Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen wurde 1975 in Wien geboren und lebt dort auch. Er ist Autor und lehrbeauftragter Kulturwissenschaftler an der Deutschen Philologie der Universität Wien, wo er auch studierte. Internationale Tätigkeit als Kurator und Vortragender.

Jurorin Karin Fleischanderl hat den Text von Thomas Ballhausen nominiert.

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Thomas Ballhausen

Cave canem


An manchen Tagen gibt es selbst an mir nichts mehr zu entschlüsseln. Diesen Satz sage ich mir immer wieder im Geiste vor, während ich auf einer der Plattformen des Aussichtsturms stehe und auf das sich unter mir ausdehnende Häusermeer schaue. An manchen Tagen. Das Treiben, das sich hunderte Meter tiefer abspielt, erstreckt sich zu beiden Seiten des hohen Gebäudes mehrere Kilometer, wo in regelmäßigen Abständen weitere Türme, Überreste eines monumentalen Walls, stehen. Die Städte, die sich an deren Fundamenten entwickelt hatten, verschmolzen über die Jahrhunderte hinweg zu einer einzigen Metropole, der äußersten Grenzstadt eines Reiches, das unter dem Alter leidet und ächzt wie eine kranke Greisin. Gibt es selbst an mir. Die Luft dieses Wintertages ist kalt und klar, man kann bis zur ehemaligen Grenze, die sich am Verlauf eines Flusses leicht ausmachen lässt, und zu den schon weniger deutlich erkennbaren verlassenen Armeeposten sehen. Von der fragwürdigen Geborgenheit der bewaffneten Truppen, die während der letzten Bürgerkriege im Nachbarland hier für Sicherheit sorgen sollten, blieben nur Ruinen aus Beton, denen sich aus den unterschiedlichsten Gründen niemand nähern will. Geblieben sind nur der Rost, den dieser vergangene Konflikt wie alle vor ihm hinterlassen hat, sowie eine Vielzahl unabgeschlossener Geschichten vom Schicksal und seinen grausamen Wendungen. Die Türme, die nicht abgerissen werden können, erinnern wie stumme Wächter an die überstandene oder auch ignorierte Katastrophe, die sich in unmittelbarer Nähe ereignet hatte. Ihre Schatten scheinen etwas wie einfachen Trost und unverbindliche Schweigsamkeit zu spenden. Niemand, soweit ich das sagen kann, hatte sich je gegen sie ausgesprochen. Sie standen für die Einheit der Älteren, denen nach der Umsetzung dieser Projekte einfach nichts mehr verwehrt werden konnte, so als würden sie, was sie nicht taten und wir nicht tun, eine einzige, unvergleichliche und nicht zuletzt deshalb auch vollkommene Sprache sprechen, die niemals in Vergessenheit geraten könnte. Niemand, soweit ich das sagen kann, hat je nach dem Verbleib des Traumes gefragt. Nichts mehr zu entschlüsseln. Es waren die unbeachteten Bruchstücke, denen ich nachspürte, die Fügungen und die Erinnerung daran, wie wohl ich mich in diesem und den anderen von mir besuchten Türmen gefühlt hatte, wie ich mir schon als Jugendlicher vorgestellt hatte, dass ein Rest von einstiger Bedeutung dort kleben müsste wie der Schmutz in den Ritzen zwischen den gewaltigen Steinblöcken. Ein glückloser Versuch war dem nächsten gefolgt, doch der gewünschte Text, der wie ein Geschoss einschlagen und einen scharfkantigen Regen der Klarheit mit sich bringen sollte, wollte nicht gelingen. Vorerst unfähig zu einem Kompromiss und befangen durch mein Vorwissen, habe ich nur mühsam ein erstes Manuskript über die Türme und die auch heute gut sichtbare einladende Fremde, die ich aus einer Mischung aus Furcht und Antriebslosigkeit bisher nie bereist hatte, aus mir herausgekratzt. Mit dem Gefühl, als hätte ich lange geschlafen, und der Gewissheit, für meine Thesen Spott, Hohn und wohl auch Hass zu ernten, habe ich den dicken Papierstoß auf die Post gebracht, meinen Reisekoffer gepackt und bin dann, meiner Gewohnheit der letzten Jahre folgend, wieder zum nächstgelegenen Turm spaziert.

 

Die Türme sind angesichts ihres Alters und mangelnder Reparaturen, die aufgrund fehlender Pläne und schlicht unnachvollziehbarer Konstruktionen nicht durchgeführt werden können, in einen Prozess des Schwindens, des schleichenden Verfalls eingetreten. Die immer noch fest im Volksglauben verankerten Götter haben sie verlassen, sie haben sich einfach eine andere Heimstatt gesucht, doch ihre Schatten sind geblieben. Es gibt, so wird immer wieder beklagt, auch keine Mächtigen mehr zu verheiraten, keine Kriege mehr zu führen; da wird auf unsere Kosten eine Geschichte auf Kredit fortgeführt, allein der Schlagzeilen wegen. Das ist immer noch eine Welt, die darauf vergessen hat, ihre Mythen und ihre Lieben zu begraben, sie faulen vor den Augen aller vor sich hin. Der Blick ist fest auf einen selbst gerichtet. Wer drei Türen weiter wohnt, davon haben wir keine Ahnung. Ich kann mich nicht ausnehmen und trotzdem finde ich es fast schon tröstlich, dass ich hier, inmitten dieses Wahnsinns und dieser kaum beschreibbaren Dinge, zu mehr als einem klaren Gedanken gefunden habe. Die begrenzten Dimensionen von Tradition spiegeln sich in einer Welt, an der ich mich wund gerieben habe. Während langsam der Abend heraufzieht und die verlockend daliegende Fremde wieder undeutlicher werden lässt, kehrt das Gefühl für den unerträglichen Übergangszustand zurück. Alles, vielleicht aber auch nur ich, ist bis zum Zerreißen gespannt. Bewege ich mich in diesem verdunkelten Jetzt, das einzig auf die Bewältigung von Dingen ausgerichtet scheint und das ich kaum zu deuten vermag, unter Lebenden oder bereits unter Toten? Die Lichter in der Stadt gehen nach und nach an. Eine erste Rakete, ein Vorbote des Jahreswechsels, steigt empor, explodiert und setzt einen kurzlebigen Nebel aus strahlend grünen Funken frei. Für einen signalgleichen Moment ist das Firmament zusätzlich erleuchtet. Ich habe eigentlich keine Lust zu feiern, doch vor meiner Wohnung wartet sicher schon mein Freund Publius, um mich zu einer der zahlreichen Partys des heutigen Abends mitzunehmen.

 

Publius, der sich immer gerne als mein älteres Ich vorstellt, wartet tatsächlich schon vor dem Hauseingang, als ich kurz darauf in meine Straße einbiege. Er ist bereits verkleidet – wenig überzeugend steckt sein alter, hagerer Körper in einer schlaff an ihm herabhängenden Generalsuniform – und hält mir, kaum hat er mich gesehen, grußlos eine schwarze Maske entgegen, die den restlichen Abend die obere Hälfte meines Gesichts bedecken wird. Er kennt meine Abneigung gegen den Verkleidungszwang, doch statt einfach abzulassen, macht er Anlauf um Anlauf, um mich doch noch zu den Freuden der Täuschung zu bekehren. Seine Umarmung ist herzlich und fest, ich bitte ihn herein. Publius, das ist ein ungewöhnlicher Name für ein entsprechend unkonventionelles Leben, das dieser erst verkannte und nun rehabilitierte Dichter, der sich selbst als schmutziger Heiliger bezeichnet, unentmutigt lebt. Er bewahrt die Geschehnisse, indem er sie vergisst, darin liegt seine Stärke. Nicht zuletzt deshalb gibt es kein Gerücht, das nicht schon über ihn verbreitet worden wäre, und keines, das an seine Wirklichkeit herankäme. Ohne seine Ermutigungen hätte ich meine Forschungen längst aufgegeben, hätte mich vielleicht an eine Lehrkanzel in die Hauptstadt geflüchtet oder Schlimmeres. Ohne ihn, das wird mir immer wieder bewusst, wenn ich ihn sehe, wäre ich verloren gewesen, wäre ich einfach verschwunden, getilgt wie die Nebenfigur einer verdeckten Haupthandlung, die sich erst erschließt, wenn alles schon passiert ist. Ein ungeduldiger Ruf aus dem Vorzimmer erinnert mich daran, dass wir es eilig haben, und ich stehe immer noch unentschlossen vor meinem großen, wenig Abwechslung bietenden Kleiderkasten. Grau und Schwarz, das sind die Farben dieses Jahrhunderts und wohl auch des nächsten. Um wenigstens ein Mindestmaß an Bereitschaft zu zeigen, schlüpfe ich in einen viel zu großen Wintermantel mit Pelzkragen, den ich von meinem Großvater geerbt und niemals weggeworfen habe. Der Blick in den mannshohen Spiegel an der Wand neben dem Kasten zeigt mir eine dünne, verschwindend klein wirkende Figur in einem schwarzen, längst aus der Mode gekommenen und deshalb fast schon wieder modischen Kleidungsstück. Publius, der heute müder und ausgezehrter noch als sonst wirkt, nickt mir vom Gang aus zu, ja, das geht, das ist in Ordnung. An manchen Tagen.

 

Mein Verleger, ebenso wie Publius einer der letzten Vertreter einer verwunschenen Epoche, steht, einigermaßen glaubhaft als Satyr verkleidet, an der Bar und wippt vorsichtig im Takt der lauten Musik. Sein schütter werdendes Haar ist streng nach hinten gekämmt, wohl auch, um die kahlen Stellen auf seinem Kopf zu überdecken. Er lächelt, als er mich sieht, und prostet mir mit seinem Glas zu. An seinem Blick kann ich erkennen, dass er wohl vom Abschluss des lange versprochenen Buchs weiß, ihn das Paket vielleicht schon erreicht hat, es liegt Erleichterung und Traurigkeit darin. Ich schüttle seine Hand und statt die Begrüßung zu erwidern beginnt er, trotz der Musik und der vielen Besucher ringsum, wieder mit seiner bereits vielfach vorgetragenen Rede, dass schlussendlich die Geschichten an die Stelle der alten Ordnung treten würden, welche Erleichterung und welch lebendiges Durcheinander das mit sich bringen würde. Was für eine Geschwindigkeit, was für ein Aufschwung uns bevorstehen würde. Ich habe diese Worte schon oft gehört, mal waren sie direkt an mich gerichtet, mal an das Publikum bei einer Veranstaltung, dann wieder an eine junge Frau, die er zu beeindrucken versuchte. Ich habe ihm nichts vorzuwerfen, aber ich will diese eingeübte Litanei nicht schon wieder hören, deshalb drücke ich ihm verbindlich die Hand und überlasse ihn seinen Getränken. Die Mischung aus Musik und Menschenmenge erzeugt eine Form der Irritation, der Orientierungslosigkeit. Alle sind so sehr mit sich beschäftigt, dass ich sie bedenkenlos beobachten kann, mir vorstellen kann, wie die von mir durchlaufenen Bezirke hier zu einer gegenwärtigen Unterwelt, zu einer Hölle, die unserer Vorstellungskraft nicht bedarf, zusammenfallen. Am anderen Ende der Tanzfläche kann ich Publius ausmachen, wie er sich mit Besuchern aus dem Land hinter der Grenze unterhält; selbst in ihren gut gewählten Verkleidungen kann man sie, so sagt man, immer leicht erkennen. Er winkt mich heran, ich zwänge mich, mein Weinglas hochhaltend, durch die Tanzenden. Er stellt mich drei anderen, als Ritter verkleideten Dichtern, die er im Exil kennen gelernt hat, vor, dann auch einer jungen Frau, die als blinde Wahrsagerin kostümiert ist und die mit den anderen zu der Feier mitgekommen ist. Er macht Witze über unsere Namen und ihre literarischen Bedeutungen, insbesondere mein Name, den er noch amüsanter und ungewöhnlicher als seinen eigenen findet, reizt ihn zu einer Flut wilder Wortspiele. Sie fragt, als hätte sie nichts von dem gehört, nach meinem Namen und lächelt, als ich ihn ihr sage. Ihr Akzent und ihre glänzenden schwarzen Haare verraten sie als Fremde, ihre Bewegungen sind sicher und schnell. Die ganze Zeit über frage ich mich, nicht zuletzt wegen ihrer undurchsichtigen Brille, ob sie tatsächlich verkleidet ist. Gibt es selbst an mir. Publius und einer der Autoren wanken davon, die anderen beiden sind ganz in ein Gespräch vertieft. Es ist fast zu laut hier für eine peinliche Stille, doch eben nur fast.

 

Ein kleiner Tisch in unserer Nähe wird frei und wir setzen uns. Sie sieht mich lange an, ohne etwas zu sagen, und fragt mich dann unvermittelt nach meiner Meinung über die Zukunft. Für einen Moment bin ich versucht, ihr eine ernsthafte Antwort zu geben, etwas über die Unmöglichkeit genauer Prognosen zu sagen und über mein Gefühl, dass wir kurz davor stehen, verschlungen zu werden. Stattdessen versuche ich es mit einem Witz und behaupte, dass ich sie für überschätzt halte. Sie lächelt milde und nachsichtig, wie gegenüber einem Kind, das sich trotzig in der Rolle eines Erwachsenen versucht, um eine unerbetene Erkenntnis abzuwehren. Mit einer fließenden Bewegung zieht sie ein Kartendeck aus einer ihrer Manteltaschen, beginnt es zu mischen und erläutert mir, während die alten, abgegriffenen Papierscheiben durch ihre Hände wandern, den Sinn des Spiels. Das Tarot, so beginnt sie, ist eine Möglichkeit der Verkleidung, des Spielens, des Lebens. Die Karten reiben aneinander, klingen dabei wie Holzstücke. Es gibt eine Vielzahl von Theorien, die alle unbewiesen sind, so fährt sie fort, doch allen ist ihnen der Reiz gemein, an Geschichten zu glauben, so lange, bis etwas wie eine Wahrheit schließlich übrig bleibt. Sie legt drei Karten verdeckt auf die Tischplatte, gibt den restlichen Stapel daneben und nimmt meine rechte Hand. Ihr Griff ist fest, aber nicht unangenehm. Es sind nie die einzelnen Karten, sagt sie, es sind vielmehr ihre immer wieder neuen Verbindungen, die sich ergebenden Konstellationen. Inmitten des freudigen Getümmels rundum gibt es hier einen Moment der Konzentration, als würde der Lärm des Festes vor unserem Tisch zurückweichen. Sie deckt die erste Karte auf, sie fragt mich, ohne den Blick auf die Karten zu richten, was ich sehe. Es ist die Karte sechzehn, der Turm, antworte ich. Ich sehe ein hohes, dunkles Gebäude, Flammen, Blitze und Bücher. Sie nickt, ja, sie nickt erneut, das ist die Vergangenheit, doch es kommen drastische Veränderungen auf dich zu. Etwas bricht zusammen, stürmische Zeiten sind zu erwarten. Sie deckt die zweite Karte auf, fragt mich erneut nach dem Bild. Karte neun, der Eremit, antworte ich wahrheitsgemäß. Auf der Karte ist ein Mann mit Hut zu sehen, eine schwarze und eine weiße Hand, im Hintergrund ein Baum. Sie nickt erneut, lächelt kurz, gefällt sich offensichtlich in der Erfüllung der Rolle ihrer Verkleidung. Das ist die Gegenwart, die Beschreibung einer Suche, bedeutet aber auch Distanz und Einsamkeit. Sie legt kurz ihre rechte Handfläche auf diese Karte. Vielleicht auch eine Zeit der Reife. Sie hält kurz inne, zieht die Hand dann zurück. Nun zur dritten Karte, dem Blick in die Zukunft. Sie deckt die Karte auf, es sind die Liebenden, ein in feuriges Rot getauchtes Paar, unterscheidbare Körper und verschmelzende Köpfe. Ich zögere, will ihr diese Karte, einem plötzlichen Impuls folgend, nicht nennen. Nun?, fragt sie, etwas ungeduldig wirkend. Ich versuche mich an andere Symbole des mir aus Jugendtagen so vertrauten Spiels zu erinnern und platze spontan mit Stern hervor. Sie runzelt die Stirn, sieht aber nicht auf die Karten. Für einen Moment ist sie ganz ruhig, dann übernimmt sie die Beschreibung der Karte. Nummer siebzehn, der Stern. Ein Frauentorso, Wasserkrüge, die Ruhe nach dem Sturm. Sie legt wieder, ganz rituelle Geste, ihre Hand auf die Karte. Der Stern steht für Klarheit, die Offenheit der Gefühle. Es sei denn, und hier macht sie eine theatralische Pause, die Karte steht auf dem Kopf und verkehrt ihre Bedeutung. Sie nickt erneut, nimmt die Karten auf und verstaut das komplettierte Deck wieder in ihrem Mantel. Ist das alles?, fragt sie. Sie wirft in diesem künstlichen Licht einen Schatten voller Geheimnisse. An manchen Tagen gibt es selbst an mir nichts mehr zu entschlüsseln, antworte ich wie automatisch. Sie bleibt, soweit ich es sagen kann, unbeeindruckt von meiner wohl vorbereiteten Aussage, die mir, kaum habe ich die Worte ausgesprochen, unhöflicher und unangebrachter vorkommt, als sie gemeint war.

 

Es wird im weiteren Verlauf des Abends noch voller, ich tanze sogar ein wenig, der Wein tut seine Wirkung und lockert meinen bemüht lässigen Gesichtsausdruck, als plötzlich einer der Gäste, der auf der anderen Seite des Raums steht, eine Waffe zieht und mehrfach in die Luft feuert. Spätestens jetzt ist es Zeit zu gehen, wir drängen, ohne auf die Ereignisse um uns herum zu achten, nach draußen, wie instinktiv nimmt sie mich an der Hand und hält auch immer noch an mir fest, als wir uns in einer Gruppe von Leuten, darunter auch ein gespenstisch bleicher Publius und zwei der Autoren, in eines der wartenden Taxis quetschen. Wir fahren los, dem Lenker ist es egal, dass der Wagen total überfüllt ist. Es ist immer noch laut, alle sind aufgeregt und angetrunken und erst mit dem Abstand zum Club wird es ruhiger, die Leute sinken, soweit es der Platz zulässt, in die Polsterungen zurück. Sie nennt dem Fahrer eine Adresse in einem der Vorstadtbezirke, unser Weg führt uns in ein einst elegantes, nun heruntergekommenes Viertel.

 

Der Wagen hält, ich kann nicht sagen wo, und wir taumeln nach draußen in die Nachtluft. Wir stehen vor einer verlassenen Villa, die, so stellt es sich heraus, teilweise noch eingerichtet ist. Es wirkt, als hätte man wahllos Möbel ausgesucht und mitgenommen, den Rest dafür einfach zurückgelassen. Kerzen, die in den Räumen verteilt stehen, erleuchten die Szenerie, hier sind noch wesentlich mehr Leute, hier findet eine weitere, ausgelassenere Feier statt. Ich finde mich mit einigen anderen in einem kleinen Salon wieder, komfortable Sofas stehen herum, gerahmt von leeren Bücherregalen, die bis an die hohe Zimmerdecke reichen. Sie geht voran, ihre Brille hat sie trotz des schummrigen Lichts immer noch auf. Mit der ihr eigenen, mich immer noch irritierenden Sicherheit bewegt sie sich durch den Raum, holt eine Box aus ihrer Tasche und entnimmt ihr einen kleinen fasrigen Klumpen und etwas Papier, das für mich wie ein Teil einer Buchseite aussieht. Dann gibt sie die Box weiter und beginnt, laut ein Gedicht aufzusagen: Erinnerst du dich, wie verwaist die Bahnhöfe lagen, wir fuhren durch Städte, die sich drehten den ganzen Tag. Andere stimmen murmelnd mit ein, als wäre dies ein Ritual, eine notwendige und übliche Handlung für das Folgende, und in der Nacht die Sonne der Tage erbrachen, o Matrosen, o trostlose Frauen und ihr, meine Gefährten, ein Mythos, der wiederholt wird, um ihn vor dem Ermatten zu bewahren, erinnert euch daran. Sie dreht einen Joint und winkt mich mit einer kleinen Handbewegung in ein anderes Zimmer, wo weitere Möbelstücke stehen. Wir setzen uns auf eine Couch, ihr Geruch ist noch zu erahnen, eine Mischung aus Holz und Honig. Sie reicht mir den entzündeten Joint, der Rauch füllt meine Lungen. Ich bin es nicht gewöhnt, schon nach wenigen Zügen wird mir etwas schwindlig, aber es ist nicht unangenehm. Wir versuchen, so nebeneinander sitzend, unser Gespräch fortzusetzen. Es gibt keine Notwendigkeit zu lügen, also reden wir freimütig und ohne Hintergedanken. Sie erzählt mir von ihrem Heimatdorf, von dem Städtchen nahe der ehemaligen Grenze, in dem sie derzeit lebt, weit weg von ihrer Familie, weil sie irgendwohin gehen wollte, wo man nicht beleidigt wird. Sie springt von Thema zu Thema, redet von einem Gott, an den sie glauben kann, weil er zu tanzen versteht, von Gewürzen und der Art, sich perfekt zu kleiden. Ich rede von der blutigen Historie, an der ich hänge, weil sie mir die einzig vertraute scheint, von der berechtigten Unruhe meiner Sinne, als gäbe es ein noch unerschlossenes Wissen um das Unbekannte bereits in mir. Wir sprechen vom Leben, wie es war und wie wir es gerne hätten, von Werten und dem Gewicht des Erlittenen, von der Schuld der Alten und der Verantwortung der Jüngeren. All das behält seine Leichtigkeit, selbst als ein Moment erreicht scheint, in dem alles gesagt ist. Sie nimmt mich bei der Hand, ich lasse es geschehen, eine Szene, als hätte ich sie gelesen, und würde nun meine Erinnerung über die Gegenwart legen, um sie zu verdecken, anstatt sie tatsächlich zu erleben.

 

Spekulieren oder sich ausziehen, wir entscheiden uns für Letzteres, unsere Münder und Hände gehen den Gedanken voraus, sie zieht mich mit überraschender Kraft an sich und mit dem Gefühl trunkener Vertrautheit, als wäre es nie anders oder gar leichter gewesen als jetzt, erwidere ich ihre Berührungen. Sie steht auf, zieht mich weiter, Komm, mehr sagt sie nicht und muss auch nicht mehr sagen. Wir stolpern in den nächsten Raum, ich zähle in meiner Unsicherheit und Befangenheit die Schritte, die ich mache; hier nun liegen überall Schlafsäcke, verstreut am Boden und auf einem alten Bett. Ich streife den Mantel ab, sie zerrt an meiner Maske, meinem Hemd, ich reiße beinahe den rechten Ärmel ihres Oberteils ab, wir sind nicht einfach hungrig, wir sind gierig. Jedes Zögern, jede anerzogene Vernunft ist überwunden, als wir lachend und voller für mich ungewohnter Lebendigkeit auf das Bett fallen. Ihr Körper ist braun, weicher als ich es mir erwartet hätte, während ich mir hier im matten Schein des Lichts aus dem Nebenzimmer wie ein bleicher, an Land gespülter Knochenfisch vorkomme. Sie hält mir die Augen zu, als ich an ihr hinabgleite, sie liegt aufgebreitet da wie ein geöffneter Brief, zugleich salzig und süß schmeckend, dann küsse ich ihre Hüfte, bis sie meinen Kopf wieder zu sich nach oben zieht, mein Gesäß packt und mich an sich presst. Das erste Mal ist von Hast gezeichnet, wie Getriebene bewegen wir uns miteinander, Flüchtende, die nicht vom Ort kommen, bis sie sich kurz nach mir aufbäumt, mich kratzt. Dann setzt sie sich auf mich, legt bestimmend ihre schmalen Hände auf meine Brust, das zweite Mal ist ruhiger, klarer, sieht uns jemand, es ist egal. Es gilt sich zu halten, als müsse man die Müdigkeit fliehen. Noch in unserer Umarmung strecken wir uns einander entgegen, wir schlafen in dem textilen Durcheinander schließlich ein.

 

Ein kalter Luftzug weckt mich, der Wind hat das Zimmerfenster aufgedrückt und lässt ein wenig Schnee herein. Ich springe auf und schließe es, erst danach wird mir meine Nacktheit bewusst. Mein Blick fällt auf die alte Standuhr, die wie ein stummer Wächter an der Wand lehnt. Die Zeiger sind wohl schon vor langer Zeit stehen geblieben, ich spiegle mich im Glas des Kastens, eine unwirkliche und gespenstische Erscheinung mit dunklen Spuren spontaner Leidenschaft an Hals und Schultern. Ich drehe mich zum Bett um, wie zu erwarten war, bin ich allein. Sie ist weg, am oberen Ende ihres Schlafsacks liegt die Tarotkarte der Liebenden. Im klaren Licht des Neujahrsmorgens ziehe ich mich, meine Maske vergeblich suchend, eilig an und gehe leise hinaus. Die anderen Räume sind nun fast menschenleer, Verstreute liegen wie angeschwemmte Leichname herum, teils noch ineinander verschlungen, teils von einander abgewandt wie Fremde. Publius ist, so merke ich bald, nicht unter ihnen. Ich versuche beim Hinausgehen keine der Flaschen und Gläser, die auf dem Boden herumstehen, umzustoßen. Es gelingt mir beinahe und ich schlüpfe so wenig tollpatschig wie möglich zur Haustür hinaus. Der Garten rund um das Gebäude ist verwildert und teilweise von einer dünnen Schneeschicht überzogen. Etwas versetzt zum schief in den Angeln hängenden Tor steht eine verlassene Hundehütte. Das Sonnenlicht hat eine alte, rostige Kette freigelegt, von einem Wachhund ist aber, zu meiner Erleichterung, nichts zu sehen.

 

Keine neunzehn Stunden sind seit meinem letzten Besuch des Turms vergangen, ich bin zu ihm zurückgekehrt. Ich fürchte, dass die Stabilität des Gebäudes tatsächlich täuscht, erinnere mich an die erste der drei Tarotkarten und greife nach der Karte der Liebenden, die in meiner Jackentasche steckt. Was hat ein Werbender dem anderen zu geben, wenn nicht eine Reiseroute, die von der engen Heimat wegführt? Der Stein der Brüstung fühlt sich kühl an, ich bin mir sicher, selbst wenn die Türme einst einstürzen und verschwinden sollten, ihre Schatten werden immer noch auf uns fallen. In allen Dingen steckt eine Wahrheit, man muss die Fragen wie Hebel ansetzen, um zu verstehen, zumindest dies ist nun klarer als zuvor. Eine Kopie des vollendeten Manuskripts habe ich in Publius’ leerem Haus hinterlegt, wie ein vorläufig ausgesetztes Kind, das den Empfänger vielleicht erschrecken wird. Ich denke an sie und es fühlt sich erfrischend anders an, als sich wieder am Rande eines gewohnten Fehlers zu bewegen, anders und besser. Mein Blick scheint weniger getrübt zu sein, aber vielleicht irre ich mich, vielleicht sind auch diese Gedanken bloß geborgt. Das Schicksal, wenn es so etwas gibt, trifft ohnehin nie die Vorbereiteten. Mein Blick schweift, die Stadt unter mir ausblendend, nach Süden, in die Richtung, in die ich mich aufmachen werde und von der ich mir Erfahrung und Erneuerung erhoffe. Dies ist kein Rennen, das durch Geschwindigkeit entschieden werden kann, dies ist vielleicht ein neuer Tag.