund und merkt dann, dass es doch keiner ist und manchmal ist es genau umgekehrt, wobei letzteres dann eher seltener vorkommt.

Jedenfalls fing alles damit an, dass ich 72 in die Schule kam, im gleichen Jahr, als Bernhard Russi in Sapporo Olympiasieger geworden war, mit Glück übrigens, denn der beste war in jenem Winter Karl Schranz, ein Österreicher aus Sankt Anton, aber der durfte nicht starten in Sapporo, frag mich bitte jetzt nicht weshalb der nicht starten durfte. Es gibt schliesslich so vieles, das man als Kind nicht versteht und selbst später nie herausfindet. Unklar ist bloss, warum es dennoch im Gedächtnis hängen bleibt.

Ich weiss zum Beispiel auch, dass in dieser Zeit der Richard Nixon Präsident war, in Amerika meine ich. Sein Name kam immer im Radio, am Mittag, wenn mein Vater die Nachrichten hörte und wir alle still sein mussten. Es wurde immer der Nixon genannt und der Breschnjew von den Russen und manchmal auch Papst Paul der Sechste oder Bundesrat Gnägi, aber am häufigsten Präsident Nixon.

Der Vater kam jeweils kurz vor den Radionachrichten nachhause und bevor er sich an den Mittagstisch setzte, schaute er die Post durch, für den Fall, dass eine Todesanzeige dabei war. Die übrigen Briefe liess er liegen, bis nach dem Essen. Fand er jedoch eine Todesanzeige, las er sie unverzüglich im Stehen. Dann nannte er den, der gestorben war, einen armen Kerl und sagte, dass es doch kaum zu glauben sei, dass der oder jener auch habe gehen müssen. So ein armer Kerl, und jetzt stirbt der schon und dabei war er doch so ein lebensfroher Mensch, aber gell, wenn einem das Stündlein geschlagen hat, ist nichts zu machen. Ja, ja, der Sensemann kommt wie und wann er will. So sagte es mein Vater. Und nachher wünschte er uns einen guten Appetit und begann zu essen, obwohl er hätte wissen müssen, dass die Mutter gerne noch ein Tischgebet gesprochen hätte, was sie ja dann meistens auch tat, aber nur still und nur für sich, wohingegen mein Vater nie der Typ war, der sich etwas aus Gebeten machte.

In diesem Jahr war ich also in die Schule gekommen, zu einer lieben Lehrerin, die im Schulbericht einmal schrieb, ich sei höflich und exakt in der Handschrift und etwas introvertiert. Den Schulbericht verstand ich damals nicht, verstanden nur die Eltern, was mir nichts ausmachte, denn für die Eltern war er ja geschrieben worden. Nur dieses eine Wort, introvertiert, das verstanden selbst die Eltern nicht ganz. Deshalb hat mein Vater den Gerber Toni gefragt, der einen Stock, also eine Etage über uns wohnte und auf einem Amt arbeitete und ein grosses Wörterbuch besass. Solche Sachen dauerten damals ziemlich lange, ich meine Wörter herausfinden und all dies, das gab viel zu reden.

Vorher hat es mich selbstverständlich auch gegeben, vor 72, klar. Aber das weiss ich eher von den Fotos und den Dias, die wir uns manchmal angeschaut haben, wenn meine ledige Tante zu Besuch war, die einzige Schwester meines Vaters, die unverheiratet geblieben war, warum weiss ich auch nicht.

Richtig an mein Leben erinnern tue ich mich erst von da an, wo ich zur Schule ging und nicht von den Jahren davor, als ich wohl kaum mehr gedacht habe als eine Katze, wenn sie im Quartier rum schleicht. Kleine Kinder und Katzen brauchen keine Erinnerung, weil ihnen alles, was schon gewesen ist, vollkommen gleichgültig sein kann. Die Erinnerung beginnt mit der Schule, denn da fängt man zu lesen an und zu schreiben und erst die Buchstaben bewirken, dass man ein richtiger Mensch wird, der sich nach hinten und nach vorne orientieren kann. Es ist wirklich so. Ohne die Buchstaben kann man nur das wissen, was gerade passiert oder das, was einem die andern sagen und davon ist vieles gelogen.

Ich kam in die Schule mit dem Locher Urs, der damals mein bester Freund war und einen Schulranzen mit einem schwarzweissen Ziegenfell hatte, dann mit dem Res, der so gut spielte, dass er beim Fussball immer Günter Netzer sein durfte, was nicht selbstverständlich war, weil es noch viele andere gab, die Günter Netzer sein wollten. Weiter gab es in meiner Klasse den Hebel, der meistens Geld in der Tasche hatte, im Unterschied zu uns andern, will ich sagen. Zufällig ist der Hebel auch nach der Schulzeit reich geblieben und er ist es immer noch. Wenn man es von dieser Seite her anschaut, hat sich für den Hebel nichts geändert und für uns auch nicht.

Und was die Mädchen angeht, da erinnere ich mich beispielsweise noch an die Sabine, was leicht ist, denn es gab etwa drei oder vier Sabinen, muss der Modename jener Zeit gewesen sein, aber besonders gut erinnere ich mich an die eine Sabine, die Zöpfe hatte und Sommersprossen und dann an die Chantal, die ich insgeheim schön fand und die ein bisschen anders war als die andern Mädchen, obwohl, wenn man sie heute sieht, aber gut, das ist jetzt wirklich nicht so wichtig.

Der Frank war damals noch nicht dabei, kam erst ein Jahr später, als sein Vater eine Stelle in der Weberei fand und sie in unser Dorf zogen, der Frank und seine Familie.

An einem Morgen stand er plötzlich da. Die Lehrerin hatte ihn bei der Hand ins Zimmer geführt. Sie liess dann seine Hand einfach nicht los. Alle fragten sich, weshalb Fräulein Bühler seine Hand nicht losliess, als sie zu uns sagte, dass er der Frank sei, und dass er nun neu bei uns sei, und dass wir lieb sein sollen zu ihm und all diese Dinge, die eine Lehrerin wohl sagen muss, wenn sie der Klasse einen neuen Schüler vorstellt und Angst hat, er finde vielleicht den Anschluss nicht, was ihr dann wiederum mehr Probleme machen würde.

Aber es war nicht sie, die die Hand nicht losgelassen hatte. Er war es! Das hat er mir später bestätigt. Und mir fiel wieder ein, wie wir im Französischunterricht beim Niederberger einen Roman lesen mussten, bei dem ganz am Anfang einer in die Schulklasse geführt wird und der heisst Bovary und ist dann später im Roman ein armes Schwein, weil seine Frau mit einem andern ins Bett geht. Das ist ein furchtbar trauriger Roman, wenn ich einmal dazu komme, werde ich ihn wieder lesen, aber wahrscheinlich auf Deutsch, denn auf Französisch ist er zu schwierig.

Doch selbst wenn wir den Roman beiseite lassen, ändert sich kaum etwas. Der Frank kam von diesem Augenblick an in unsere Klasse, was gleich viel heisst, wie in unser Leben, denn in jenen Jahren war natürlich die Schulklasse die ganze Welt. Wir freuten uns immer schon beim Frühstück auf den Augenblick, an dem wir die Halbschuhe binden durften und dann sofort raus aus den Wohnungen, die damals noch nach dem Zeugs rochen, mit dem man die Böden behandelte.

Meist gingen wir zu dritt zur Schule, der Locher, der Frank und ich. Wir wohnten alle nahe beisammen und kannten jede Blume und jeden Kiesel auf dem Weg, um es etwas übertrieben zu formulieren, denn alle Kiesel kann man natürlich unmöglich kennen, am wenigsten in meinem Quartier, wo es so viele Kieswege gab.

Pedro Lenz (Foto ORF/Johannes Puch)

Beim Hochwasser-Kanal, dort wo das Wasser durchgeleitet wurde, wenn der Bach überlief, blieben wir jeweils schon ein erstes Mal stehen, um nachzusehen, ob es etwas angeschwemmt hatte, etwas Wertvolles vielleicht, Gold zum Beispiel oder eine volle Geldbörse oder so. Aber wenn wirklich etwas dort lag, nach einem Hochwasser, dann war es meist nur ein einzelner Schuh oder eine alte Radkappe von einem Toyota oder eine tote Ratte, einfach diese Art von Dingen, die auf den ersten Blick nach viel aussehen und am Ende trotzdem nicht zu gebrauchen sind.

Manchmal hatte es immerhin ein paar Flusskrebse, die sammelten wir in einem Plastikeimer und brachten sie dann in Einmachgläsern zur Schule, was nicht gut war, denn Fräulein Bühler nahm mit uns in der Naturkunde gerade die Bohnen durch und die Tiere waren im Lehrplan erst für das übernächste Jahr vorgesehen und ausserdem starben die Flusskrebse, wenn man sie in den Einmachgläsern vergass und ihnen Luft und Wasser fehlte.

Und weil also im Kanal sehr selten etwas Vernünftiges zu finden war, spielten wir an den freien Nachmittagen entweder Fussball oder Bandenkriege. Unsere Bande hiess Blitz Boys. Ein einfältiger Name, ich weiss, aber dafür war er praktisch, denn jeder konnte einen Blitz zeichnen, wohingegen die von der Grubenstrasse, die sich Weisse Tiger nannten, fürchterliche Mühe hatten, wenn sie zum Beispiel einen Tiger in eine Baumrinde einritzen wollten. Heute ritzen die Jungen weniger in Baumrinden, was sicher besser ist, denn die Bäume nehmen Schaden davon.

Aber ich wollte dir vom Schulweg erzählen und darüber, dass es viele Gründe gab, unterwegs zu verweilen. Der Kanal war bestimmt der Hauptgrund. Doch es gab auch den Kiosk von Frau Püntener, der es nichts ausmachte, uns immer wieder alle Preise aufzusagen, obschon sie genau wusste, dass wir nichts kaufen konnten, ausser dem einen oder anderen Kaugummi, aber selbst dies eher selten. Nur der Hebel konnte etwas Bedeutendes kaufen, eine Wundertüte zum Beispiel oder ein Buffalo Bill, das er uns dann erst zu lesen gab, wenn es schon furchtbar gebraucht aussah, was uns allerdings überhaupt nichts ausmachte, denn wir machten uns wenig aus Buffalo Bill.

Was dann nicht mehr zum Schulweg gehörte, was aber dennoch keinesfalls vergessen gehen darf, sind die Wässermatten. Die Wässermatten lagen schon fast ausserhalb unseres Kindheitsterritoriums. Trotzdem kannten wir sie recht gut. Ausserdem besass der Vater vom Locher ein Buch über die Wässermatten, in dem zu lesen war, dass es diese Matten schon ganz, ganz früher gegeben habe, weil die Mönche vom Kloster in Sankt Urban, wo es jetzt schon lang keine Mönche mehr hat, sondern eine psychiatrische Klinik, dass also die alten Mönche diese Matten erfunden hätten. Ich selbst habe es nicht nachgelesen, aber Locher hat es mir erzählt.

Gut, die Wässermatten waren schön. Sie sind es übrigens immer noch, denn sie stehen unter Naturschutz. Die Wässermatten sind fast ganz normale Felder, aber sie sind durchzogen von kleinen Kanälen und dort wo sich die Kanäle kreuzen, hat es Holzschleusen, die sich öffnen und schliessen lassen, je nachdem, ob die Wässermatten gerade gewässert werden oder nicht. Werden die Matten bewässert, sehen sie aus, als wären sie kleine Seen. Das soll, nebenbei gesagt, auch sehr gut sein für den Grundwasserspiegel.

Mir gefielen die Wässermatten vor allem im Sommer, kurz bevor das Gras gemäht wurde. Es roch dann nach Geborgenheit, wenigstens im Rückblick. Aber jetzt gehe ich nicht mehr hin. Es gehen nur noch die hin, die einen Hund haben und ich habe keinen.

Frank war nicht besonders aggressiv. Er war so wie wir alle. Wir kämpften zuweilen, doch wenn einer unten lag und beide Schulterblätter einwandfrei den Boden berührten, galt der Kampf als beendet. Wer dann noch weiterkämpfen wollte, wurde von den andern zurückgehalten.

Pedro Lenz (Foto ORF/Johannes Puch)

Ich erwähne das hier bloss, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, der Zwischenfall mit dem Französischlehrer habe sich all die Jahre über abgezeichnet. Nein, nein, Frank war weder aggressiv noch jähzornig. Da gab es Schlimmere, mich zum Beispiel, denn ich konnte wegen irgendeiner Kleinigkeit komplett den Kopf verlieren. So wie an jenem Nachmittag, als ich den Freunden mein neues Fahrrad zeigte, ein Mondia Sport mit weinrotem Rahmen und Fünfgangschaltung. Mein Vater hatte es mir gekauft, als wir in die Oberstufe wechselten und deshalb einen längeren Schulweg hatten. Bub, hatte mein Vater gesagt, als ich selbst in deinem Alter war, durfte ich von so einem Velo nicht einmal träumen, denn zu meiner Zeit bekam man nicht einfach so ein Velo geschenkt, zu meiner Zeit gab es überhaupt nichts geschenkt. Dann habe ich genickt und bin auf das neue Fahrrad gestiegen. Das war ein gutes Gefühl, ein Gefühl, das man nur selten hat im Leben.

Ob er eine Runde damit fahren dürfe, hatte Res wissen wollen. Sei kein Egoist, sagte er noch und bevor ich ihm sagen konnte, er soll aufpassen, war er schon weg. Ich hatte furchtbare Angst, dass etwas passieren könnte und tatsächlich passierte etwas, denn als der Res endlich wieder auftauchte, trug er das Rad auf der Schulter, so wie die Querfeldein-Rennfahrer, die manchmal absteigen müssen, um ein Hindernis zu überqueren. Das Vorderrad und die Gabel meines neuen Velos waren komplett zusammengestaucht, weil er in einer Kurve auf dem feinen Sand ausgerutscht war, der damals in manchen Kurven liegen blieb. Es war furchtbar und ich wollte heulen vor Verzweiflung, denn ich musste an meinen Vater denken und daran, dass er gesagt hatte, ich müsse das Fahrrad mit Sorgfalt behandeln. Aber - und das war es, was mich wirklich fertig machte - die Freunde haben gebrüllt vor Lachen und selbst der Res fand es lustig, dass er mein neues Velo ruiniert hatte. Da hat dann in meinem Kopf etwas ausgeklinkt. Ich bin auf den Res los und wahrscheinlich hätte ich ihn totgeschlagen, wenn sich nicht alle auf mich geworfen und mich zurückgehalten hätten. Sie haben mich so lange festgehalten, bis ich keine Kraft mehr hatte, weder zum Schreien, noch für sonst etwas. Dann gingen sie und ich blieb zurück mit dem kaputten Fahrrad. Und weil meine Verzweiflung so riesengross war, habe ich mir in den einen Arm gebissen, bis er blutete.

Was hast du mit deinem Arm gemacht? Fragte der alte Hossmann vom Fahrradgeschäft.

Ich bin in einen Drahtzaun gefahren, das Licht hat so stark geblendet, dass man den Zaun gar nicht sehen konnte. Wie viel wird es denn kosten?

Wir werden sehen. Bis am Freitag ist es repariert. Und nun hör auf zu heulen. Der Hossmann war gut und ich konnte die Rechnung abarbeiten, denn es war Ferienzeit und er liess mich die Werkstatt und die Lagerräume putzen. Das dauerte vier Tage und ich war froh, dass er mir das mit dem Drahtzaun geglaubt hatte. Es ist immer besser, wenn man als einfacher Pechvogel dasteht, als wenn alle Welt weiss, dass einem die eigenen Freunde Schaden zugefügt haben.

Doch nun bin ich, ohne es zu merken, schon wieder abgeschweift, wo ich doch bloss sagen wollte, dass der Frank eher ruhig und souverän war, während ich selbst einfach nie in der Lage war, so etwas wie innere Ruhe auszustrahlen, bis heute nicht.


Die Schulzeit ging also voran, bis der Frank den Lehrer schlug. Von da weg war nichts mehr wie vorher. Mir könnte es einigermassen egal sein. Aber ich spüre, dass ich noch länger darüber reden muss, sonst bessert es überhaupt nie.

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