Iris Schmidt
Iris Schmidt wurde 1967 in Hamm geboren und lebt in Düsseldorf. Sie machte eine Ausbildung zur Industriekauffrau bei Thyssen, ihre ersten literarischen Versuche waren kleine Parodien über den Büroalltag.
Die Autorin wurde von Hildegard E. Keller nach Klagenfurt eingeladen.
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Iris Schmidt verzichtet auf ein Videoportrait.
Schnee
Die Haarsträhne, die ihm ins Gesicht gefallen war beim Niesen, strich er sich mit der Hand zurück hinters Ohr. Karl stemmte seinen Rücken fest gegen die Lehne des Autositzes und wischte sich unter der Nase durch. Ein gelber Himmel drückte tief gegen die Landschaft, Schneegriesel hatte eingesetzt, obwohl es erst Mitte Oktober war. Karl bekam Lust zu gähnen, er riß den Mund auf und atmete genüßlich durch. Er zog die Lippen zurück und zeigte sich die Zähne im Spiegel. Das hatte man ihm empfohlen, Bleeching, und sein Umsatz würde sich verdoppeln; einem schönen Lächeln nimmt man die größte Lüge nicht krumm, hatte der Referent gesagt bei einer der Schulungen, der süß die Worte perlen ließ zwischen seinen elfenbeinfarbenen Zähnen. Das wollte er auch, er, Karl Müller, wollte sagen können: Mit Qualität zum Erfolg, Allgemeinplätze, in perlenden Schimmer gerollte Unwahrheiten, gebleechte Lügen
In langgestreckten Serpentinenkurven wand sich die Straße hinauf ins Gebirge, Schneeflocken begannen immer heftiger gegen die Frontscheibe zu wirbeln, die Scheibenwischer schafften es kaum noch die Sicht frei zu halten. Zudem hatte die Dunkelheit eingesetzt, die Straße war nur spärlich beleuchtet, und die Laternen standen in weitem Abstand voneinander. Wenn Karl an einem Licht vorbeifuhr, sah er nacktes, schwarzes Geäst mit Fetzen von Schnee. Dann hörte die Beleuchtung ganz auf. Karl schaltete die Scheinwerfer auf Fernlicht, doch der Schein wurde beinahe vollständig verschluckt vom Schnee.
Daß das Hotel weit außerhalb des Ortes lag, hatte ihm die Dame vom Fremdenverkehrsbüro am Telefon erklärt. Aber wenn er den weiten Fahrtweg nicht scheue, zudem sei die Pension familiär, läge ruhig, von Wald umgeben, weshalb sie bevorzugt von Touristen gebucht würde, die lange, ungestörte Spaziergänge in einer unberührten Natur zu schätzen wüßten.
Immer weiter bergan führte der Weg, Karl hätte nicht sagen können, wie lange er bereits so fuhr. Es war ihm, als hätte er jegliches Gefühl für Raum und Zeit schon seit Stunden verloren. Das Motorengeräusch des Fahrzeugs klang dumpf, nur manchmal heulte der Motor auf, wenn nach einer Kurve die Steigung allzu steil begann, dann zog das Getriebe wieder an, und in langsamer Fahrt arbeitete sich das Auto den Berg hinauf
Dann plötzlich gabelte sich der Weg, Karl hielt am Straßenrand, knipste das Licht an im Wageninneren und schaute auf die Straßenkarte. Aber auf der Karte war keine Straße eingezeichnet, nur die Abfahrt von der Autobahn in den Ort hinein. Karl stieg aus dem Fahrzeug und geriet augenblicklich in einen fauchenden Wind. Er lehnte sich gegen eine steile Schieferwand, die ihm etwas Schutz gab, da sie an dieser Stelle einen kleinen Überhang bildete. Armdicke Eiszapfen wuchsen aus dem Gestein. Karl versuchte zu erkennen, welcher Weg wohl hinauf zum Hotel führen würde, aber durch das noch immer dichte Schneegestöber hatte er kaum Sicht. Er setzte sich zurück ins Auto, ließ den Motor an und wollte auf gut Glück losfahren. Da sah er, wie sich zwei Gestalten aus der Dunkelheit lösten, kapuzenverhüllt, langsam bewegten sie sich durch das tobende Weiß. Karl kurbelte das Fenster hinunter, streckte die Hand aus dem Fahrzeug, und rief sie an: Bitte! Welches ist der Weg zum Hotel…?!, und hatte schon den ganzen Mund voller Schnee. Die Gestalten aber hoben kaum den Blick, drückten sich nur eng aneinander, und eine von ihnen streckte den Arm gegen eine Richtung aus. Dann waren sie schon außer Sicht geraten in der vom Schnee durchwirbelten Dunkelheit, so schnell, daß Karl ihnen kaum einen Dank hinterherrufen konnte.
Der Weg, den ihm die beiden Wanderer gezeigt hatten, führte in einem weiten, sachten Schwung höher hinauf ins Gebirge. Der Schneefall hatte jetzt etwas nachgelassen, so daß Karl die Scheibenwischer ausstellen konnte. Bald sah er schemenhaft ein bernsteinfarbenes Licht durch das schwarze Geäst der Bäume schimmern, und als er näher herankam, zeichneten sich vage die Umrisse eines Gebäudes ab. Das mußte das Hotel sein, und Karl erkannte jetzt das Schild: Zimmer frei! Nur ein einziger Wagen stand auf dem Parkplatz, und am Kennzeichen sah er, daß das Fahrzeug nicht zum Hotel gehörte. Karl parkte direkt daneben, nahm den Mantel vom Beifahrersitz, das Aktenköfferchen, holte die Reisetasche aus dem Kofferraum und ging hinüber zum Eingang.
Er mußte klingeln, die Tür war verschlossen. Es dauerte eine Weile, bevor ihm jemand öffnete. Ein großes, dünnes Mädchen in einem grauen Wollpullover begrüßte Karl, der Busen des Mädchens zeichnete sich deutlich ab unter dem Stoff. Sein dichtes Haar trug es zu zwei strammen Zöpfen geflochten, die ihm rechts und links etwas abstanden vom Kopf.
Als Karl in den Flur trat empfing in eine wohlige Wärme und Helligkeit. Hatten Sie eine gute Reise?, fragte ihn das Mädchen, und Karl wollte erst erzählen, wie er an der Abzweigung den Weg nicht gewußt hatte, nickte dann aber nur. Das Mädchen begleitete ihn zur Rezeption, bat ihn einen Moment zu warten und entfernte sich. Aus dem Hintergrund kam kurz darauf ein großer, schwerer Mann schlurfend in Pantoffeln herbei. Am Zug um das Kinn erkannte Karl, daß es wohl der Vater des Mädchens war, und er erinnerte sich, daß die Frau im Fremdenverkehrsbüro von ´familiärer Atmosphäre` gesprochen hatte, als sie ihm den Namen des Hotels nannte. Der Hotelier trat hinter das Pult, nahm den Stift aus dem Halter und blickte Karl an: Bitteschön!, sagte er dann, und Karl nannte seinen Namen. Der Hotelier schlug ein dickes Buch auf, suchte mit dem Zeigefinger darin, blieb an einer Stelle hängen, und schob Karl das Buch hinüber, damit der darin unterschreibe. Anschießend nahm der Mann einen Schlüssel vom Haken und reichte ihn Karl über die Theke. Zweiter Stock, sagte er, rechts gleich hinter der Glastür am Anfang des Ganges. Er stützte die Ellenbogen auf das Pult, legte den Kopf in die Hände und wartete, bis Karl sich entfernt hatte.
Über eine schmale Holztreppe gelangte Karl in den zweiten Stock. Es roch streng nach nasser Wolle. Er bog auf einen Flur ab. Seine Zimmernummer war die erste im Gang, wie der Hotelier es beschrieben hatte, ein kleiner gemütlicher Raum im ländlichen Stil. Ein Strauß frischer Blumen stand auf dem Tischchen vor dem Fenster. Karl stellte seine Reisetasche neben das Bett, das Aktenköfferchen, hängte den Mantel in den Schrank, zog die Schuhe aus und warf sich genüßlich auf die Matratze, die kurz nachfederte. Die Arme verschränkte er hinter dem Kopf und schloß einen Moment die Augen. Da klopfte es an der Tür. Karl schreckte hoch, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Ja, bitte!, rief er, und das Mädchen, das ihm vorhin die Tür geöffnet hatte, trat ein. Wann möchten Sie morgen gerne frühstücken, Herr Müller?, fragte es, und schob schamhaft die Schultern vor, um seinen für den schmalen Körper zu großen Busen zu verstecken. Da bekam er plötzlich Lust, es an den Zöpfen zu ziehen, ganz fest, wie er es als Kind immer getan hatte, bis die Mädchen zu weinen anfingen. Konnte sich`s grad noch verkneifen, legte seine Hände stattdessen auf die Knie, und sagte nur: Gegen halb acht wäre es mir angenehm.
Als Karl zum Abendbrot in die Wirtsstube kam, war er der einzige Gast. Hinter dem Schanktisch stand das junge Mädchen und polierte Gläser mit einem Tuch. Karl setzte sich an einen Ecktisch, legte die Fäuste darauf und streckte die Beine von sich. Das junge Mädchen kam heran und gab ihm eine Speisekarte in die Hand. Ein Bier, bitte, mein Fräulein!, sagte Karl, und das Mädchen ging zurück zur Theke. Eine kleine, dralle Frau in Kittelschürze betrat jetzt den Raum, sie stellte sich zu dem Mädchen hinter den Schanktisch und sprach ein paar Worte mit ihm. Die Frau machte eine Kopfbewegung in Karls Richtung, worauf das Mädchen das gefüllte Bierglas auf ein Tablett plazierte und zu ihm herüberkam. Es stellte das Bierglas vor ihn hin, blieb eine Weile wie unschlüssig im Raum stehen, drückte nur das leere Tablett gegen seine Brust, wie ein Schild. Sein Blick war gesenkt. Karl dachte erst, es warte auf seine Bestellung, und er beeilte sich mit dem Lesen der Karte. Aber da zog das Mädchen einen der Stühle zurück und setzte sich zu ihm an den Tisch. Meine Mutter läßt fragen, ob Ihnen das Zimmer angenehm ist?, sprach es jetzt mit leiser Stimme. Karl merkte, daß die Frau zu ihnen hinblickte. Sehr! Es ist mir sehr angenehm!, antwortete er dem Mädchen, und schickte ein Nicken zur Mutter hin. Sagen Sie, hob Karl wieder an, ist es nicht sehr einsam im Winter hier oben so ohne Gäste?, und er versuchte den Blick des Mädchens aufzufangen. Einsam sei es manchmal schon, sagte das Mädchen, sagte, daß ja jetzt er hier sei, und blickte ihm nun gerade ins Gesicht. Ja, jetzt bin ja ich da, entgegnete Karl, und erkannte ihre Augen, die gar nicht schön waren, gelblich irgendwie, als litte sie an einer Leberkrankheit.
Auch der Vater hatte inzwischen die Gaststube betreten, er sprach ein paar Worte mit seiner Frau, dann trat er zu Karl an den Tisch. Haben Sie schon gewählt, Herr Müller? Karl hatte während des Gesprächs mit dem Mädchen ganz vergessen sich etwas auszusuchen. Jetzt blätterte er hastig in der Speisekarte, und nannte das erstbeste Gericht. Vor Verlegenheit hatte er zu schwitzen angefangen, nahm das Bierglas und trank in großen Schlucken. Der Mann stellte sich hinter den Schanktisch, nahm das Tuch, das seine Tochter hatte liegenlassen, und polierte an ihrer Statt die Gläser, dabei behielt er den Tisch, an dem Karl saß, im Blick. Karl nestelte nervös an der Papierkrempe, die um den Stiel seines Glases lag.
Die einheimische Tierwelt ist hier sehr vielfältig…, begann plötzlich das Mädchen, richtet sich gerade auf und schob seinen großen Busen vor. Im Winter allerdings verkriechen sich viele der Tiere vor der Kälte in Erdhöhlen oder Laubhaufen…, der Siebenschläfer zum Beispiel oder die Haselmaus…, für Greifvögel ist es dann besonders schwer Futter zu finden, da sind die Bussarde und die Milane…, und dann zählte es alles auf, was ihm einfiel. Wie ein dressierter Pudel, dachte Karl, und starrte auf den Busen des Mädchens, er roch den leichten Zwiebelduft, der seinen Achselhöhlen entströmte.
Soll ich mein Haar lösen?, fragte jetzt das Mädchen, und schon griff es einen seiner Zöpfe, zog das Gummiband ab und entwirrte die Flechte, indem es mit den Fingern hineinfuhr. Das Gleiche tat es auf der anderen Seite des Kopfes, und dann schüttelte es sich, daß sein Haar sich nun gleichmäßig verteilte, das nur farblos war und stumpf
Die Frau brachte einen Teller Salat, den sie vor Karl hinstellte, den er nicht eigentlich mochte, aber vor Beschämung mit der Gabel hineinstach und sich die Blätter zwischen die Lippen schob, daß ihm die Soße aus den Mundwinkeln lief. Das Mädchen saß nun schweigend da, spielte nur mit einem Ring, den es an der Linken trug. Kauend nickte Karl gegen den Ring, fragte, ob es denn schon einen Verlobten habe. Ja, sagte das Mädchen hastig, einen Verlobten habe ich bereits. Er ist der Förster hier oben im Wald. Deshalb weiß ich das alles, auch über die Tiere, ganz genau erklärt hat mein Verlobter mir das, und dann nimmt er mich manchmal mit auf seinen Hochstand, und wir beobachten die Rehe und die Hirsche, und im Winter füllen wir ihre Futterkrippen mit Kastanien und Mais oder mit Stroh…
Die Frau kam mit seinem Gericht, sie warf der Tochter einen Blick zu, daß die wieder schwieg. Lassen Sie es sich schmecken!, sprach sie, blieb noch eine Weile stehen am Tisch und strich sich mit den Händen über ihre Schürze. Sie müssen sehr hungrig sein, sagte das Mädchen als die Mutter gegangen war und blickte Karl an, der hastig aß wie immer. Karl spürte, wie ein Sodbrennen einsetzte, doch aß er immer hastiger, wollte schnell die Gaststube verlassen, das stille Mädchen neben ihm, die Eltern, die unentwegt zu ihm hinüberschauten. Vor Anspannung schmerzte ihm schon der ganze Nacken. Kaum hatte Karl den letzten Bissen hinuntergeschlungen, stand er auch schon auf, und das Mädchen mit ihm. Karl sah, daß die Mutter eine unwirsche Handbewegung machte, als wolle sie ihrer Tochter den Befehl geben, ihn aufzuhalten. Doch Karl öffnete nur den Mund und gähnte, sprach: wie müde er doch bereits sei, das gute schwere Essen, und morgen erneut eine lange Reise, dann lief er in den Flur hinaus, als fürchtete er, man könnte ihm etwa nachlaufen, um ihn zurückzuholen, auf ein Tänzchen vielleicht oder ein Kartenspiel.
Als er auf seinem Zimmer war, merkte Karl, daß er tatsächlich sehr müde war. Er wusch sich kurz durchs Gesicht und dann wollte er noch einmal die Unterlagen für den nächsten Tag durchsehen, doch ihm fielen bereits bald förmlich die Augen zu. So löschte er das Licht und kroch tief hinein ins Bett. Keine zwei Minuten lag er, da vernahm Karl plötzlich Schritte auf dem Gang. Vielleicht einer der anderen Gäste…?, überlegte er. Doch die Schritte blieben vor seiner Tür stehen. Karl hielt die Luft an. Er war wieder hellwach. Stille. Stille. Dann entfernten sich die Schritte, langsam, leise, wie auf Zehenspitzen, liefen in den Flur hinein, die Treppenstufen hinunter, das Holz knarrte, bis Karl sie nicht mehr hören konnte.
Am nächsten Morgen erwachte Karl in schweißnassen Laken. Kaum hatte er schlafen können. Er hatte sich herumgewälzt auf der Matratze, denn die ganze Nacht war da ein Klopfen in der Wand hinter der Heizung gewesen, als schlüge Metall auf Metall, ein ständiges Pochen, ein Rhythmus, wie der Rhythmus eines Herzschlages, der Herzschlag des Hotels, und die Rohre waren ein Geflecht aus Adern, Gefäße, die das Mauerwerk durchzogen, und Blut floß darin, dick wie Honig. Zudem das beständige Knacken von Holz, das Rieseln des abbröckelnden Schnees auf dem Hausdach, das Rauschen einer Toilettenspülung. Manchmal war Karl kurz eingeschlafen, und dann sah er das Mädchen mit seinen Zöpfen, wie es sich zu ihm hinüberbeugte mit seinem großen Busen, ganz nah an sein Gesicht heran. Dann war er aufgeschreckt, und glaubte wieder Schritte auf dem Gang zu hören. Aber nichts, nur das beständige Klopfen in der Wand. Einmal war er aufgestanden nach so einem Traum, und er hatte das Dachfenster weit aufgestoßen, daß die eisige Luft hineinschnitt ins Zimmer wie eine Sense, und der Schnee vor seinem Fenster sah aus wie Alabaster.
Karl frühstückte nicht, er stürzte nur eine Tasse Kaffee hinunter halb im Gehen, den ihm die Frau des Hoteliers reichte. Das Mädchen war nirgendwo zu sehen. Ein Scheinchen Trinkgeld hatte er auf dem Nachttisch liegenlassen für es, er war sicher, das Mädchen würde das Zimmer gleich richten müssen, und es hatte ihm auch die Blumen hingestellt gestern Abend. An der Rezeption bezahlte er seine Rechnung und verließ das Hotel.
Die Wolkendecke war aufgerissen, der Schnee gleißte unter einem tiefblauen Himmel. Eine Schicht Weiß bedeckte auch Karls Wagen, neben dem noch immer das andere Fahrzeug parkte, und mit dem Mantelärmel wischte er flüchtig die Fenster frei. Karl öffnete die Fahrertür, warf die Reisetasche auf den Rücksitz, und setzte sich in das Auto. Er legte das Aktenköfferchen auf seine Knie und nahm die Listen heraus, über die er gestern Abend eingeschlafen war. Dann ordnete er die Medikamentenproben, die er verteilen wollte in den Arztpraxen, später im Dorf. Es war eine Arbeit die er liebte. In den Praxen war alles so schön blank, war weiß, hygienisch. Auch die Frauen am Empfang. Mit einem blitzsauberen Lächeln begrüßten sie ihn, nachdem er sich vorgestellt hatte: Karl Müller, wir haben telefoniert! Da sagte seine Stimme Sätze, und die Sätze waren Luft, die bewegt wurde von seinem Mund, Atem, der Luft war und Feuchtigkeit. So daß die Frauen ein leichter Schauer durchfuhr wenn er sprach, er sah das, er fühlte das, wenn sie hinter ihm herblickten, während er die Praxis durchschritt. In ihrer weißen Kleidung waren sie für ihn wie Krüge mit frischer Milch, jungfräulich, hygienisch, rein, zu rein für seine Hände, die immer schmutzig waren; und ihre Kleidung war wie das Blatt einer Lilie, das sie umschmiegte, in ganzer Unschuld.
Manchmal, wenn er im Büro an seinem Schreibtisch saß, und seine Finger ganz fettig geworden waren vom Durchblättern der Papiere, wenn sie aufquollen durch das ständige Hämmern auf der Tastatur des Computers, konnte er nicht anders, als in die Waschräume zu laufen, und seine Finger zu säubern, gründlich, bis in die kleinste Pore, daß ihm schon längst ein Flüstern folgte, ein Getuschel, den Gang entlang, und Gesten machte man hinter seinem Rücken, die gegen den Kopf deuteten, die er heiß spürte im Genick, da war es gar nicht nötig, daß er sich danach umblickte. An solchen Tagen dann saß der Dreck so fest an der Haut, daß Wasser und Seife allein nicht ausreichten, um seine Hände zu säubern. Dann nahm er die Nagelbürste, und schrubbte lange und heftig, so heftig, daß die Haut ganz rissig wurde und wund, und sich hernach in keinster Ritze mehr ein Stäubchen hätte verbergen können.
Einen flüchtigen Blick warf Karl noch auf die Medikamente, dann legte er alles zurück, das Köfferchen auf den Beifahrersitz. Als er jetzt jedoch versuchte den Wagen zu starten, sprang der Motor nicht an, mehrmals nicht. Das ist die Kälte, wußte Karl, eine Kälte, die sich tausendfach in den das Sonnenlicht reflektierenden Schneekristallen widerspiegelte, so hell, daß er geblendet die Augen zusammenkniff, und schon ein Schmerz in den Höhlen einsetzte. Karl klappte den Sichtschutz herunter, seufzend, stieg schließlich aus dem Fahrzeug und ging zurück zum Hotel.
Der Hotelier hatte, wie es seine Gewohnheit war, die Ellenbogen auf den Rezeptionstisch gestützt, den Kopf in die Hände, daß er mit seinem ganzen Körper den Empfang ausfüllte. Er blickte Karl an, als hätte er ihn erwartet. Mein Wagen…, begann der, springt nicht an. Vielleicht könnten Sie mir ein Taxi…?! Selbstverständlich, fiel ihm der Hotelier ins Wort. Er löste sich vom Tisch und ging in den Hintergrund. Dort nahm er das Telefon und wählte eine Nummer. Karl sah ihn sprechen, und dann sah er, daß die Frau sich im Durchgang zur Küche befand und ihren Mann beobachtete. Der Hotelier legte das Telefon zurück, er zwinkerte seiner Frau zu, und kam wieder nach vorne. Es wird nicht lange dauern, sagte er zu Karl, und beugte sich erneut weit über den Rezeptionstisch, stemmte seine dicken Arme gegen das Holz. Die Frau war inzwischen in den hinteren Räumen verschwunden. Karl nickte dem Mann dankend zu und ging wieder hinaus, um während der Wartezeit noch einmal nach seinem Wagen zu sehen.
Noch greller flirrte das Sonnenlicht auf dem frisch gefallenen Schnee. Die Sonne stand jetzt hoch. Karl ärgerte sich, daß er seine Sonnenbrille Zuhause auf der Kommode hatte liegenlassen. Die vereiste Motorhaube ließ sich nicht öffnen, und Karl setzte sich in sein Fahrzeug zurück, schloß die Augen vor der blendenden Helligkeit. Als er wieder auf die Uhr sah, war etwa eine halbe Stunde vergangen. Karl erkannte jetzt, daß die seitlichen Fahrbahnmarkierungen vollständig unter der Schneedecke begraben lagen, daß man sie nicht einmal mehr erahnen konnte. Aber Taxis fahren hier sicherlich öfter zum Hotel, dachte er bei sich, auch den Schnee werden sie wohl gewohnt sein in dieser Höhe, und mit einem passend ausgestatteten Fahrzeug… Doch als nach einer guten Stunde das Taxi noch immer nicht vorgefahren war, zudem Karl zu frieren begann auf dem kalten Sitz, beschloß er zurück ins Hotel zu gehen, um dort noch einmal nachzufragen.
Daß die Rolläden an den Fenstern heruntergelassen worden waren, wunderte ihn nicht angesichts des blendenden Sonnenlichts, aber die Vordertür war abgesperrt, und mehrmals betätigte Karl den Klingelknopf, worauf niemand ihm öffnete. Er pochte gegen das Holz mit den Fingerknöcheln, er rief, dann pochte er mit der Faust gegen die Tür. Doch niemand reagierte. Karl lief um das Gebäude herum, wo sich auf der Rückseite die Terrassentür befand. Jedoch waren auch hier die Rolläden heruntergelassen worden, obwohl alles im Schatten lag, und die Terrassentür war ebenso verschlossen wie die an der Vorderseite. Vielleicht halten die Wirtsleute gerade ihre Ruhepause?, überlegte Karl, vielleicht haben sie sich ein wenig hingelegt? Und er beschloß, sich zurück in sein Auto zu setzen und abzuwarten. Das Fahrzeug verließ er aber bald schon wieder und stapfte ein wenig umher im knöcheltiefen Schnee, um sich aufzuwärmen. Es ging schon auf halb zwölf zu und noch immer nicht war das Taxi vorgefahren. Auch schien die Ruhepause kein Ende zu nehmen, niemand öffnete die Tür, die Rolläden blieben geschlossen. Nur die Sonne hatte den Zenit ihrer Bahn überschritten und sank jetzt langsam gegen die Kuppe des Berges. Noch einmal lief Karl zurück zum Hotel, rief und stieß, jetzt mit dem Fuß gegen die Tür und mit der Faust gegen die Rolläden der Fenster. Dann begriff er, daß ihm nichts anderes blieb, als zu Fuß den Weg in den Ort zu laufen, bevor die Dämmerung einsetzen würde.
Kaum aber kam er voran im Schnee, der ihm bald schon bis zu den Knien reichte, auch waren seine Schuhe längst feucht geworden, die Socken, die Füße eisig. Im Ort wollte er sich eine Werkstatt suchen, und dann den Wagen nach dorthin abschleppen lassen. Warum hatte er nicht gleich danach gefragt, der Wirt hätte sicherlich eine Telefonnummer gehabt?! Karl versuchte mit dem Handy die Auskunft zu erreichen, bekam aber kein Netz. Er lief durch einen Wald aus schwarzen Baumgerippen, und bald kam er zu einer Lichtung, auf der der Schnee jedoch noch höher lag. Zudem pfiff ein Wind, daß sich sein Gesicht ganz taub anfühlte von der Kälte. Daß ihm der Rotz aus der Nase lief, merkte er nicht einmal mehr. Karl spürte, wie ihm die Kräfte schwanden, als er plötzlich auf eine schroffe Felswand stieß, an der noch immer armdick die Eiszapfen hingen, die nun silbrig schimmerten im Sonnenlicht. Da fiel Karl auf die Knie vor Glück. Jetzt wußte er, daß er auf dem richtigen Weg war. Am Ende der Felswand lag die Stelle, an der er gestern abend die beiden Wanderer nach dem Weg gefragt hatte, von dort aus mußte er sich nur rechts halten, so käme er in den Ort. Da lief er los, stapfte hastig durch das knackende Weiß. Einem Moment lang hatte er dann das Gefühl beobachtet zu werden, und er blickte sich nach einem Hochstand um, auf dem das Mädchen jetzt mit ihrem Verlobten, dem Förster saß, und ihn verfolgte mit dem Blick durch ein Fernglas. Der Schmerz in den Augenhöhlen pochte immer heftiger, es war ihm, als würde sich das Pochen der Heizung nun in seinem Kopf fortsetzen, Metall klang auf Metall. Je tiefer die Sonne sank, desto kälter wurde es. Blaue Schatten lagen schon auf der Landschaft. Karl lief immer eng an die Felswand gedrückt. Er war vielleicht einen Kilometer gelaufen, als er das Ende der Wand sah. Nun versuchte Karl zu rennen, rutschte aus, raffte sich wieder hoch. Rechts, dachte er, nur rechts halten, und bald bist du unten, bald sitzt du in einer warmen Gaststube vor einem dampfenden Becher Grog. Doch als er sich eine Weile rechts gehalten hatte merkte er, daß der Weg wieder anzusteigen begann. Hatte er sich geirrt? War es doch die falsche Richtung? Hatte er gestern an einer anderen Stelle an der Felswand gestanden? In der Ferne erkannte Karl jetzt so etwas wie einen Unterstand, und er ging darauf zu, ohne allerdings zu wissen, was er dort wollte. Aber etwas zog ihn an, etwas was da nicht hingehörte, und bald schon wurde ihm klar, was er, nur vage, erkannt hatte. Denn da war etwas Vermummtes in dem Unterstand, das dort auf dem Boden hockte. Und als Karl nah genug herangekommen war, sah er die beiden Wanderer, die er gestern nach dem Weg gefragt hatte. Blaß, wächsern die Gesichter, wie schlafend saßen sie eng gegeneinandergelehnt, die Frau hatte ihren Kopf auf die Schulter des Mannes gelegt. Eiskristalle verschlossen ihre Lider. Karl kniete sich neben den Mann, und als würde das noch etwas nutzen, faßte er ihn am Mantelkragen und rüttelte ihn heftig. Da fiel dem Mann etwas aus der Tasche, ein metallischer Gegenstand, den Karl aufhob, und einen Autoschlüssel in der Hand hielt. Ihm fiel der Wagen ein, der noch vor dem Hotel stand neben seinem eigenen, und dann fiel ihm ein, wie der Hotelier seiner Frau vorhin zugezwinkert hatte, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte.
Karl steckte den Autoschlüssel dem Wanderer zurück in den Mantel und erhob sich. Er klappte seinen Kragen hoch bis zu den Ohren, schob die Hände tief in die Taschen und preßte die Arme an den Körper. Dann setzte er seinen Weg durch den Wald fort. Und das kalte Mondlicht floß bereits über die weite, bleiche Landschaft, in der Karl jetzt verschwand. Flüchtig wie ein Schatten.