Judith Zander

Judith Zander wurde 1980 in Anklam geboren und lebt in Berlin. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte in Greifswald und anschließend am Literaturinstitut in Leipzig.

Hildegard E. Keller hat Judith Zander zu den TDDL 2010 eingeladen.

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Judith Zander

Auszug aus dem Romanmanuskript Dinge, die wir heute sagten

Als du endlich aufstandest, verwirrte es dich am meisten, deinen Schlüpfer noch an dir vorzufinden. Als wäre gar nichts gewesen. Du empfandest verschiedene Dinge auf einmal. Eines davon war Dankbarkeit. Gegenüber dem Schlüpfer, der dich genau wie vorher baumwollen und weiß bedeckte und höchstens hinten etwas angeschmutzt sein konnte. Für einen irren Augenblick zogst du sogar in Erwägung, er hätte ihn dir wieder angezogen, aus dieser merkwürdigen Sorgfalt heraus, die er stets hatte walten lassen, wenn er dir auf dem Nachhauseweg, auf dem Weg nach Kossin, noch mal unter das Shirt, das Nicki, gefahren war und es danach sofort wieder heruntergezogen, zurechtgezupft hatte, als hätte er stets alles ungeschehen machen wollen. Ein Verhalten, das dir nur potenziert erschien in diesem Gar-nicht-erst-Ausziehen des Schlüpfers. Aber das erst später. Ach ja. Ein ausgeleiertes Gummiband.

Du konntest nicht mehr nach Hause gehen an diesem Abend. Denn es war eine Morgendämmerung, in der du schließlich euer Haus wie nach langer Abwesenheit und, wie es dir vorkam, nicht ganz pünktlich erreichtest. Niemand wartete auf dein Eintreffen. Anders als Phileas Fogg hattest du es nicht geschafft, hattest du die Wette verloren, hattest zwar in einer Nacht die bekannte Welt umrundet, aber nichts gewonnen, du warst doch nur wieder in Bresekow vor eurem Haus angekommen, und zur Strafe würdest du für den Rest deines Lebens immer um diese wer weiß wie lange Spanne zu spät sein.

Du zogst die orangen Gardinen zu. Deine Mutter weckte dich nicht. Hätte jemand in deinen Traum hereingeflüstert, dass es in Schmalditz eine Schule gab, hättest du laut lachen müssen.

Du bist dann aber doch wieder hingegangen, mit einem Entschuldigungszettel deiner Mutter, und das will dir heute am absonderlichsten erscheinen. Dass du dieser Dinge noch immer bedurftest, dass du es offenbar selber glaubtest: dass du erst sechzehn warst. Du kamst dir nie zu jung vor, und anscheinend auch sonst niemandem. Seit damals bist du dir vielmehr oft um ein weniges zu alt vorgekommen. Schon vor den Prüfungen schautest du auf dich selbst wie auf eine eigentlich lange schon abgegangene und nur durch eine bürokratische Fehlleistung wieder zurückbeorderte Schülerin der Polytechnischen Oberschule Schmalditz. Du nahmst das mittelmäßige Zeugnis entgegen wie eine Stellvertreterin. Auf dem Abschlussfest vertratest du dich natürlich nicht, obwohl du neugierig gewesen wärst, ob einer mit dir getanzt hätte. Auf dem Abschlussfest konnte man so was schon mal machen. Wenn man nicht zuviel wusste.

Diese Frage hat dich nie ernsthaft beschäftigt. Ob einer was wusste, immer noch weiß. Es hätte gar nichts geändert. Und du wärst allemal nur diejenige gewesen, die den Schönen, den Armen Roland angezeigt, vor ein Gericht gezerrt und womöglich hinter Gitter gebracht hat. Nicht diejenige, die Roland Möllrich vergewaltigt hat. Doch, genau: die, die ihn vergewaltigt hat.

Den Sommer über merktest du fast nichts. Dir wurde nicht unwohl, höchstens in den Minuten, wenn deine Mutter dich abpasste und fragte, wie weit du schon in deinem Nachdenken über eine mögliche Lehre gekommen seist, eine Empfehlung für die EOS hattest du ja zu deiner Erleichterung nicht erhalten. Deiner Mutter war es egal, zumindest hatte sie dich nicht überreden wollen zu zwei weiteren Schuljahren, sie sah deutlich genug, dass davon auch nichts besser würde. Sie hegte auch nicht die Ansicht, dass man etwas werden müsse, sondern nur die, dass man etwas machen müsse, und ein Herumlungern über den Sommer hinaus hätte sie nicht geduldet. Dir war langweilig, sonst nichts, und du bezweifeltest, dass eine Lehre diese Langeweile grundsätzlich beheben könnte. Vor deinem inneren Auge schriebst du das Wort mit doppeltem e.

Dass du deine Regel nicht alle vier Wochen bekamst, war eher die Regel. Du vermisstest dieses unnatürliche Kranksein nicht, wahrscheinlich hofftest du in diesen Monaten, es würde dich für immer in Ruhe lassen. Es muss tiefer Juli gewesen sein, als dir langsam zu Bewusstsein kam, was diese Ruhe bedeuten konnte. Es war nicht so, dass du nicht Bescheid wusstest; als dich das Übel mit dreizehn zum ersten Mal heimgesucht hatte, hatte dir keiner den Schrecken über etwas Unbekanntes mit einem noch größeren Schrecken über etwas Unausweichliches nehmen brauchen, Anna Hanske neigte nicht zum Verheimlichen. Doch du hattest es aufgenommen als etwas, das auch nur die anderen, deine angetuschten Mitschülerinnen betraf. Für dich war es lediglich eine überflüssige Funktion deines Körpers. Und dieses Desinteresse oder wie man es nennen soll hattest du auch ein paar Jahre später nicht abgelegt. Es war dir undenkbar gewesen, dass du, du, überhaupt in so einen Zustand hättest geraten können, den du jetzt – nun ja, befürchtetest ist schon ein zu straffes Wort, dafür war die ganze Vorstellung kaum real genug. Wenn du mit Roland zusammen gewesen warst, in jenen kurzen Stunden, kurz und klein, hattest du nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, in der gleichen Manier, wie du keinen Gedanken an die Zukunft verschwendetest. Es galt doch gar nicht für dich.

Deine Mutter fing an, mit dir in Betriebe zu gehen, zur HO, zu Konsum, ihr fuhrt bis nach Pasewalk. Du warst zu spät dran, das hörtest du immer wieder. Du hättest es einfach sagen können, und dieses Unterfangen wäre fürs Erste gestorben gewesen. Aber du konntest nicht. Normalerweise sahst du keine Notwendigkeit, deine Apathie zu unterfüttern mit Beweggründen, diesmal versuchtest du dir dennoch damit zu kommen. Du warst dir nicht sicher. Deine Mutter hätte dich umgehend zum Arzt geschickt, am Ende wäre dabei herausgekommen, dass es noch nicht zu spät war. Aber du kanntest dich längst zu gut: du warst nicht der Typ für eine Rettung in letzter Sekunde. Jedes Sofort überforderte dich seit jeher, lähmte dich derart, dass du es regelmäßig hinbekamst, alles zu vermasseln. Was daran nun noch zu vermasseln war, überlegtest du dir gar nicht erst, auch wogst du deiner Gewohnheit folgend eine Überforderung nicht gegen eine andere ab, nicht die deutlich absehbare, aber vorübergehende gegen die andere, der du kein weiteres Attribut zuzuordnen wusstest. Hatte man dich nicht gelehrt, Unsichtbarkeiten gleichzusetzen mit Unmöglichkeiten? 

Es war zweifellos auch so: sollte sich die Zukunft leider doch wieder als zu wenig unsichtbar erweisen – du musst es schon als Kind aufgegeben haben, über das Unmittelbare hinauszudenken, geradezu eine Unfähigkeit, die du da entwickelt hattest, eben weil alles doch immer so gekommen war, wie du es befürchtet hattest – so würde wenigstens ein Teil davon als Provisorium ausfallen, aufhebbar sein. Die Lehre, deren Eintreten dir im Grunde kaum wahrscheinlicher schien. Dein fortschreitender Zustand würde dich verlässlich suspendieren, vielleicht für immer, ‚aufgeschoben’ franste bei dir stets aus in ‚aufgehoben’. Es konnte allerhand passieren, nicht wahr.

Du nahmst es daher ohne sonderliche Gemütsregung auf, als sich herausstellte, dass lediglich die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft willens war, dich in ihre Reihen aufzunehmen und zu einem Agrochemiker heranzubilden. Wärst du früher überredbar gewesen dazu, quasi freiwillig in den sozialistischen Gang mit der „Landwirtschaft unserem wichtigsten Standbein“ verfallen, wärst du öffentlich belobigt worden vor der Klasse, so wie Christa Pohley, die Wirtschaftskaufmann wurde und einziger Lehrling im LPG-Büro deiner Mutter, wo hinter jedem der fünf Fenster eine Dauerwelle blühte. Du konntest immer noch in der Gärtnerei anfangen, nächstes Jahr. Als du die Knöpfe an deinen Hosen versetzen musstest, begannst du zu ahnen, womit du dir diese Gelassenheit erkauftest. Nächstes Jahr! Wie kamst du dazu, ausgerechnet jetzt so zu tun, als glaubtest du an einen Unfug wie das Vergehen der Zeit. Nächstes Jahr gab es dich doch gar nicht. Es würde ein Kind geben, eventuell, von Roland Möllrich. Von Roland, mit dem du in den Wiesen gewesen warst, und im Park, eins von beiden musste man als Ursache annehmen, was, war letztlich gleichgültig. Es war deine Dummheit und deine Schuld, und beides fraß schon jetzt so sehr, dass du die berechtigte Hoffnung hegtest, es würde dich am Ende gänzlich zerlegen. Es würde Roland Möllrichs Kind geben. Wie konnte es da dich geben. Wo ein Körper ist, kann kein anderer sein, auf die Dauer. Du träumtest nicht von Schlupfwespen und Ähnlichem. Sie schwirrten dir am hellichten Tag durch den Kopf. Du erinnertest zwei Dinge über sie, einerseits das, andererseits: sie waren nützlich. Ein Wort, das man nie ganz von der Zunge bekam. Es reimte sich prima auf Möllrich, auf Bürgermeistersöhne, die man in der Erweiterten Oberschule trotz erweiterter Bildung nicht lange würde bereden müssen, ein Papier zu unterschreiben. Welches auch immer. Es fand sich für jeden etwas, Nützliches. So viel Bissigkeit hattest du dir gar nicht zugetraut. Du besaßt sie auch nicht. Noch nicht einmal Wut. Alles blieb stumpf. 

Du fandest dich in einem Acht-Bett-Zimmer des Lehrlingswohnheims in Kießow wieder. Alle anderen Betten waren schon belegt gewesen, dir war das untere neben der Tür geblieben, ein Kissen, eine ausgemusterte NVA-Decke. Es war September, man musste noch nichts sehen, wenn man nicht wollte. Die Hosen kriegtest du nicht mehr ganz zu, die Druckknöpfe sprangen auf, sobald du dich hinsetztest, aber du hattest einen Gürtel und einen weiten Pullover. Im Waschraum beugtest du dich tief über das Becken, nahmst die hinterste Dusche und drehtest dich zur Wand. Keiner zeigte ein gesteigertes Interesse an dir. Wie immer sprachst du wenig, man reagierte fast erschrocken, wenn du einmal den Mund aufmachtest. Sie waren das nicht gewohnt, diese lauten Mädchen. Manche redeten sich mit Nachnamen an. Du warst überzeugt, dass keine deinen kannte, du verwechseltest ihre. Nur bei Kathi warst du dir sicher, dass sie so hieß, Kathi Breitsprecher, die über dir schlief und alle ihre Anreden mit „Du, Ingrid“ begann. Du wusstest, du würdest es ihr als erstes sagen, denn sagen musstest du es ja doch, besser als jemand anders. Gleichzeitig befielen dich bei ihr die größten Bedenken, du fühltest eine reale Angst, sie könnte anfangen zu weinen. Sie weinte oft, mitten in ihre Sätze. Wenn du Kathi ansahst, sahst du, dass man sie nur verletzen konnte, ihre Haut schien dir beinahe durchsichtig. Keine Schale wie deine. Sie war viel kleiner als du, auch runder, alles an ihr, ihre braunen Haare legten sich nach jedem Waschen von allein in großzügige Locken, ihr Mund formte beständig an einem kleinen o. Sie sprach auf ihre Umwelt ausschließlich mit Lachen oder Weinen an, aber mit was von beidem war schwerlich vorherzusagen. Ihr konntet euch nicht entscheiden, was hassenswerter war: die leeren Stunden in dem nach Grützwurst und Sägespänen riechenden Flachbau in Kießow oder die Landluft der Praxiswochen, auf den Rübenfeldern, in den Kuhställen des Kreises Anklam. Ihr träumtet von Eutern. Den Augen der Treckerfahrer. Beide meintet ihr, das könne nicht ewig so gehen. Das verband euch. Aber Kathi war zuversichtlich.

Du hättest noch vor Ende des ersten Monats dort deinen Kopf mit Kathis sämtlichen familiären Verhältnissen und Angelegenheiten ausstopfen können, so sicher versorgte sie dich täglich mit immer neuem oder vielleicht auch immer gleichem Füllmaterial, du hörtest selten zu. Das Loch in deinem Kopf wurde größer, du vergaßest die einfachsten Dinge. Du gingst immer früher zu Bett. Einmal, als du dich auszogst, flog die Tür auf, und die anderen, die sonst erst hereinpolterten, wenn du schon so tatest, als ob du schliefst, standen plötzlich um dich herum, und Elfi oder Barbara oder Liebmann sagte: „Eh, sag ma, biste schwanger oder wat?“, und piekte mit dem Zeigefinger in deinen Bauch, fast hättest du mitgelacht. Du hattest es vergessen. Zu sagen. Aber das klang wie eine von den Ausreden, die wohl nur du geduldet hättest. Du konntest dich nicht erinnern, wann jemand für dich eine erfunden hätte. „Ja“, sagtest du. Sie empörten sich, sie übertrieben, sie lachten noch ein bisschen in deine Ecke, aber es war nicht richtig lustig, und nur zwei oder drei Sprüche ließen sich anbringen. Du merktest ihre Enttäuschung. Kathi sagte: „Du, Ingrid, wirklich?“, und fing an zu weinen.

„Hör auf“, sagtest du. „So schlimm ist das nun auch nicht.“

„Aber Ingrid – ich freu mich doch so für dich!“

Du hattest Kathi unterschätzt. Du begannst, alles zu überdenken. Weinen für Lachen zu nehmen, und umgekehrt. Dir war jetzt manches Mal nach Lachen zumute.

Als deine Mutter dich am Wochenende lange mit einem Gesicht ansah, das sie ansonsten nur zu den Nachrichten von Planerfüllung und –übererfüllung aus dem Radio aufsetzte und dann sagte: „Ich hab mir das gedacht“, musstest du lachen. Sie sagte dir nicht, wie es weitergehen solle. Das verstand sich wohl von selbst. Das andere zu deiner Verwunderung nicht. „Und mit wem -“, sie räusperte sich, du erkanntest es als keine ihrer Gesten wieder, „ich mein, und wer ist da nu außer dir für verantwortlich?“

„Keiner“, sagtest du sofort und fast heiter, weil du nicht zu überlegen brauchtest.

„Ingrid, hör auf. So dumm bin ich auch wieder nicht, und du erst recht nicht.“ Sie versuchte, wie eine Mutter zu klingen. „Du sagst mir jetzt, wer der Vater dazu ist.“

Du wolltest sagen, du wüsstest es nicht. Du hättest es vergessen. Tja. Einer aus Anklam, ach was, aus Berlin, aus dem Westen. Aus dem Jenseits, ha. Aber keine dieser Barrikaden erschien dir unüberwindbar genug. Es war besser, von Anfang an bei einer Version zu bleiben, der am leichtesten wiederholbaren, denn wer weiß, dieser Kopf.

„Nein“, sagtest du.

„Ingrid Hanske!“, sagte deine Mutter. Sie zuckte mit den Schultern, hielt sich an der Stuhllehne fest und sah angestrengt die Ritze zwischen Herd und Dielen an, als hoffte sie, doch noch weiter hineinspähen zu können. „Wie willst du denn das alleine ... Du denkst wohl, du brauchst überhaupt keinen, was? Du ...“ Sie hörte plötzlich auf, drehte sich um und ging raus. So könnte es gewesen sein. Vielleicht, dass sie nicht mehr genau wusste, über wen sie sprach, Anna Hanske.

Kurz bevor du zum Bus musstest, drückte sie dir ein Geschenk in die Hand. Du wusstest nicht wohin damit und stecktest es in die Tasche zu deiner Wäsche. Im Wohnheim schliefst du sofort ein. Am Montag hattest du Geburtstag. Am Montag musstest du ins Lehrerzimmer. Du gingst gleich in den Sachen, in denen du aufgewacht warst. „Fräulein Hanske. Sie sind uns eine Erklärung schuldig.“

„Nein“, sagtest du und freutest dich, weil dir die Version schon in Fleisch und Blut übergegangen war. Fleisch und Blut. Du dachtest einen Augenblick darüber nach. Die Lehrer bemühten sich, einander ausreden zu lassen, soviel bekamst du mit. Es gelang ihnen nicht. Während der eine noch blitzte, donnerte der andere schon hinein, und heraus kam das Wortgewitter „Konsequenzen“. Wenn du dich weiterhin ausschwiegst, würde es Konsequenzen geben. Du wusstest nicht, was du sagen solltest. Zu soviel Naivität. Wenn du dich nicht ausschwiegst, würde es trotzdem Konsequenzen geben. Das konnten sie doch sehen.

Nach dem Unterricht war dein Kopf wieder leer. Du sahst die Tasche neben deinem Bett und du sahst sie nicht. Es erschien dir sinnlos, Wäsche in ein Fach in einem Schrank zu legen. Wozu bloß? Wäsche zu wechseln. Waschen. Anziehen, ausziehen, anziehen. Du hattest das Gefühl, die anderen zu imitieren. Wenn du hinter ihnen her in den Waschraum trottetest, dich wie sie nicht mehr verstecktest. Wenn du den BH-Verschluss löstest, mit dem Lappen über die eine, die andere Hälfte des Körpers fuhrst, schien es sich um Bewegungen zu handeln, die du erst von ihnen gelernt hattest. Du sagtest „gut Nacht“, wenn sie „gut Nacht“ sagten.

Ein paar Tage später fiel dir das kleine Päckchen wieder ein, mitten in Staatsbürgerkunde. Du stürztest sofort aus dem Raum, vielleicht würde auch das Konsequenzen haben, aber inzwischen besaßt du ein Gegengift: Privilegien. Die anderen traktierten dich nicht mehr mit Blicken oder dem Gegenteil, sie flüsterten nicht mehr in deiner Gegenwart. Draußen nahmen dir die Jungs das meiste ab, ein paar waren freundlich. Du hattest lange nicht in den Spiegel gesehen, als du es einmal tatest, erkanntest du dich kaum wieder: das war nicht die, die du täglich mit dir herumtrugst. Deine Haare leuchteten immer noch blond, deine Augen klarer als die Jauchepfützen unterm Sommerhimmel. Ach, hör doch auf. Die hattest du da noch gar nicht gesehen. Deinen Zimmergenossinnen wurdest du eine Art Maskottchen.

Du fandest das Geschenk in deiner Tasche. Niemand beklaute dich. Beim Auswickeln kam ein Paar blauer Lederhandschuhe zum Vorschein, hundertmarkscheinblau. Du weintest in die muffige Decke, drei Tage lang, oder bis du wieder aufs Klo musstest.

Du kamst den Aufforderungen deiner Mutter nach, fast allen. Der Arzt aber sagte dir auch nichts Neues. Du bekamst einen Ausweis, auf dem stand Mutterpaß, du stecktest ihn zu deinem Personalausweis und dem FDJ-Ausweis, in allen fandest du deinen Namen und dir Zugeordnetes mit Schreibmaschinentypen gehämmert, du fragtest dich oft, wer diese Person wohl sei, die sie dort so festzunageln versucht hatten, deren Dokumente du aus einem unerfindlichen Grund mit dir herumtragen musstest, ob es sie wohl wirklich gebe, irgendwo. Manchmal hattest du Lust, sie kennenzulernen, nur um ihr endlich diese Ausweise aushändigen zu können. Es nahm langsam überhand. Aber am Ende war es eine Art Spielgeld, und du wolltest dich nicht blamieren. Du musstest jetzt regelmäßig nach Anklam, du konntest dafür halbe Vormittage herausschlagen. Hin und wieder gingst du danach in die Broilerbar, morgens um zehn, und gönntest dir von deinem Lehrlingsgeld ein halbes Hähnchen. Die eingebildeten Kellnerinnen kannten dich schon, aber du gabst viel Trinkgeld und sie dir einen Platz am Fenster. Wahrscheinlich hielten sie dich für eine Sitzengelassene, du sahst genauso aus. Komisch daran war nur, dass es dir wie eine irrige Annahme vorkam, über die man halb beleidigt, halb amüsiert sein konnte. Amused. Sagt man das so.

Wenn du zurückkehrtest von diesen Untersuchungen, empfing Kathi dich stets mit der Frage: „Du Ingrid, alles in Ordnung?“ Du sahst sie wohl immer verständnislos an. Dir fiel die Geschichte von Jona im Bauch des Fisches ein. Als ob ihm jemand die gleiche Frage gestellt hätte.

Sie fing an, deinen Bauch zu befühlen. Ihre Hände waren schön warm, sie lachte. „Merkst du schon was?“ Du wolltest darauf nicht antworten, und Kathi sah dich mitfühlend an. „Das kommt noch.“ Du wolltest nicht wissen, was. Sie hatte einen Freund, der sie jeden Freitag abholte und in jeder Hinsicht ein Magnet war. Er klebte an Kathi wie sie an ihm, die übrigen Weiber an seinen Hacken. Er war einen halben Meter größer als sie, er gefiel dir. Aber er lächelte die ganze Zeit. Sie hatte dich ihm gleich bei seinem ersten Besuch vorgestellt: „Das ist meine Freundin Ingrid.“ Du hattest wieder das Gefühl gehabt, diese andere Ingrid sei gemeint. Sie führte dich ihm jedesmal vor wie etwas, auf das sie Grund hatte stolz zu sein. Jedesmal war dein Bauch gewachsen wie ein Verdienst. Du warst nett zu ihm. Als Kathi eines Freitagnachmittags fragte: „Darf Helmut auch mal anfassen?“, sagtest du: „Ja, aber nicht mich.“ Kathi brach fast sofort in Tränen aus und entschuldigte sich drei Tage lang, oder. Vielleicht zog nur Helmut seine Hand weg, das Lächeln nicht.

Im Dezember fingen die Anderen an, zueinander ins Bett zu kriechen. Auch Kathi machte dir dieses Angebot. Deine Eisbeine wurden nie warm. Hätte sie nicht so gebettelt, wärst du hochgestiegen zu ihr. Von den anderen hörtest du: „Na, du bist ja schon zu zweit“, oder auch: „nich ganz alleine“, dann kicherten einige. Nein, du warst beileibe nicht verrückt. Du wolltest dir das nicht vorstellen, das. Nachts wurdest du oft wach, oder du konntest gleich nicht schlafen. Du hörtest den Zinkeimer voll werden. Irene, so hieß sie doch, hatte „schneidend Wasser“. Sie hatten ihr den Eimer erlaubt. Mit der Zeit benutzten ihn alle, außer Kathi und du. Ihr begleitetet euch gegenseitig den langen, frostdurchwehten Gang zum Klo. Aber lieber war dir, wenn du ihn alleine gingst, wenn da nur deine eigenen Schritte tappten, wenn da niemand war außer dir.

Niemand außer dir war im Dorf. Sie hatten dich eine ganze Woche vor Weihnachten nach Hause geschickt mit dem Hinweis, du hättest dich auch im neuen Jahr nicht zurück nach Kießow zu begeben, sondern in deinem eigenen Dorf zu bleiben und dich zu schonen und vorzubereiten. Sie sagten auch, worauf, aber da hörtest du schon wieder nicht hin. Die Bücher durftest du mitnehmen, Kathi versprach, dir alles Verpasste vorbeizubringen. Du wartetest nicht auf sie. Du bewachtest das Thermometer. Als es fünf Tage lang beständig unter Null geblieben war, stündlich strenger alle in ihre Häuser pferchte, gingst du ohne vorherige Prüfung los. Du hattest es nicht vergessen. Es wurde dunkel, wie du es geplant hattest, die Kirche war lange aus, du hattest die Glocke gehört und dann nichts mehr. Peters Schlittschuhe hattest du auf dem Boden gefunden, du stelltest fest, dass du die Schrauben etwas lockern musstest, deine Füße waren inzwischen größer als seine vierzehn-, fünfzehnjährigen. Du setztest dich auf das Schneepolster der wackligen Bank am Teich, wie die jungen Mädchen. Erst dachtest du, es würde nicht gehen, du konntest dich nicht weit genug hinunterbeugen, um die Schrauben festzuziehen, deine Finger wurden klamm, obwohl du schwitztest. Du hievtest die Füße quer auf die Kniee, irgendwie schafftest du es. Es kam dir vor wie in der Schule, wenn im Sportunterricht das Ausführen einer an sich leichten Übung überflüssigerweise erschwert wurde, durch einen Medizinball zum Beispiel, wie eine Behinderung. Vorsichtig stakstest du auf den unscharfen Teichrand zu, du hattest sofort Gleichgewichtsprobleme, ein großer, unbeholfener Schritt hätte fast alles beendet. Als Kind hattest du immer gedacht, es müsse ‚ungeholfen’ heißen, eine Art Partizip, und du hattest Peter nicht geglaubt, wenn er es dir vorgesagt hatte, geargwöhnt, er spreche es absichtlich falsch aus. Der Eisteich trug dich mühelos, es knackte nicht einmal, als wärst du gar nicht da oder sehr leicht. In Schwung gebracht, schwankte dein Körper kaum noch, du setztest einen Fuß vor den anderen und musstest nur aufpassen, nicht zu schnell zu werden, um die Kurven zu kriegen, das sogenannte Übersetzen hattest du nie gelernt. Das Eis war neu und unsichtbar, und morgen, wenn man die Kinder zusammen mit dem Festdunst wieder aus den Stuben lüften würde, fänden sie sich verdutzt darüber, wer ihnen ihr Eigentum, die Unberührtheit des Schnees, weggenommen hatte. Ein plumper Vogel, von dem als einziges bekannt war, dass er nicht fliegen konnte.

Es kam das Jahr Neunzehnhundertsiebzig. Es begann im Februar. Dann kam das Jahr Neunzehnhunderteinundsiebzig, und darauf muss das Jahr Neunzehnhundertzweiundsiebzig gefolgt sein, aber du weißt nicht, wann sie anfingen. Vom Jahr Neunzehnhundertdreiundsiebzig weißt du zumindest, wann es endete. Es war recht kurz und schon an einem Februartag vorbei. Wahrscheinlich war das alles eine einzige Zeit, ohne Monate, Jahreszeiten und Übergänge, eine Anomalie. Man versuchte, dir etwas anderes weiszumachen, man maß ein Kind in Zentimetern und Gramm und meinte, dir damit das Vergehen der Zeit bewiesen zu haben, gerade so, als verginge sie für jeden gleich, gerade so, als hätte man dich vermessen. Blödsinn.

Seit einem Tag Anfang Februar gab es etwas, das beständig größer wurde, das von Anfang an viel zu groß gewesen war für dich und dir unbekannte Schmerzen verursachte, ein Wackerstein, der rumpelte und pumpelte, scheuerte und scheuerte. Du warst so wund die ganze Zeit, du merktest es schon gar nicht mehr. Manchmal hieltest du dich deshalb für schmerzfrei, aber es hatte doch nicht aufgehört, es hörte nicht auf, du musstest davon ausgehen, dass es nicht mehr aufhören würde. Du musstest ihm einen Namen geben, irgendeinen. Henry. Vielleicht hattest du ihn irgendwo gelesen. Im Krankenhaus hatten sie auch wieder gefragt. Aber es kam wohl öfter vor. Sie legten dir einen Säugling an die Brust. Woher solltest du wissen, dass er zu dir gehörte. Er biss dich, du hättest nicht geglaubt, dass man ohne Zähne so beißen konnte. Aber vieles war möglich. Bis zum Schluss hattest du nicht geglaubt, dass du ein Kind zur Welt bringen würdest, dein Kind oder das von Roland Möllrich. Etwas kam aus dir heraus, und auch das nicht einfach so, sie mussten es herausziehen, es konnte alles Mögliche sein. Es tat weh, wie nur etwas Fremdes weh tun kann, dein eigener Körper hätte dir niemals solche Schmerzen verursacht. Du wolltest gar nicht wissen, was es war. Dein ‚natürliches’ Kind. Du wusstest, was das bedeutet. Du verlegtest dich aufs Unnatürliche. Dein Körper wurde dein Verbündeter. Nach zwei Wochen ließ er sich nicht länger beißen. In deinen Brüsten pochte es heiß und hart, du ließt nichts mehr heran, nichts heraus. Du bekamst Penicillin, aber dein Körper stellte sich schlau an, viel schlauer als du. Der Arzt beschimpfte dich. Du hättest eine Allergie angeben müssen. Du warst dir sicher, dass dein Körper sie in der Hinterhand behalten hatte, um sie genau jetzt auszuspielen. „Grinsen Sie nicht so dämlich!“, sagte der Arzt. Falls er ‚Sie’ zu dir sagte. Deine Mutter rührte Milasan an, während dein Magen das Berlocombin schlecht vertrug. Dir war, als schaukelten Vorwürfe in ihren Blicken. Dein Körper hielt alles auf Abstand.

Du zerrupftest den alten Korb-Kinderwagen, du passtest schließlich nicht mehr hinein, und jemand anders erst recht nicht. Du konntest unmöglich rausgehen. Deine Mutter brachte aus Anklam einen neuen an, er war gelb wie eine Strafe. Etwas anderes hätte es nicht gegeben. Natürlich nicht. Es gab überhaupt nichts anderes mehr. Du schobst ihn aus dem Dorf raus, am Wäldchen vorbei und zurück, immer den gleichen Weg, so konntest du ihn bald mit geschlossenen Augen gehen, mit Augen, in denen der enteignete Schlaf brannte, der Unschlaf, eine Enteignung jedenfalls, unscharf. Du sahst sie nicht, und sie sahen dich nicht. Sogar das Schreien ließ für eine Weile nach. Du hörtest nichts, nicht mal ein entferntes Moped.

Nach vier Monaten bekamst du einen Krippenplatz. Sie sagten dir, du hättest sonst länger warten müssen. Es klang nicht wie ein Privileg. Es klang, als wärst du schuld. Bruni Deetz’ Baby war gestorben, einfach so, wie es hieß, „einfach so“, sagte die Schrödersche in der Krippe und zog die Brauen hoch dabei. Bruni Deetz hatte noch fünf oder sechs andere Kinder und tat dir nicht sonderlich leid. „Das sieht ja aus wie bei Deetzens“, sagten die Leute, wenn sich ein Haushaltsgefüge nicht mit ihrem Gestaltungssinn von der Größe eines Scheuerlappens, eines Tischläufers deckte. Du fragtest dich, ob du jetzt auch dazu gehörtest und schobst das Wort ‚Assi’ wie eine exotische, scharfe Speise auf deiner Zunge herum. Einfach so, dachtest du. Für einen Moment, der so klein war, dass du nicht weißt, wie dein Gedächtnis ihn im Gerümpel all der Jahre nicht verlieren konnte, spürtest du etwas wie Neid. Sowas passiert.

Du gingst zurück. So weit du eben konntest, dieses kleine Stück. Dein Bett im Kießower Wohnheim war nicht belegt worden. Deine Mutter hatte nichts dazu gesagt. Sie konnte das: unbekannte Kinder aufziehen. Du warst an den Wochenenden da. Es kam dir nie so vor, als seist du vermisst worden. Es kam dir nicht so vor, als vermisstest du etwas. Du wünschtest es dir aber manchmal. Wenn das Kind dich anlachte, lachtest du zurück. Es gelang dir nicht, auch zurückzuweinen. Kathi arbeitete alles mit dir nach. Du ludst sie nie ein, sie dich oft. Du fuhrst nie hin, auch nicht im Urlaub, den ihr im Sommer nehmen musstet. Wohin mit dir. Im Bus half dir selten einer, wenn du nach Anklam fuhrst. Manchmal war kein Platz mehr für einen weiteren Kinderwagen, dann drehtest du um und gingst wieder nach Hause. Es machte keinen Unterschied. In Anklam liehst du dir Bücher aus. Du erwogst desöfteren, dich zwischen den Regalen zu verstecken, dich einschließen zu lassen, wenigstens eine Nacht an einem fremden Ort zu verbringen. Aber der gelbe Kinderwagen vor der Tür hätte dich immer verraten. Du wusstest das. Trotzdem warst du jedesmal überrascht, falls man das so sagen kann, ihn beim Verlassen der Bibliothek dort vorzufinden. Ein paarmal wärst du fast dran vorbeigelaufen.

Wie dumm, daraus eine Geschichte zu machen. Fast bist du so dumm, sie auch noch zu glauben. Sollen sie erzählen. Dir ist nichts passiert. Drei oder vier Jahre lang, was macht das schon aus. Wenn du Glück hast, ein Zwanzigstel. Niemand kann sich ein Zwanzigstel vorstellen. So schmal, es passt beinahe gar nichts hinein. Ein bisschen Geld, du quetschtest es aus dieser engen Spalte deines Lebens heraus, drücktest sie dabei so gut es ging zusammen, denn auch sie wollte beständig größer werden. Es gab nur ein Mittel. Du spanntest dich in sie wie in einen Bogen ein, du überlistetest sie, denn sie dehnte sich von selbst, bis zu einem Punkt, an dem keiner ihre Spannung mehr hätte halten können, dich, es genügte eine kleine Irritation, und schon trug dich der Februarwind an einen Ort, von dem doch niemand zurückkehrte.